key: cord-0889478-lx38cg75 authors: Schlee, Winfried title: Wie geht es Tinnituspatienten in der Coronapandemie? date: 2021-06-30 journal: HNO Nachr DOI: 10.1007/s00060-021-7570-2 sha: 82bdc4db0eda3587a7d2c4292bcb7a5cb626bb36 doc_id: 889478 cord_uid: lx38cg75 nan T innitus ist definiert als die Wahrnehmung von Geräuschen in Abwesenheit eines entsprechenden akustischen Reizes. Mit einer Prävalenz von ca. 10-15 % ist Tinnitus in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet. Bei etwa 1 % der Bevölkerung ist er mit emotionalem Stress, depressiven Symptomen, Angstzuständen und Schlaflosigkeit verbunden. Der wichtigste Risikofaktor für die Entwicklung von Tinnitus ist der Hör-verlust. Aufgrund des Hörverlustes kommt es zu plastischen Veränderungen im Gehirn, welche den Tinnitus auslösen können. Im Falle eines Hörverlustes versucht das zentrale Nervensystem den fehlenden auditorischen Input zu kompensieren. Dies kann dazu führen, dass die Spontanaktivität im auditorischen Kortex sowie die neuronale Synchronizität erhöht werden. Allerdings entwickelt nicht jeder Mensch mit Hörverlust einen Tinnitus -und nicht alle Tinnitusbetroffenen haben auch einen Hörverlust. Weitere Faktoren wie z. B. eine Muskelverspannungen im Nacken oder Kiefer können ebenso zur Entstehung von Tinnitus beitragen. Von einem "chronischen Tinnitus" spricht man in der Forschung, wenn der Tinnitus über mehr als sechs Monate besteht. "Chronischer Tinnitus" heißt aber nicht, dass der Betroffene seinen Tinnitus immer in gleicher Weise wahrnimmt. Der Tinnitus kann mal leiser und mal lauter sein. So konnte gezeigt werden, dass der Tinnitus häufig am Morgen lauter ist als am Abend [1] und dass emotionale Zustände oder auch stressvolle Lebensereignisse den Tinnitus modulieren [2] Im März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Covid-19-Ausbruch zur globalen Pandemie. Diese Pandemie hat das Leben von Milliarden von Menschen rund um den Globus beeinträchtigt und zu außerordentlichen Störungen der Gesundheitsversorgung, der wirtschaftlichen Aktivitäten und der sozialen Interaktionen geführt. Aufgrund der Mensch-zu-Mensch-Übertragung von SARS-CoV-2 führten die meisten Länder Maßnahmen zur Kontakt-und Ausgangsbeschränkung ein. Von diesen Maßnahmen war nicht jeder in gleicher Weise betroffen: Abhängig von dem eigenen Gesundheitszustand, der Arbeits-, Lebens-und Wohnsituation kann die Pandemie als Stressfaktor wahrgenommen werden, möglicherweise sogar eine Existenz-oder Lebensbedrohung darstellen -oder im anderen Extremfall eine Entlastung sein, welche die Option bietet, mehr Zeit mit der Familie und den eigenen Hobbys zu verbringen. Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse zu den psychologischen Auswirkungen von Quarantäne in vergangenen Epidemien und Pandemien hat gezeigt, dass Menschen, die unter Quarantäne stehen, mit höherer Wahrscheinlichkeit psychische Probleme aufweisen [5] und eine erhöhte Prävalenz psychologischer Symptome, einschließlich Angst, posttraumatischer und depressiver Symptome, zeigen. Diese Vorstellung wird durch weitere Studien bestätigt, in denen die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie unter-sucht wurden und deren Ergebnisse darauf hindeuten, dass etwa 30-50 % der untersuchten Personen unter psychischen Belastungen leiden [6, 7] . Interessanterweise verursacht die einzigartige Situation der Covid-19-Pandemie, mit einer fast vollständigen Abschaltung des öffentlichen Lebens, nicht bei allen Menschen eine Belastungssituation. Regelmäßige Umfragen zum psychischen Zustand der deutschen Bevölkerung während der Coronakrise ergaben, dass der Prozentsatz der Menschen, die sich selbst als glücklich betrachten, während der ersten Welle der Covid-19-Pandemie in Deutschland sogar anstieg [8] . Insgesamt war daher zu erwarten, dass die individuellen Berichte über die psychische Belastung in den Studienpopulationen heterogen sein würden. Denn auch der Einfluss der Covid-19-Pandemie auf das subjektive Erleben des Tinnitus kann, je nach persönlicher Situation, unterschiedlich sein. Eine solche Varianz in den individuellen Antworten wäre für die wissenschaftliche Analyse sogar von Vorteil. Im Frühjahr 2020, kurz nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie, wurden zwei empirische Studien zu den Auswirkungen der pandemischen Situation auf die Tinnitusbelastung durchgeführt: In einer internationalen Querschnittsstudie von Beukes und Kollegen [9] gleiche waren die Effekte statistisch nicht signifikant. Mit beiden Studiendesigns, der Querschnittsstudie ebenso wie der Längsschnittstudie, wurde beobachtet, dass die individuellen Verläufe des Tinnitus während der