key: cord-0989200-5tjzrrx7 authors: Scalco, Lucia; Sobottka, Emil A. title: Möge die Solidarität ansteckender sein als das Virus!: Erfahrungen aus einer Notfallaktion date: 2020-11-27 journal: Soz Passagen DOI: 10.1007/s12592-020-00361-2 sha: cab867151401c54635a35bb230357e4f6bc17ec6 doc_id: 989200 cord_uid: 5tjzrrx7 In this article, we describe a campaign that was developed with a poorer community on the periphery of the city of Porto Alegre in Brazil during the COVID-19 pandemic. We analyze the actions taken, the reactions of the people involved in it, and some of the questions that have been raised during this period. For this purpose, the text has been organized as follows: We start with a short introduction on the Morro da Cruz community and then reconstruct some of its earlier experiences with public policies and the activities of nongovernmental organizations (NGO). We then present an emergency aid campaign that was carried out in the first months of the COVID-19 pandemic crisis in Brazil. On the initiative of the NGO Coletivo Autônomo Morro da Cruz, both the local community and external solidarity were mobilized to alleviate the most urgent needs, whereby community solidarity, forms of internal self-organization and budding familiarity with new technologies proved valuable in the crisis. Based on statements of residents during the campaign, we conclude by briefly addressing the question of the many faces of poverty that cannot be represented by economic indicators. Der Alltag in der Gemeinde Morro da Cruz in Porto Alegre wurde Mitte März 2020 stark verändert, als der Bundesstaat Rio Grande do Sul Social Distancing und die Unterbrechung aller Art von Präsenzaktivitäten verordnete. Öffentliche Dienstleistungen in Gesundheit, Bildung und Sozialhilfe sowie die Aktivitäten der NGOs wurden unmittelbar eingestellt. Die meisten Einwohner*innen dieser Gemeinde, die prekäre oder informelle Jobs haben, verloren plötzlich ihren Lebensunterhalt und die öffentliche Unterstützung. Erste solidarische Notfallaktivitäten wurden wenige Tage nach der Verordnung von Social Distancing durch Nichtregierungsorganisationen wiederaufgenommen. Eine davon, die die Verteilung von Grundnahrungsmittelkörben und einer Gemeinschaftssuppe beinhaltete, ist Gegenstand dieses Textes. Die Aktion kombiniert die Aktivitäten einer lokalen NGO, die Mobilisierung von Solidarität über die Grenzen der Gemeinde hinaus und die Selbstorganisation der Gemeinde. Durch die Aktion wurde die Gemeinde Morro da Cruz aber auch mit ethisch-praktischen Fragen konfrontiert, die im Text ebenfalls besprochen werden. Die Gemeinde Morro da Cruz wurde ursprünglich 1875 als eine Siedlung außerhalb der Stadt gegründet, scheiterte aber aufgrund der geringen Marktakzeptanz. Im Laufe des 20. Jahrhunderts siedelte die Stadt arme Bevölkerungsgruppen dort an, um sie aus den edelsten Stadtvierteln zu entfernen -eine in Lateinamerika übliche Politik der Gentrifizierung. Neben den von den Stadtverwaltern vertriebenen Einwohner*innen kamen Migrant*innen aus dem Landesinneren hinzu, die sich dort niederließen. Ein großer Teil der Gemeinde befindet sich auf einem Grundstück, das offiziell ein Naturschutzgebiet sein soll. Aufgrund des mangelnden Schutzes durch die Behörden wurde dieses Gebiet jedoch nach und nach von Menschen besetzt, die dringend einen Wohnort brauchten. Die aufgrund dessen fehlenden Regelungen haben zur Folge, dass die Stadt keine Infrastruktur darin errichtet: Es gibt dort weder Straßen und Bürgersteige noch fließendes Wasser, Abwasser, Strom oder Müllabfuhr. Auf Eigeninitiative der Gemeinde und von Freiwilligen aus anderen Stadtteilen wurden einige Verbesserungen vorgenommen, z. B. Treppen, Gassen und Abwasserkanalisation installiert, die jedoch nur die größte Not etwas lindern. Der Name Morro da Cruz bezieht sich auf eines der wichtigsten Feste in der Gemeinde, das seit über einem halben Jahrhundert gefeiert wird: eine Inszenierung der Passion Christi mit einer Besetzung, die überwiegend aus lokalen Laien besteht, und jeweils von einer großen Prozession