key: cord-0888863-yypdv35h authors: Grenz, Tilo; Knopp, Philipp title: COVID-19, Routinedynamiken und Strukturreflexivität. Zum ereignishaften Wandel der Protestformen von Fridays for Future date: 2021-12-21 journal: OZS Osterr Z Soziol DOI: 10.1007/s11614-021-00462-z sha: 4b674e7a7df32affc43a976c9c1d07b7bf73b82b doc_id: 888863 cord_uid: yypdv35h This contribution focuses on the dis/continuity of routines at the onset of the COVID-19 pandemic. The pandemic is conceived as a nexus of multiple, intertwined crises of action and interaction (ÖZS special issue 2016, 41/1). Instead of understanding crisis as an external facticity, i.e., external cause of change, we argue that actors negotiate crisis in sociomaterial processes within historically specific contexts. Taking up the debate in organizational studies on the conception and description of intentional change, this article adds a reflection on intentional routine changes in times of crises. In methodological terms, the article connects routine dynamics with the perspective of eventful sociology. Eventful sociology emphasizes that sociomaterial negotiations of routines can unfold to more far-reaching structural changes and therefore calls for a rigorous temporal description along paths. Based on the results of a process-oriented ethnographic study of Fridays for Future Vienna, the article identifies two conditional moments (normative-discursive and material-bodily) through which structure is made reflexive. Finally, the pursued understanding of reflexivity is embedded in the debate on the (world)risk society. die Krise war keineswegs eine Möglichkeit, sich der Dringlichkeit des Alltags zu entziehen. Vielmehr gerieten die Bewegung und ihre organisationsähnlichen Kerngruppen (Ullrich 2016) aus verschiedenen Gründen unter eben diesen Zugzwang, was die Art und Weise des Routinenwandels prägte. Bestimmte, schlagartige Veränderungen der Möglichkeitsbedingungen von Routinen können diese brüchig werden lassen und Problematisierungen sowie Umgestaltungsmanöver anstoßen. Krisen stellen eine spezifische Form der Unterbrechung von Routinedynamiken dar. Sie irritieren die eingespielte Rekursivität von Handlung und Struktur und können daher als nicht-triviale und damit nicht-routinierte Störungen des Sozialen begriffen werden. Sie gehen stets mit multiplen Brüchen bisheriger Handlungsmuster einher, auf die etablierte Handlungsvollzüge nicht akzeptabel reagieren können (Antony et al. 2016, S. 7) . Bereits früh wurde in der sozialwissenschaftlichen Krisenliteratur angemerkt, dass die Krise dabei weniger in einem Mangel oder einer Leerstelle besteht, als in einer rapide ansteigenden Komplexität, die den Normalvollzug -und damit auch die Dynamik von Routinen -stört (Gramsci 1996 (Gramsci , S. 7, S. 1716 . Mit den routinierten Abläufen verlieren Akteur*innen auch die Gewissheit, welche Folgen ihr Handeln nach sich zieht und ob ihre Art und Weise des Handelns für andere akzeptabel ist. Krisen haben demnach zumindest momentane Folgen für die soziale Verhaltens-und Handlungskoordination. Dabei stellen Krisen aber gerade keine abgesetzten Reflexions-oder Wahrheitsmomente dar, sondern sorgen für Komplexitätssteigerung und Handlungsdruck bei den Betroffenen (Folkers und Lim 2014) . Aus einer Perspektive auf Norm und Normalität stellt sich die Krise als eine Abweichung dar, die dafür sorgt, dass etablierte Handlungsmuster nicht mehr zur Annäherung an kulturelle Hoch-oder Normalwerte taugen (Merton 1938) . Ohne Neuordnungen und/oder normative Neurahmungen sind sie nicht mehr einander anzunähern. Während Hochwertbegriffe, wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Verantwortung in der COVID-19-Pandemie, wie auch in anderen Krisen, eher an Konjunktur gewinnen (Link 2016) , ist es der praktische Vollzug in den verschiedensten Lebensbereichen, der in Krisenzeiten schwerer erwartbar wird, stärkerer Reflexion bedarf und wiederholte Neuausrichtung erfordert. So speisen sich auch die protestförmig vorgetragenen Bezugnahmen und Reklamationen