key: cord-1024438-mm0aw813 authors: Butterwegge, Christoph title: Das neuartige Virus trifft auf die alten Verteilungsmechanismen: Warum die COVID-19-Pandemie zu mehr sozialer Ungleichheit führt date: 2021-01-19 journal: Wirtschaftsdienst DOI: 10.1007/s10273-021-2817-5 sha: 10afefa69e82a71a8cbca995067b901c9c668eab doc_id: 1024438 cord_uid: mm0aw813 Stößt das neuartige Coronavirus auf Menschen, deren ökonomische Lage und/oder sozialer Status sich deutlich unterscheiden, weichen die gesundheitlichen Auswirkungen für die Betroffenen häufig stark voneinander ab. Infektions-, Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken der einzelnen Bevölkerungsschichten differieren zum Teil ganz erheblich, sind mit Abstand am höchsten bei armen und am niedrigsten bei reichen Personen. Die wirtschaftlichen Kollateralschäden der Pandemie und der Infektionsschutzmaßnahmen des Staates (zweimaliger bundesweiter Lockdown) verteilen sich ebenfalls nicht gleichmäßig über alle Bewohner:innen der Bundesrepublik. Vielmehr gibt es Gewinner:innen und Verlierer:innen, sowohl in der Wirtschaft (Differenzierung zwischen einzelnen Branchen) als auch in der Gesamtgesellschaft (Polarisierung zwischen verschiedenen Klassen und Schichten). Schließlich weisen die bisherigen Hilfsmaßnahmen, Finanzspritzen und Rettungsschirme des Staates eine verteilungspolitische Schieflage auf, wodurch die sozioökonomische Ungleichheit wächst, statt abgemildert zu werden. Angesichts der bevorstehenden Konflikte um die Rückführung der hohen Staatsverschuldung, die Deutschland in den nächsten Jahren vor eine politische Zerreißprobe stellen dürften, sollte Verteilungsgerechtigkeit bei der Subventionsvergabe oberste Priorität haben. Wenn der Sozialstaat nicht in dem Sinne als „systemrelevant“ gelten will, dass er nur die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, Machtstrukturen und Verteilungsmechanismen stabilisiert, muss er die Fehlkonstruktion der staatlichen Finanzhilfen zügig revidieren und künftig diejenigen Personengruppen stärker unterstützen, die auf den Märkten, insbesondere dem Arbeits- und dem Mietwohnungsmarkt, die geringsten Durchsetzungschancen haben. Während der COVID-19-Pandemie ist die soziale Ungleichheit -wie unter einem Brennglas -deutlicher sichtbar geworden, hat sich durch die monatelange Krise aber auch drastisch verstärkt. Von einem "Ungleichheitsvirus" kann mit Blick auf SARS-CoV-2 jedoch ebenso wenig die Rede sein wie von einem sozialen Gleichmacher. Die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich bestand vielmehr schon vor der Pandemie (Butterwegge, 2020a). Auch war das neuartige Coronavirus nicht für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, das kapitalistische Wirtschaftssystem sowie die verteilungspolitischen Folgen der Entscheidungen des Staates zum Infektionsschutz und zur Bewältigung der Krisenfolgen verantwortlich. Sucht man nach den Ursachen der seit Pandemiebeginn wachsenden Ungleichheit, lassen sich ein gesundheitlich oder pandemiebedingter Polarisierungsprozess, ein ökonomisch oder rezessionsbedingter Polarisierungsprozess und ein verteilungspolitisch oder subventionsbedingter Polarisierungsprozess voneinander unterscheiden, die im Folgenden analysiert werden. Arbeitsb edingungen, Wohnverhältnisse und Gesundheitszustand (Zahl und Schwere der sozial bedingten Vorerkrankungen) üben einen signifi kanten Einfl uss auf das Infektions-, Morbiditäts-bzw. Mortalitätsrisiko der Bundesbürger:innen aus, die deshalb ganz unterschiedlich von der Pandemie betroffen sind. Hieß es früher aufgrund der je nach Geschlecht immer noch zehn Jahre