begleitet wird. Mit der Prozession stellt sich die Gemeinde der Stadt vor und gewinnt so in den lokalen Medien etwas Aufmerksamkeit. Dieses Ereignis führte in den 1960er Jahren zum Bau einer kleinen Kapelle ganz oben auf dem Berg, auf der sich ein großes Kreuz befindet, das der Gemeinde ihren Namen gab. Die Volksreligiosität prägt tief das Leben und die Kultur der Einwohner der Gemeinde. So weisen neben der jährlichen Inszenierung in der Passionszeit viele andere Aktivitäten Zeichen lokaler Religiosität auf (Scalco 2008 Es ist auch wichtig hervorzuheben, dass Frauen durchschnittlich 57 % der Teilnehmer*innen repräsentierten und dass im langfristigen Durchschnitt die Hälfte der Teilnehmer*innen bis zu vier Schuljahre formale Bildung hatte. Dies zeigt bereits, wie diese Form der Entscheidung über den städtischen Haushalt vielen Menschen, die traditionell nicht an öffentlichen Debatten teilgenommen haben, die Möglichkeit eröffnet hat, sich in die Politik ihrer Stadt einzubringen. Ein weiteres Merkmal des Partizipativen Haushalts in Porto Alegre war die Bottom-up-Dynamik: Es war notwendig, zunächst in den örtlichen Versammlungen Unterstützung für die Forderungen zu sichern und diese Unterstützung dann in den Sitzungen der Delegierten aus den verschiedenen Regionen der ganzen Stadt zu erweitern. Daher mussten die Teilnehmer*innen sich in ihren Forderungen einig sein, und gleichzeitig wurden sie für die Situation anderer Menschen oder Gemeinden sensibilisiert, die manchmal eine noch prekärere Situation hatten. Die Dynamik des Verfahrens führte dazu, dass die Teilnehmer*innen sich untereinander unterstützten und so einen Impuls zu solidarischem Handeln erhielten. Sie bewirkten nicht nur, dass ihre Rechte auf öffentliche Dienstleistungen wenigstens teilweise in der eigenen Gemeinde erfüllt wurden, sondern entwickelten auch ein größeres Bewusstsein, wie wichtig es ist, gemeinsam Andere zu unterstützen. Obwohl die Stadtverwaltung inzwischen den Bürgerhaushalt aus politischen Gründen (seine symbolische Bindung an die Arbeiterpartei, die ihn geschaffen hat) ausgesetzt hat, äußern sich die an diesem Prozess Beteiligten bis heute positiv über die Auswirkungen der Mobilisierungen, um die Gemeinde zu vereinen und um anderen gegenüber Sensibilität zu entwickeln. Einige Personen aus der Leitung der Anwohnervereinigung beklagten sich darüber, dass dieser zweite Modus nur dazu dienen würde, den Hunger zu stillen, aber nicht das politische Bewusstsein der Menschen zu schärfen und daher sie als Bürger*innen entwerten würde. So sagte ein Vorstandsmitglied: "Die Person verlässt einfach das Haus, holt das Essen ab und kehrt ohne Anstrengung nach Hause zurück. Das ist nicht fair. Die Person muss verstehen, dass es notwendig ist, sich zu engagieren, um die Lebensmittel zu erhalten" (Scalco und Fietz 2020) . Ähnlich wie beim Partizipativen Haushalt priorisierte das Programm Fome Zero in seinem Ursprung die Mobilisierung der Einwohner*innen. Als die Regierung sich mehr an Forderungen von internationalen Organisationen wie die Weltbank anpasste, wurden ihre Social Policies zunehmend vom Neoliberalismus mit seinem individualistischen und politisch demobilisierenden Charakter geprägt, wie beispielsweise der direkte Geldtransfer 2 . Der Unterschied zwischen diesen beiden Modi des Programms Fome Zero -einer mit der Erfordernis einer Gegenleistung in Form politischer Partizipation und der andere nur mit Registrierung in einem nationalen Register für Sozialprogramme -hat die Frage um Verdienst versus Gerechtigkeit in der Sozialpolitik auf die Tagesordnung der eigenen Gemeinde gesetzt. Die Einführung eines großen Programms für den direkten Geldtransfer an Menschen in absoluter Armut in Brasilien deutet auf die Ausbreitung neoliberalen Gedankenguts hin, das die gesellschaftliche Zugehörigkeit der Bürger*innen nicht über einen Citizenship-Status mit Rechten und Pflichten, sondern über den Markt konzipiert (Silva 2014) . Anstelle einer Politik der sozialen Inklusion, die auf dem egalitären Prinzip basiert und alle Mitglieder einer