key: cord-0063803-r6nukjoo authors: Tinnefeld, Marie-Theres title: Keine unbedingte Toleranz für Feinde der Freiheit! : Ein Plädoyer für den offenen Menschen date: 2021-05-27 journal: Datenschutz Datensich DOI: 10.1007/s11623-021-1450-1 sha: f15001eec388489531c106f4bea346d5936c7ade doc_id: 63803 cord_uid: r6nukjoo Offline wie online breiten sich zunehmend Desinformationen, Fake News und Hate Speech gleichsam wie Gift-Wasserschierlinge aus. Extremisten, die an der Erkenntnis realer Zusammenhänge weniger interessiert sind als an der brachialen Durchsetzung einer von ihnen als richtig erkannten Meinung, sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Angesichts dieser Entwicklung wird der Frage nachgegangen: Wie können der Staat und die Zivilgesellschaft unter dem Dach der Grund- und Menschenrechte Position beziehen und intolerante Netzwerke wie Schierlinge âentgiftenâ? 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG) auf den Wert der Menschenwürde und die daraus folgenden Grundsätze individueller Selbstbestimmung und gleicher Freiheit gründet. Vermittelt dadurch bedeutet dies, dass kommunikative Grundrechte im Verhältnis zum Persönlichkeitsrecht nicht unbegrenzt sind. Sie sind wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und Information (Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 11 Abs. 1 GRCh; Art. 10 Abs. 1 EMRK) an das fundamentale Grund-und Menschenrecht der Menschenwürde gebunden (Art. 1 GRCh). Das unveräußerliche Recht auf Menschenwürde ist auch das "Maßgabegrundrecht auf Demokratie" 6 und postuliert die Gleichheit aller Menschen, ungeachtet ihrer Eigenschaften wie Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder Religion (Art. 3 Abs. 3 GG; Art. 21 Abs. 1 GRCh; Art. 14 EMRK). Menschen dürfen etwa in ihrer Eigenschaft als Jude oder Person of Color nicht diskriminiert werden. Bei diesen (angeklebten) Merkmalen handelt sich um sensible personenbezogene Daten, die im Recht auf Privatheit und Datenschutz eigens geschützt 7 und mittels Betroffenenrechten stabilisiert werden. Nicht ohne Grund betont die ungarische Jüdin Agnès Heller, dass es keine Rassen gibt. Die Philosophin und Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl in New York bezeichnet den Begriff Rasse als eine Konstruktion, die erfunden wurde, um Vorurteile gegen Juden, Schwarze, Sinti und Roma und andere Betroffene zu schaffen. 8 Vorurteile und klischeehaftes Unwissen gegenüber dem Judentum beruhen auf einer langen Tradition, die bis in die Epoche der orientalischen Reiche des Altertums zurückreicht. 9 Der Antijudaismus beginnt mit dem Christentum, das aus dem Judentum entstanden ist. 10 Als Antisemitismus ist er ein Produkt, das sich nicht einfach aus der christliche Lehre entfernen lässt. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hat sich das welthistorische Drama der Shoah entwickelt. 11 Christliche Kirchen stellen sich heute der dunklen Vergangenheit und reagieren auf den Antisemitismus von Rechtspopulisten. 12 In Deutschland besteht mehr als in allen anderen Ländern der Welt nicht nur eine intensive Erinnerung an die Millionen Ermordeter im Holocaust, sondern auch an die 1700 Jahre reicher jüdischer Kultur im Land. Solche Erinnerung ist lebendig und kein erstarrtes Bild von Vergangenem. Sie erweitert das Bewusstsein und hat in Deutschland zu dem gesellschaftlichen und poli- tischen Grundkonsens geführt, gegenwärtigen und zukünftigen antisemitischen Äußerungen und radikaler Gewalt gegen Juden, ihre Gemeindeinstitutionen und Synagogen entgegenzutreten. Einerseits geht es derzeit um alte/neue antisemitische Entwicklungen. Andererseits steht aber auch nicht immer fest, ob und in welchem Umfang es sich etwa bei grenzwertigen Meinungsäußerungen oder künstlerischen Darstellungen um Übergriffe handelt. Wenn Corona-Rebellen auf ihren Demonstrationen einen gelben "Judenstern" mit der Aufschrift "ungeimpft" tragen oder ihren Protest mit dem Widerstand von Sophie Scholl gegen den Nationalsozialismus vergleichen, dann ist das zwar keine verunglimpfende Meinungsäußerung, aber eine dreiste Verharmlosung des Holocausts und der Widerstandskämpferin. Dem muss -so Ralph Lewin, der Schweizerische Präsident des Israelitischen Gemeindebundes -"widersprochen", 13 Aufklärung entgegengesetzt werden. Heftige Debatten löste im Frühjahr 2018 die Veröffentlichung einer Portrait-Karikatur des israelischen Ministerpräsidenten Netanyahu in der Süddeutschen Zeitung, die Dieter Hanitzsch gezeichnet hatte, aus. Die politische Karikatur wurde von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern als israelbezogener Antisemitismus gebrandmarkt. 