höheren Lebenserwartung von Wohlhabenden und Reichen "Wer arm ist, muss früher sterben", so änderte sich diese Faustregel durch die Pandemie geringfügig: "Wer arm ist, muss eher sterben" heißt es jetzt, weil das Risiko, an COVID-19 zu sterben, für Wohlhabende und Reiche sehr viel niedriger ist. Am härtesten trifft das Virus ausgerechnet die Immun-und die Finanzschwächsten, also zwei personell weitgehend identische Bevölkerungsgruppen. Arbeitslose, Abgehängte und Arme weisen häufi ger als die übrigen Gesellschaftsmitglieder sozial bedingte Vorerkrankungen wi e Adipositas (Fettleibigkeit), Asthma, Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) oder COPD (Raucherlunge) auf. Auch katastrophale Arbeitsbedingungen (z. B. in der Fleischindustrie) sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhen das Risiko für eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus bzw. für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf. Überwiegend einkommens-und immunschwach waren Obdach-und Wohnungslose, aber auch andere Bewohner:innen von Gemeinschaftsunterkünften wie Strafgefangene, Gefl üchtete, (süd)osteuropäische Werkvertragsarbeiter:innen der Subunternehmen deutscher Großschlachtereien bzw. Fleischfabriken und nichtdeutsche Saisonarbeiter:innen in der Landwirtschaft, außerdem Migrant:innen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pfl egebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Geringverdiener:innen, Kleinstrentner:innen und Transferleistungsbezieher:innen (Empfänger:innen von Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie Asylbewerberleistungen). Wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg wu rde im Gefolge des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 erkennbar, dass ein großer Teil der Bevölkerung trotz eines relativ hohen Lebens-und Sozialstandards sowie entgegen den Beteuerungen der politisch Verantwortlichen, die Bundesrepublik sei eine "klassenlose" Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, nicht einmal kurze Zeit ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt (Butterwegge 2020b, 136 ff. (Schröder et al., 2020, 3) Wie aus den Daten einer Panelbefragung im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung hervorgeht, gehörten Freiberufl er:innen und Soloselbstständige, aber auch geringfügig oder befristet Be-schäftigte und Leiharbeiter:innen zu den Hauptverlierer:innen der Corona-Krise, wobei die Kurzarbeit offenbar eine Schlüsselrolle spielte (Hövermann und Kohlrausch, 2020, 489) . Auch zwischen einzelnen Beschäftigtengruppen nahm die Einkommensungleichheit während der durch die Pandemie ausgelösten Rezession zu. Insbesondere die unteren Einkommensbezieher:innen erlitten herbe Verluste, denn Geringverdiener:innen mussten sowohl häufi ger wie auch stärker ins Gewicht fallende Einbußen hinnehmen . Das vermehrte Homeoffi ce traf wegen des auftretenden Betreuungsproblems letztlich Frauen und Mütter, die hierdurch im Rahmen einer traditionellen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern wieder stärker zur Konzentration auf die Familienarbeit genötigt wurden. Zugenommen hat deshalb auch die Ungleichheit der Geschlechter, weil sich Beruf und Familie noch weniger miteinander vereinbaren ließen als sonst. Bettina Kohlrausch und Aline Zucco sprechen in diesem Zusammenhang von einer "doppelten" Benachteiligung von Frauen durch weniger Erwerbseinkommen und mehr Sorgearbeit . Bund, Länder und Gemeinden haben in der Corona-Krise nach kurzem Zögern riesige Hilfspakete geschnürt, die aus Finanz spritzen, Bürgschaften und Krediten bestanden. Letztere kamen in erster