Gesellschaft umfasst, wurde in Brasilien das Programm Bolsa Família ins Leben gerufen, das nur das physische Überleben sichern soll. Es besteht aus einem direkten Geldtransfer an Familien mit einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als einem Viertel des Mindestlohns (ca. 15 C pro Monat!). Derzeit kommt es rund 14 Mio. Familien zugute 3 -was vom Ausmaß der extremen Armut in Brasilien zeugt. Bevorzugte Empfängerinnen der Leistung sind Frauen, da sie bei wechselnden Familienformationen in der Regel den Anker der Familienkontinuität bilden 4 . In der akademischen Diskussion unterscheiden sich die Bewertungen des Programms Bolsa Família sehr voneinander. Diejenigen, die es befürworten, betonen den Kampf gegen absoluten Hunger und Elend, seine Rolle bei der Wertschätzung von Frauen in der Familie und die Bedingung, dass die Kinder zur Schule gehen müssen und regelmäßig zur Gesundheitskontrolle gehen sollen. Leão Walquíria Rego und Alessandro Pinzani (2014) fügen dieser Liste noch eine interessante Reflexion über eine angeblich durch Geld ermöglichte Autonomie hinzu. Kritiker*innen des Programms hingegen stellen die Auferlegung von Konditionen in Frage, durch die der Staat sich in das Leben von Familien einmischt, und den sehr geringen Geldbetrag, der für eine sechsköpfige Familie bis zu umgerechnet 45 C betragen kann. Sie weisen auch darauf hin, dass es die Zielgruppe demobilisiert, sie von Bürger*innen zu Konsument*innen degradiert und in marktorientierte Strategien einfügt -und darüber hinaus die soziale Ungleichheit nicht verringert (Lavinas 2013) . In der Gemeinde Morro da Cruz profitiert eine beträchtliche Anzahl von Familien von diesem Programm. Als Kampf gegen den Hunger hat es zweifellos einen Beitrag geleistet. Aber Claudia Fonseca, Lucia Mury Scalco und Helisa Canfield de Castro (2018) zeigen auch, dass seine demobilisierende Wirkung in der Gemeinde sehr deutlich bemerkbar ist. Während der Notstandsperiode aufgrund der COVID-19-Pandemie, auf die wir weiter unten noch eingehen werden, hatte die Teilnahme an Bolsa-Família-Programm auch indirekte Auswirkungen. Da diese Familien bereits eine soziale Identifikationsnummer hatten, konnten sie vor den anderen Einwohnern von den Notfallmaßnahmen der Regierung profitieren, während andere Familien zuerst den langen und manchmal schwierigen Weg der Suche nach Unterlagen und der Registrierung zurücklegen mussten. Diese Gemeinde, die so weit von der Stadt entfernt ist und nur sehr prekär von Public Policies profitiert, braucht die Unterstützung sowohl der Einwohner*innen untereinander als auch die Zusammenarbeit über die Grenzen der Gemeinde hinaus, um flexibel auf dringende Bedürfnisse reagieren zu können. Als die Stadt Porto Alegre aufgrund der COVID-19-Pandemie Social Distancing verordnete, waren die Einwohner*innen der Gemeinde Morro da Cruz sehr betroffen. Nicht nur die ohnehin unzureichenden Public Policies wurden unterbrochen, sondern auch die wirtschaftlichen Aktivitäten der überwiegenden Mehrheit, insbesondere derjenigen, die informelle Tätigkeiten ausübten oder im häuslichen Dienst arbeiteten. Die seit 2006 in der Gemeinde aktive NGO Coletivo Autônomo Morro da Cruz 5 war eine der ersten, die reagierte und Solidaritätsaktionen organisierte, um Spenden zu sammeln. Mit diesen Ressourcen werden seitdem Grundnahrungsmittelkörbe verteilt und Gemeindesuppen zubereitet. Derzeit arbeiten 22 Freiwillige regelmäßig in der NGO. Es sind teils externe, bereits graduierte Fachkräfte, Student*innen, Techniker*innen, Autodidakt*innen, aber hauptsächlich Mitglieder der Gemeinde. Aufgrund der lange zurückreichenden lokalen Einbindung der externen Freiwilligen und der Einbeziehung von lokalen Familien konnten Solidarität, externe Unterstützung und lokales Wissen schnell mobilisiert werden. Vor der Krise bestand die Arbeit des Coletivo Autônomo Morro da Cruz hauptsächlich in der Betreuung von Schulkindern außerhalb der Unterrichtszeit. Neben Nachhilfe-Workshops wurden auch Englisch, Poesie, Rap, Capoeira, Tänze, Yoga und Kunsthandwerk angeboten. Es ist wichtig