14 Es gibt zwar Grenzen und rote Linien, deren Überschneidung politische Kritik an Israel oder seinen Repräsentanten zu Antisemitismus verdichtet. Und das heißt konkret, "wenn Juden mit den altbekannten antisemitischen Stereotypen -Hass auf alle anderen Menschen, ungezügelte Gier nach Weltherrschaft [...]" diffamiert oder mit der Auslöschung des Staates Israel, der die "einzige wirksame Lebensversicherung der Juden" ist, bedroht werden. 15 Die Übergänge mögen im Einzelfall schwierig sein, weil sie nicht in einem machtleeren und konfliktfreien Raum existieren. Doch sollte nicht verkannt werden, dass der bekannte Karikaturist Hanitzsch unter dem Dach der Freiheitsrechte, insbesondere der Presse-und Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 2 und Abs. 3 GG; Art. 11 und 13 GRCh; Art. 10 EMRK) die Potenziale der Karikatur, die auch bei der Zeichnung eines Porträts übertreiben und verzerren darf, genutzt und sie wie auch die Zeichnerinnen und Zeichner von Charlie Hebdo als Bastion der offenen Demokratie verstanden hat. 16 In den USA wendet sich die Black Lives Matter-Bewegung gegen die wahnhafte Bedeutung, die der Hautfarbe beigemessen wird. Der schwarze Schriftsteller James Baldwin bringt in seinem scharfsichtigen Essay "Nach der Flut das Feuer" 17 die rassistische Unterdrückung und Erniedrigung der Schwarzen in den USA, die er schon mit 10 Jahren unter Polizeigewalt erfahren hat, zur Sprache. Er schreibt über sein persönliches und das mit diesem verflochtene Gruppenschicksal unterdrückter schwarzer Menschen. Die Erfahrungen Baldwins und anderer haben in der Gegenwart noch immer nicht hinreichend Fuß gefasst. Keine einzelne Freiheit ist unbegrenzt. Insbesondere greift bei einer Abwägung das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, welches übermäßige Beschränkungen verhindert. 32 Darf der Staat zum Schutz der Gesundheit bzw. des Lebens (Art. 2 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 2 Abs. 1 GRCh, Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK) in der Pandemie in das grundrechtlich verbürgte Demonstrationsrecht (Art. 8 GG, Art. 12 GRCh, Art. 8 EMRK) ganz oder teilweise eingreifen? Kommt dem Persönlichkeitsrecht auch dann stets ein Vorrang zu, wenn hasserfüllte Äußerungen, Schmähungen gegenüber einer prominenten Person der Politik vorliegen? Da die hasserfüllte Diffamierung nicht auf eine gegenseitige Auseinandersetzung, sondern auf eine extreme persönliche Abwertung und Ausgrenzung angelegt ist, ist sie immer auch intolerant. Insbesondere dem Staat obliegt es daher, unverhältnismäßige Verletzungen des Persönlichkeitsrechts und garantierter Freiheitsrechte abzuwehren. 33 Aber auch die Menschen in einer Zivilgesellschaft sind dafür verantwortlich, dass Freiheitsrechte nicht aus der Balance geraten und die grundrechtlich verankerte europäische Ordnung in den Abgrund reißen können. Kap. 2 Rn. 146 ff.; Specht § 9 Teil B Rn Wie Maschinen lernen Künstliche Intelligenz verständlich erklärt 2019, XIV, 245 S. 71 Abb., 68 Abb. in Farbe. Brosch. € (D) 19,99 | € (A) 20,55 | *CHF Die Unschuld der Maschinen Technikvertrauen in einer smarten Welt 2019, XXIV, 279 S. 14 Abb. Book + eBook. Brosch. € (D) 24,99 | € (A) 26 Zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität im Internet-und Medienstrafrecht Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Bd. II 3. Kapitel (33 Unveröffentlichte Interpretation: Zwei kosmische Gedichte im Vergleich