Linie großen Unternehmen zugute, während kleine und mittlere Firmen mit Zuschüssen unterstützt wurden, die laufende Betriebskosten decken, aber von Soloselbstständigen nicht zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts verwendet werden sollten. Während zahlreiche Unternehmen, darunter auch solche mit einer robusten Kapitalausstattung, von der Bereitschaft des Staates zu einer hohen Neuverschuldung profi tierten, kamen die sozial Benachteiligten eher zu kurz. Zu den von der Pandemie fi nanziell stark geschädigten Gruppen gehörten die Beschäftigten im Niedriglohnsektor. "Wie keine andere Beschäftigtengruppe werden sie mit Kurzarbeit konfrontiert und müssen entsprechende Einkommenseinbußen hinnehmen. Dabei greifen sozialpolitische Kompensationsmaßnahmen wie die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes gerade für diese Beschäftigtengruppe am wenigsten." (Schulten, 2020, 16) Das bei einer um mindestens 50 % reduzierten Arbeitszeit nach dreimonatigem Bezug auf 70 % bzw. 77 % und nach sechsmonatigem Bezug auf 80 % bzw. 87 % angehobene Kurzarbeitergeld schützt sie nicht vor Armut, wohingegen ihnen ein Mindestkurzarbeitergeld mehr nützen würde als die von CDU, CSU und SPD vorgenommenen Verbesserungen (Einbeziehung der Leiharbeiter:innen und Erweiterung der Hinzuverdienstmöglichkeiten für Kurzarbeiter:innen). Überstundenzuschläge, Einmalzahlungen (z. B. Gewinnbeteiligungen oder Jahresprämien) sowie steuer-und beitragsfreie Zuschläge fü r Sonntag s-, Feiertags-und Nachtarbeit bleiben bei der Berechnung des Kurzarbeitergeldes unberücksichtigt, was im Falle der "Kurzarbeit Null" nicht bloß für Geringverdiener:innen drastische Einbußen gegenüber ihrem Lohn und gravierende Einschränkungen ihres gewohnten Lebensstandards mit sich brachte. Beschäftigte aus bessersituierten Haushalten sind dagegen seltener von Kurzarbeit betroffen (Kruppe und Osiander, 2020, 6) . Studierenden, die häufi g ihren Nebenjob (z. B. in der Gastronomie) verloren, der ihren Lebensunterhalt bis dahin gesichert hatte, stand weder Kurzarbeiter-n och Arbeitslosengeld (I bzw. II) zu, was manchmal den Studienabbruch zur Folge hatte. Nothilfe des Bundes in Höhe von maximal 500 Euro können Studierende nur erhalten, wenn sie weniger als diesen Betrag auf ihrem Konto haben. Umso großzügiger war der Staat bei den Großkonzernen: BMW ließ sich für 30.000 Beschäftigte in Kurzarbeit fast die gesamten Lohnkosten (einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Kranken-, Pfl ege-und Rentenversicherung) erstatten, schüttete aber im Mai 2020 nicht weniger als 1,64 Mrd. Euro an Dividenden für das Vorjahr aus. Davon erhielten die Großaktionäre Susanne Klatten und Stefan Quandt, denen fast die Hälfte des Münchener Automobilherstellers gehört, allein 769 Mio. Euro. Frankreich, Dänemark und Schweden machen es Unternehmen in einem solchen Fall zur Aufl age, keine Gewinne auszuschütten. Die am meisten beachtete Maßnahme des Konjunktur-und Krisenbewältigungspakets der Großen Koalition war die zeitweilige Senkung des Mehrwertsteuersatzes von 19 % auf 16 % bzw. von 7 % auf 5 %. Je umsatzstärker ein Unternehmen war, umso stärker profi tierte es von der Mehrwertsteuersenkung, erst recht natürlich dann, wenn es diese nicht an seine Kundschaft weitergab. Bei der Ausweitung des steuerlichen Verlustrücktrags, der Einführung einer degressiven Abschreibung für Abnutzung (AfA) mit einem höheren Faktor und maximal 25 % pro Jahr für bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens 2020/2021 und der unbefristeten "Modernisierung" des Körperschaftsteuerrechts (Einführung eines Optionsmodells