zu betonen, dass sich die Aktivitäten nicht nur auf Kinder begrenzten. Auch die Familien der Kinder wurden begleitet. Einige davon befanden sich in einer prekären und gefährdeten Lage und wurden durch psychologische Beratung und Familientherapie unterstützt, damit sie die Bindung zu ihren Kindern verbessern und eventuell neue Erwerbstätigkeiten finden können. Dazu kam ein Gesundheitsprojekt mit Kinderarzt und nach Möglichkeit die Öffnung der Räumlichkeiten für andere Kinder aus der Gemeinde zur freien Nutzung. Die abrupte Unterbrechung aufgrund der Krise erfolgte kurz bevor eine neue Gruppe von Kindern in prekärer Lage aufgenommen werden sollte. 5 Lucia Mury Scalco ist seit 15 Jahren in der Gemeinde aktiv und ist derzeit Vorsitzende dieser NGO. Dank der Vertrautheit der Mitglieder der NGO mit den Lebensbedingungen der Familien erkannten sie bald, dass aufgrund der umfassenden Stilllegung des öffentlichen Lebens bald eine schwere Krise eintreten würde. Angesichts der erahnten Auswirkungen wurde beschlossen, sofort zu handeln. Die Frage, die alle sich stellten, war: Was ist jetzt möglich, unter Beachtung der Vorgaben zu Social Distancing und Hygiene? In Zusammenarbeit mit Moeda do Bem, einem engagierten Sozialunternehmen aus dem Bereich Informatik 6 , entstand die Aktion: "Möge die Solidarität ansteckender sein als das Virus!" Sie bestand darin, über die Moeda-do-Bem-Webseite Spenden für die Nothilfe für Familien zu sammeln. Eine Facebook-Seite wurde erstellt, um alle möglichen Kontakte in einer schneeballartigen Erweiterung zu aktivieren und den Spendenaufruf so vielen Menschen wie möglich zukommen zu lassen. Der erste Aufruf erfolgte bereits am dritten Tag nach der verordneten Unterbrechung des normalen Lebens. Eine weitere Initiative derselben Partnerschaft war die Entwicklung einer kleinen App zur Registrierung der Familien und zum Versenden eines Fragebogens über WhatsApp. Damit sollte herausgefunden werden, wie umfangreich das Einkommen eingebrochen war und welche dringenden Bedürfnisse die Familien hatten. Der Fragebogen sollte von einer Person aus jeder Familie innerhalb des Hauses mit eingeschalteter Standorteinstellung beantwortet werden. Auf diese Weise konnten zwei Aspekte gleichzeitig sichergestellt werden: dass jede Familie von einer einzigen Registrierung profitiert und dass der Grundnahrungsmittelkorb korrekt geliefert werden kann. Letzteres ist sehr wichtig, da ein großer Teil des Gemeindegebiets keine Straßen mit Namen oder Häuser mit Nummern hat. Gesammelt wurden neben den Standortdaten unter anderem die Anzahl der Personen in der Wohnung, die Existenzgrundlage und der dringendste Bedarf. Nach Ausfüllung des Fragebogens wurden die Daten direkt an einen Server gesendet und analysiert. Die Antworten zeigten, dass die Unterbrechung der wirtschaftlichen Aktivitäten und der öffentlichen Dienstleistungen in Verbindung mit der Tatsache, dass diese Familien im Allgemeinen keine finanziellen Reserven haben, Lebensmittel (95 % der Antworten) und Reinigungsprodukte zum dringendsten Bedarf machten. Anhand dieser Angaben wurde der Inhalt für einen Basiskorb mit 25 Artikeln mit Lebensmitteln, Hygienematerial und in bestimmten Fällen auch Medikamenten, Windeln und einem persönlichen Hygienekit definiert, der dann verteilt wurde. Mit den gesammelten Mitteln wurden die Körbe bei lokalen Läden innerhalb der Gemeinde gekauft, um so die gesammelten Spenden in der Gemeinde selbst zu investieren. Die Lieferung an die Familien erfolgte durch Freiwillige der NGO direkt an die über die Standortdaten ermittelte Adresse. Bei der Übergabe wurde ein Foto aufgenommen, das auf der Facebook-Seite veröffentlicht wurde. Dies diente der Öffentlichkeitsarbeit ebenso wie als Mittel der sozialen Kontrolle. Bereits nach knapp zwei Monaten hatten sich 1394 Familien registriert, von denen 80 % Kinder und 26 % ältere Menschen einschlossen. Damit wurden durch diese Aktion rund 5700 Einwohner*innen begünstigt. Als später die kalte Jahreszeit begann, organisierte sich eine Gruppe von Frauen aus der Gemeinde, um in sehr kalten