Pandemie sehr heterogen sind. Eine genauere Analyse der Faktoren, welche zu einer Verschlechterung oder Verbesserung des subjektiven Tinnitusschweregrades beitragen, ist daher von großer Bedeutung. Einige dieser Einflussfaktoren werden nachfolgend genauer betrachtet. In der Studie von Schlee et al. wurden insgesamt 37 verschiedene Aspekte abgefragt, die sich mit dem subjektiven Erleben der Pandemie befassten. Dabei wurde ein breites Spektrum möglicher Einflussfaktoren abgedeckt. Nur die Faktoren Trauer, Stress, Frustration und Nervositität zeigten einen statistisch signifikanten Zusammenhang mit der Tinnitusbelastung, welcher auch einer Korrektur für multiple Vergleiche standhielt. Die Veränderung der Tinnitusbelastung korrelierte signifikant mit den folgenden vier Fragen, die sich auf Trauer ("Ich habe ein Gefühl der Trauer"), Frustration ("Ich fühle mich frustriert"), Stress ("Ich empfinde weniger Stress als sonst", inverser Zusammenhang) und Nervosität ("Ich bin nervös") bezogen (Abb. 2). Darüber hinaus konnte in der Regensburger Studie auch gezeigt werden, dass Persönlichkeitsmerkmale mit der Tinnitusbelastung assoziiert sind [10] . In früheren Studien wurde beobachtet, dass Persönlichkeiten mit ausgeprägtem Neurotizismus häufiger über eine schwere Tinnitusbelastung klagen. So wurde die Hypothese untersucht, dass die individuellen Persönlichkeitseigenschaften auch in der Pandemie einen Einfluss auf die Veränderung des Tinni-tus nehmen. Tatsächlich konnte ein deutlicher statistischer Zusammenhang zwischen Persönlichkeitseigenschaften und der Veränderung der Tinnitusbelastung in der Pandemie gemessen werden. Menschen mit hohen Werten in Neurotizismus berichteten über einen Anstieg der Tinnitusbelastung, während hohe Werte in den Persönlichkeitsmerkmalen Extraversion, Gewissenhaftigkeit und Offenheit einen Schutzfaktor darstellen. Menschen, die sich selbst als extravertiert, gewissenhaft oder offen für neue Erfahrungen beschreiben, konnten häufiger von einer Verbesserung des Tinnitus während der Pandemie profitieren. In der Querschnittsstudie von Beukes und Kollegen [9] wurden weitere Einflussfaktoren auf die individuelle Tinnitusbelastung während der Pandemie untersucht. Die Ergebnisse werden nachfolgend aufgezählt. Insgesamt gaben 40 % der Befragten an, dass sie sich an die Maßnahmen der Kontakt-und Ausgangsbeschränkungen gehalten haben. Wurde die statistische Analyse auf diesen Personenkreis reduziert, zeigte sich ein si gnifikanter Anstieg der Tinnitusbelastung (p < 0,001). Insgesamt berichteten 58 % der Teilnehmer von Gefühlen der Einsamkeit. Der Tinnitus war signifikant störender für diejenigen, die über Einsamkeit berichteten (X 2 (15) = 1,213; p = 0,001). Dies zeigt sich in besonderer Weise auch in der Betrachtung der Covid-19-Pandemie und deren Einfluss auf den chronischen Tinnitus. In zwei voneinander unabhängigen empirischen Studien mit unterschiedlichen Forschungsdesigns hat sich übereinstimmend gezeigt, dass die Veränderungen der Tinnitusbelastung während der Pandemie heterogen ausfallen. Individuelle Einflussfaktoren sind neben der subjektiven Wahrnehmung der Pandemie auch die Persönlichkeitseigenschaft, Lebensstiländerungen, Bewegung, Ernährung, Schlafprobleme, das Empfinden von Einsamkeit und die Umsetzung der Maßnahmen zur Kontakt-und Ausgangsbeschränkung. Die Herausforderung für die Forschung der nächsten Jahre besteht darin, die individuellen Einflussfaktoren auf den Tinnitus in der wissenschaftlichen Betrachtung zu berücksichtigen und gleichzeitig allgemeine Wirkmechanismen in der Entstehung, Manifestation und Therapie des Tinnitus zu identifizieren. Does tinnitus depend on timeofday? An ecological momentary assessment study with the "TrackYourTinni tus" application Emotional states as mediators between tinnitus loudness and tinnitus dist ress in daily life: Results from the The impact of tinnitus upon cognition in adults: A systematic re view The psychological impact of quarantine and how to reduce it: rapid review of the evidence A nationwide survey of psycho logical distress among Chinese people in the COVID19 epidemic: implications and policy recommendations The psychological distress and coping styles in the early stages of the 2019 coronavirus disease (COVID19) epide mic in the general mainland Chinese popu lation: A webbased survey Die Gut gelaunten Changes in Tinnitus Experi ences During the COVID19 Pandemic The effect of environmental stressors on tinnitus: a prospective longitu dinal study on the impact of the COVID19 pandemic Development of the tin nitus handicap inventory Rapid assessment of tin nitusrelated psychological distress using the MiniTQ