zur Körperschaftsteuer für Personengesellschaften) handelte es sich noch weniger um passgenaue Hilfen, sondern um reine Steuergeschenke, die der Wirtschaftsfl ügel von CDU und CSU den Unternehmern schon lange machen wollte. Ähnliches gilt für die "Sozialgarantie 2021", mit der die Sozialversicherungsbeiträge durch den Einsatz von Steuermitteln bei 40 % vom Bruttolohn oder -gehalt gedeckelt und steigende "Lohnnebenkosten" -gemeint sind die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung -verhindert werden sollen. Auch die "November-" und "Dezemberhilfen" während des zweiten (Teil-)Lockdowns haben zur Überprivilegierung der Kapitaleigentümer:innen beigetragen. Weil der Bund seinen Kompensationszahlungen pauschal 75 % des im entsprechenden Vorjahresmonat erzielten Umsatzes statt des realen Betriebsergebnisses zugrunde legte, stellten sich manche Unternehmer:innen zeitweilig sogar besser als vor der Pandemie. In der staatlichen Subventionspraxis schlug sich die wirtschaftsliberale Ideologie nieder, nach der ein Unternehmer per se als "Leistungsträger" der Gesellschaft gilt, wohingegen sozial benachteiligte P ersonengruppen eher zu den Leistungsverweigerern gezählt werden. Stößt das neuartige Coronavirus auf Menschen, deren ökonomische Lage und/oder sozialer Status sich deutlich unterscheiden, weichen die gesundheitlichen Auswirkungen für die Betroffenen häufi g stark voneinander ab. Infektions-, Morbiditäts-und Mortalitätsrisiken der einzelnen Bevölkerungsschichten differieren zum Teil ganz erheblich, sind mit Abstand am höchsten bei armen und am niedrigsten bei reichen Personen. Die wirtschaftlichen Kollateralschäden der Pandemie und der Infektionsschutzmaßnahmen des Staates (zweimaliger bundesweiter Lockdown) verteilen sich ebenfalls nicht gleichmäßig über alle Bewohner:innen der Bundesrepublik. Vielmehr gibt es Gewinner:innen und Verlierer:innen, sowohl in der Wirtschaft (Differenzierung zwischen einzelnen Branchen) als auch in der Gesamtgesellschaft (Polarisierung zwischen verschiedenen Klassen und Schichten). Schließlich weisen die bisherigen Hilfsmaßnahmen, Finanzspritzen und Rettungsschirme des Staates eine verteilungspolitische Schiefl age auf, wodurch die sozioökonomische Ungleichheit wächst, statt abgemildert zu werden. Angesichts der bevorstehenden Konfl ikte um die Rückführung der hohen Staatsverschuldung, die Deutschland in den nächsten Jahren vor eine politische Zerreißprobe stellen dürften, sollte Verteilungsgerechtigkeit bei der Subventionsvergabe oberste Priorität haben. Wenn der Sozialstaat nicht in dem Sinne als "systemrelevant" gelten will, dass er nur die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, Machtstrukturen und Verteilungsmechanismen stabilisiert, muss er die Fehlkonstruktion der staatlichen Finanzhilfen zügig revidieren und künftig diejenigen Personengruppen stärker unterstützen, die auf den Märkten, insbesondere dem Arbeits-und dem Mietwohnungsmarkt, die geringsten Durchsetzungschancen haben. Literatur Butterwegge, C. (2020a) , Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, 2. Aufl ., Beltz Juventa. Butterwegge, C. (2020b), Ungleichheit in der Klassengesellschaft, PapyRossa. Soziale Ungleichheit und Einkommenseinbußen in der Corona-Krise -Befunde einer Erwerbstätigenbefragung Die Corona-Krise trifft Frauen doppelt Verteilungsbericht 2020. Die Einkommensungleichheit wird durch die Corona-Krise noch weiter verstärkt Kurzarbeit in der Corona-Krise: Wer ist wie stark betroffen?, IAB-Forum Vor dem Covid-19-Virus sind nicht alle Erwerbstätigen gleich, DIW aktuell Der Niedriglohnsektor in der Corona-Krise