Nächten eine Gemeinschaftssuppe vorzubereiten und zu verteilen. Die Zutaten wurden von ihnen selbst ausgewählt, in örtlichen Geschäften gekauft und anschließend von der Coletivo Autônomo Morro da Cruz bezahlt. Überlegungen, was die Mahlzeit enthalten soll, welche Zutaten billiger sind und ähnliche Themen wurden über WhatsApp-Gruppen diskutiert. Die Vorbereitung erfolgte in den Häusern der teilnehmenden Frauen und die ärmsten Familien wurden eingeladen, Portionen abzuholen, die der Anzahl der Hausbewohner*innen entsprachen. In einem rotierenden System profitieren davon jeweils rund 120 Personen. Es entstanden während dieser Aktion auch andere Ideen, wie beispielsweise die Verteilung von Büchern, die von der Vereinigung der Schriftsteller von Rio Grande do Sul gespendet wurden. Mit den registrierten Adressen konnten darüber hinaus tägliche Informationen über die COVID-19-Situation in der Stadt und andere wichtige Informationen übermittelt werden. Damit wurde nicht nur Unterstützung zur Deckung der Grundbedürfnisse in der Krise organisiert, sondern es konnten auch Kultur und Informationen gezielt angeboten werden. Die Idee ist, weiterhin Spenden zu sammeln, um neue Projekte aufzubauen. Auf den ersten Blick war die Aktion ein großer Erfolg. Aber es wurde punktuell auch Kritik geübt. Die Verteilung der Grundnahrungsmittelkörbe war so konzipiert, dass sie unter strenger Einhaltung der Regeln des Social Distancing und der Vermeidung von Agglomerationen erfolgen konnte. Da alle registrierten Familien ein Telefon mit Zugang zum Netzwerk über WhatsApp hatten, konnten sie auch Rückmeldungen geben. Auf der Facebook-Seite, das von der Gemeinde meistgenutzte soziale Netzwerk, gab es ebenfalls die Möglichkeit, Meinungen auszudrücken. Es wurden sowohl unterstützende als auch kritische Meinungen geäußert, von denen wir einige unten transkribieren. Da die Aktion nur für die Gemeinde Morro da Cruz vorgesehen war, mussten Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, um zu verhindern, dass sich Familien aus anderen Gebieten registrieren. Es musste aber auch Transparenz geschaffen und so gut wie möglich verhindert werden, dass mehrere Personen aus derselben Familie sich registrieren und folglich anderen nicht geholfen werden könnte. Daher wurde in der App die Bedingung der aktiven Standortbestimmung eingefügt. Und jeder, der sich registrieren wollte, erhielt folgende Warnung: Achtung: Beantworte den Fragebogen auf Deinem Handy. Stelle sicher, dass die Standortbestimmung in den Einstellungen aktiviert ist. Die Verbindung funktioniert nur für Morro da Cruz. Im Allgemeinen war es überraschend, wie viele Personen teilnahmen und sich registrierten. In einer Gemeinde, in der ein Teil der Einwohner große Schwierigkeit mit dem Schreiben hat, könnten sich bei der Registrierung ausschließlich über das Handy ebenfalls Schwierigkeiten ergeben. Dies war der Fall bei einer Frau, die schrieb: "Ich habe die Gelegenheit verpasst, weil ich nicht wusste, wie ich auf meinem Handy schreibe." Da das Volumen der verfügbaren Ressourcen nicht für alle reichte und die Körbe in der Reihenfolge der Registrierung verteilt wurden, war eine schnelle Registrierung wichtig. Deshalb konnten sich einige Personen nicht rechtzeitig registrieren: "Mein Gott, es ist sehr schnell vorbei. Sobald Sie [die Einladung] posten, sind schon alle vergeben." In dem einen oder anderen Fall gab es einen gewissen Widerstand gegen die Registrierung, wie die folgende Bemerkung zeigt: Ja, diejenigen, die es wirklich brauchen, die bekommen nichts, ganz zu schweigen von der Demütigung, Fotos zu machen, die dann in Facebook-Gruppen landen. 7 Diese Personen wollten ihr Foto nicht in einem sozialen Netzwerk sehen und nahmen dafür in Kauf, die Hilfe nicht zu erhalten. Seitens der Organisator*innen war die Veröffentlichung der Bilder eine Möglichkeit, Transparenz zu schaffen: Jeder in der Gemeinde konnte überprüfen, was mit den Ressourcen gemacht wurde und wer in der Gemeinde den Warenkorb bekommen hat. Es gab aber auch viele zufriedene und dankbare Äußerungen von Einwohner*innen: Ich bin sehr dankbar. Ich habe den Korb angenommen, weil ich ihn wirklich brauche. Ich arbeite als Reinigungskraft [d. h. Tagesjob], kann aber wegen dieses Corona-Virus keine Arbeit bekommen. Vielen Dank, möge Gott euch jeden Tag mehr und mehr segnen. Am Anfang haben wir [die Suppe] in kleinen Portionen verteilt. Jetzt kommen die Leute mit einem Topf, mit einem großen Topf. (Freiwillige Suppenköchin) Ich bin sehr glücklich. Du hast keine Ahnung, wie glücklich ich bin! Innerhalb der Gemeinde herrscht bei einigen Menschen ein starker Sinn für Gerechtigkeit und Solidarität. Sie sind davon überzeugt, dass das Wenige, das sie haben, gleichmäßig verteilt werden sollte. Vor diesem Hintergrund gab es mehrere kritische Äußerungen. Eine Beschwerde war, dass einige Familien die Regel, dass sich jede Familie nur einmal registrieren solle, nicht respektierten. Wie bereits erwähnt, wurde diese Regel durch die Standortbestimmung des Mobiltelefons kontrolliert. Aber wo es ein Hindernis gibt, wird jemand herausfinden, wie man es überwinden kann. Also warnten andere Einwohner*innen: Ich finde diese Hilfe für die Einwohner des Morro da Cruz wirklich cool, aber ich habe ein Foto von einem Ehepaar gesehen, das jeweils einen Korb genommen hat. Richtig wäre, [pro Familie] nur einen zu bekommen, denn es gibt viele Leute in der Gemeinde, die ihn wirklich brauchen. Das ist meine Meinung. Zusätzlich gab es weitere kritische Aussagen, die zeigen, wie man in der Gemeinde die Handlungen anderer bewertet. Eine dieser Bewertungen betraf die Frage der Bedürftigkeit: Menschen, die in den Augen Anderer als weniger bedürftig ange-sehen wurden, hätten Hilfe erhalten, während andere, bedürftigere Einwohner diese nicht hätten bekommen können: Viele Menschen brauchen sie [die Hilfe] wirklich und bekommen sie nicht. Aber dann sehe ich ein Foto von Menschen, die eigene Ressourcen haben. Das ekelt mich an. Es stimmt, Leute, die es nicht wirklich brauchen, haben zugegriffen [...]. Es mag übersehen worden sein, dass die Verordnung von Social Distancing dazu geführt hat, dass viele Menschen, die bis dahin wirtschaftlich etwas komfortabler gelebt hatten, ihr Einkommen und damit die Fähigkeit verloren haben, dringende Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die kritischen Äußerungen veranlassen uns, über ein letztes Thema nachzudenken, nämlich die Frage, wer "die Armen" sind -ohne uns auf die traditionell erfassten, aber zu undifferenzierten, statistischen Wirtschaftsindikatoren zu stützen. Solidarische Aktionen in Zeiten großer Not finden glücklicherweise immer noch ein positives Echo in unseren Gesellschaften. Je stärker die lokale Gemeinde an der Organisation dieser Aktionen beteiligt ist, desto konkreter werden jedoch Probleme, wie beispielsweise der Unterschied zwischen "arm sein" und "in Not sein". Wer ist in einer Gemeinde wie die auf dem Morro da Cruz eines Grundnahrungsmittelkorbs oder einer anderen Nothilfe würdig? So gestellt, kann diese Frage kaum endgültig beantwortet werden. Es erscheint jedoch durchaus vernünftig, Situationen wie den aktuellen Notfall zu nutzen, um einen Schritt zurückzugehen und die Frage zu stellen, was Armut ist. Dieses Thema ist sehr sichtbar und mobilisiert aufgrund seiner Beziehung zur Ungleichheit Regierungen, Akademiker*innen und die Gesellschaft im Allgemeinen. Aus verschiedenen sozioökonomischen, geografischen, ethnischen, religiösen und sogar geschlechtsspezifischen Gründen bleibt der Zugang zu einem Teller mit Lebensmitteln, zu Bildung, Gesundheit, Elektrizität, sauberem Wasser, Transportmitteln und anderen wichtigen Dienstleistungen für Millionen von Menschen unerreichbar (Sobottka 2009a) . Unter den wichtigsten internationalen entwicklungsorientierten Organisationen (UNO, Weltbank, FAO usw.) besteht die Tendenz, die sogenannte absolute Armut anhand eines monetären Kriteriums zu messen: beispielsweise 1 oder 1,5 US-Dollar pro Tag und pro Person. Diejenigen unterhalb dieser imaginären Armutsgrenze gelten als ernsthaft von Hunger bedroht. Fast jede*r fühlt sich betroffen, wenn Fotos von unterernährten Kindern in Afrika, Arbeitnehmer*innen unter unmenschlichen Bedingungen in Asien oder alarmierende Zahlen in den vielen sogenannten technischen Berichten veröffentlicht werden. Diese Berichte stellen im Allgemeinen weder die Frage nach den Gründen für die Armut noch zeigen sie die Zusammenhänge zwischen ihr und der absurden Konzentration des Reichtums. Sie liefern Zahlen, wobei die Logik des täglichen Überlebens als Kriterium verwendet wird -als ob dieses ein ausreichendes Kriterium für ein menschenwürdiges Leben wäre. Die tiefen Meinungsverschiedenheiten treten hervor, wenn neben den wirtschaftlichen Aspekten, die sich auf das bloße Überleben beziehen, auch Fragen, die aus anderen politischen Einstellungen entstehen, mit auf die Tagesordnung kommen, um die Debatte zu erweitern und vertiefen. Dann werden mit dem Phänomen Armut zugleich der intrinsische Zusammenhang von Armut und Reichtum sowie soziale und subjektive Dimensionen priorisiert. Tatsächlich ist das Konzept der Armut ein kontroverses und immer auch politisches Thema, und die Debatte wird polemisch, sobald die Analyse konkret wird und sich auf objektiv identifizierbare soziale Situationen bezieht. Was ist zum Beispiel Armut oder wer sind die Armen in Brasilien? 8 Woher kommt ihre Armut und wohin ist der von ihnen produzierte Reichtum verschleppt worden? Welche Beziehung besteht zwischen der zunehmenden Anzahl an Millionär*innen, der Ausbeutung durch sogenannte Investor*innen des internationalen Kapitalmarktes und den rasant wachsenden Armutsvierteln? Wer kann konsumieren und wie viel müssen sie konsumieren? Eine weitere sehr wichtige Frage: Was denken die Armen selbst über ihre Situation? Die brasilianischen Sozialwissenschaften haben eine bedeutende Tradition in der Forschung zum Thema Armut (Camargo et al. 1976; Sobottka 2009b; Sarti 2009 ). In diesen Ansätzen werden Thesen infrage gestellt, die Knappheit, Bedürftigkeit und Überlebenslogik als zentrale Kategorien benutzen, um das Handeln dieses Teils der brasilianischen Bevölkerung zu erklären. Stattdessen ziehen sie es vor, Armut als eine spezifische analytische Dimension aufzufassen (ohne sie isoliert zu betrachten), in der Holismus, Ehre und familiäre Solidarität oft weitaus wichtiger sind als materielle Ressourcen. Wir haben viele Jahre lang die Peripherie erforscht und festgestellt, dass die Realität dieser Gemeinden sehr pluralistisch ist und dass es unbedingt erforderlich ist, den wirtschaftlichen Determinismus zu überwinden und eine breitere Perspektive einzunehmen, die nicht nur durch wirtschaftliche Ressourcen und Kaufkraft oder Einkommen definiert wird, sondern auch symbolische und soziale Dimensionen wie Ethos, traditionelle Bindungen und Lebensstil berücksichtigt. Die Knappheit an materiellen Ressourcen ist kein homogenes Ganzes: Es gibt subjektives Empfinden, gruppeninterne Maßstäbe und Solidarität, die dazu beitragen, den Mangel an Geld und Armut überhaupt zu relativieren und zu überwinden. Viele Menschen, die wir kennen, betrachten sich nicht als arm, aber sie führen zweifellos einen schlichten Lebensstil und bekennen sich als dem zugehörig, was sie als "Peripherie" bezeichnen. In diesem Sinne können wir sagen, dass Armut sowohl ein relatives als auch ein relationales Konzept ist. Es gibt verschiedene Kriterien, die für Armut angewandt werden können, sei es Einkommen, Wohnungssituation, Beschäftigung, Macht, Familie, Kinder, Gesundheit, Freund*innen. Armutsforschung ist oft der methodischen Gefahr ausgesetzt, unter die Kategorie "arm" alle Mitglieder der unteren sozialen Schichten zuzuordnen. Gemessen an was oder verglichen mit wem wären sie arm? Eine kontextunabhängige bzw. -übergreifende Bemessung von Armut zeugt eher von einem subkomplexen Ansatz als von einer unbefriedigenden Lebenssituation. In der Krise, die durch die COVID-19-Pandemie in Brasilien verursacht wurde, haben Millionen Brasilianer*innen plötzlich ihr Einkommen verloren. Auch wer zuvor mit einer gewissen Würde überlebte, befand sich plötzlich im Elend. Wie wir in der Gemeinde oft hören konnten: "Ich arbeite tagsüber, um abends zu essen." Diese sehr arbeitsamen Menschen erhöhten plötzlich die bereits große Zahl derjenigen in der Gemeinde Morro da Cruz, die in Not geraten sind. Auch sie brauchten in der neuen Lage Grundnahrungsmittelkörbe. Dies löste, wie oben gesehen, eine große Kontroverse über die Bemessung von Bedürftigkeit aus. Tatsache ist, dass diese Menschen am Rande der Armut von einem Tag auf den anderen ihr Einkommen auf null abgesenkt sahen. Einige hatten ein älteres Auto, mit dem sie kleine Transporte erledigten, andere hatten einen winzigen "Tante-Emma-Laden". Sie gehören zu den am stärksten Betroffenen, da die Regierung sie, wenn überhaupt, nur langsam als Betroffene anerkannte und registrierte. Erst nach einigen Monaten konnten sie eine Nothilfe in Höhe von 600 Real (ca. 106 C) bekommen. Daher ist intensive Feldarbeit vor Ort eine Aufgabe, die die Forscher*innen nicht vernachlässigen dürfen. Situationen ändern sich blitzschnell, und man muss vor Ort sein, zuhören, verstehen, sich austauschen. Theoretische Analysen, die nur auf wirtschaftlichen Daten beruhen, sind reduktionistisch. Sie verstärken eher die Vorurteile gegenüber den Volksklassen. Im Volksmund und in der Repräsentation in den Medien werden die Peripherien vor allem als Regionen angesehen, in denen Menschen mit niedrigem Einkommen wohnen, die in engem Zusammenhang mit Drogenhandel und Kriminalität stehen. Wie zwei Seiten einer Münze sind Favela und die Armen immer noch Ausdrücke, die verwendet werden, um die Bevölkerung dieser Regionen darzustellen. Diese Stereotypen entsprechen nicht der Realität von Menschen in Gemeinden wie der von Morro da Cruz und sie verstärken darüber hinaus noch Diskriminierung und soziale Ausgrenzung. Die aktuelle Notsituation hat gezeigt, wie wichtig es ist, die Werte und Lebenseinstellungen der Menschen in der Peripherie zu verstehen. Sie zeigte aber auch die Notwendigkeit, zu lernen, ihre Bedürfnisse und Rechte zu verstehen. Wir sind der Ansicht, dass es neben der Solidarität in Notfällen jetzt dringend notwendig ist, eine Agenda mit Forderungen nach den Rechten aufzustellen, die dieser Bevölkerung als Bürger*innen zustehen und als Public Policies bereitgestellt werden müssen: In den Peripherien benötigen die Menschen aufbereitetes Trinkwasser, Strom, Gesundheitsversorgung, Zahnärzte, Transportmittel, Schulen, Kindertagesstätten, angenehme Räume für Freizeit und Erholung, Einkommen, Arbeitsmöglichkeiten. Es sind Forderungen, die dringend als öffentliche Dienstleistungen bereitgestellt werden müssen, damit zukünftige Notfälle sich weniger dramatisch und bedrohlich auswirken. Notwendig ist auch, dass andere Mitbürger*innen lernen, dass sie auch diesen Menschen Respekt und Anerkennung schulden. Nach Ende der aktuellen Notsituation hat die Gemeinde Morro da Cruz noch eine lange Agenda vor sich, um ihren legitimen Anspruch auf Solidarität und egalitäre Inklusion in der Stadt Porto Alegre zu erlangen. Und diejenigen, die nicht die gleichen Entbehrungen erleiden, stehen vor der ethischen Herausforderung, eigenes solidarisches Engagement nach ihren Möglichkeiten mit einzubringen. Etnografia de uma política pública: Controle social pela mobilização popular Latin america: anti-poverty schemes instead of social protection Participatory economic democracy in action: participatory budgeting in Porto Alegre Vozes do Bolsa Família: Autonomia, dinheiro e cidadania A familia como espelho: Um estudo sobre a moral dos pobres FaLa K É NóIs": Etnografia de um projeto de inclusão digital entre jovens de classes populares em Porto Alegre Distribuição de cestas básicas e economias locais: Entre a politica pública e a organização popular. Horizontes Antropológicos Por que renda básica Armut und Armutsfolgen in Ländern der Peripheren Moderne Subjetividade e democracia na modernidade periférica: reflexões sobre a produção e reprodução de pobreza e desigualdade social no brasil Enriquecimento do status de cidadania ou sociedade desigual e desumanizante? A disputa entre dois projetos vista na perspectiva da teoria crítica