kultureller Hochwerte (in der Corona-Krise z. B. Solidarität, Freiheit, Sicherheit) aus ebenjener Diskrepanz von Regeln und Vollzug der Routinen (siehe oben), die als Motor für Wandel operiert. Während diese komplexen materiellen wie normativen Irritationen Krisenhaftigkeit beschreibbar und erklärbar machen, wendet sich der vorliegende Beitrag zudem den Krisenreaktionen und damit den Wandlungsprozessen von Routinen zu. Konkret stehen die Protestroutinen von Fridays for Future Wien im Mittelpunkt der Betrachtung. Statt "before-after"-Beschreibungen (dazu auch Schützeichel 2015, S. 95) von etwaigen Pandemie-Effekten sollen hier die lokalen und kulturellen Dynamiken und Entwicklungsverläufe in den Fokus gerückt werden, in denen die Corona-Krise im Zeitverlauf hervorgebracht und bearbeitet wird. 1 Die prozessuale Logik des Wandels von Routinen in Krisen lässt sich methodologisch und empirisch durch ethnographische -explorativ-interpretative -Vorgehensweisen einlösen (Feldman et al. 2016, S. 507) . Ein solches Interesse reklamiert systematisch diachrone, d. h. zeitverlaufsorientierte Ansätze (siehe Abs. 2; dazu auch Bucher und Langley 2016, S. 595; Grenz 2020b ). COVID-19 entfaltet sich in konkreten Routinen eigenkulturell, 2 voraussetzungs-und folgenreich. Bis hierhin wurde beschrieben, dass Krisen Routinedynamiken unterbrechen. Offen blieb aber bisher die Frage nach der Eingriffstiefe in und den Konsequenzen der Krisen für spezifische Handlungsmuster, d. h. die gezielte Suche danach, ob, und wenn ja, in Bezug worauf und aufgrund welcher Annahmen sich Routinebrüche in bestimmten sozialen Welten vollziehen. Die eingeführte Sichtweise auf Routinen als Schnittstelle, an der Struktur und Handeln durch variierende Repetition vermittelt werden (Abs. 1), sensibilisiert nun zum einen für die zeitsensible Beschreibung jener alltagspraktischen Antworten auf Unterbrechungen von Routinedynamiken. Zum anderen macht sie es möglich, aus dem Verlauf des verstrickten, soziomateriellen (Neu-)Erhandelns von Routinen als stabil-erwartete und nun fraglich-gewordene Strukturbedingungen etablierte Routinen zu identifizieren, die von etwaigen Reparatur-, Überbrückungs-oder Umgehungsmanövern implizit oder explizit adressiert werden. Dieser aus der Forschung heraus gewonnenen These folgend, ist davon auszugehen, dass die Akteur*innen im Zuge der Corona-Krise bestimmte strukturelle Bedingungen bisherigen Handelns sichtbar und bearbeitbar machen. Mit Interesse an diesen Prozessen wird im Folgenden die eventful sociology herangezogen, deren Zentralannahme eines Strukturbruchs entlang der zuletzt genannten These methodologisch fruchtbar gemacht werden kann. Sie ist zudem eine wichtige Ergänzung für die Forschung zu Routinedynamiken, als sie der dafür erforderlichen Prozessorientierung (Bucher und Langley 2016) eine systematische, diachron bzw. zeitverlaufsorientierte Methodologie anbieten kann (zu dieser Historisierung der Forschung siehe grundlegend Sewell 2005, S. 1-21). Wiederum mit Blick auf die Forschung zu routine dynamics spiegelt sie sich in der Grundlegung von Routinen als temporale Phänomene, die Spuren hinterlassen (Feldman et al. 2016, S. 505) , sowie in den wenigen empirischen Arbeiten, die die offenen Trajektorien intentionaler Routineänderungen rekonstruieren (Bucher und Langley 2016; Grenz 2017) . Im Zentrum der eventful sociology (Sewell 1996 (Sewell , 2005 steht das Interesse an außeralltäglichen Ereignissen sowie deren Entstehung, Verlauf und Konsequenzen für grundlegenden Wandel in Kultur und Gesellschaft. Ereignisse werden dort definiert als "a ramified sequence of occurrences that [...] is recognised as notable by contemporaries, and that [...] results in a durable transformation of structures" (Sewell 2005, S. 228) . "Struktur" ist dabei die basale Grundlage von Sozialität, aber nicht etwa ein universelles, gesellschaftsweites Faktum, sondern tritt -wiederum in Anlehnung und Weiterentwicklung von Giddens' Konzept (1997; Sewell 2005, S. 205ff .) -im Plural auf, d. h., Struktur ist zunächst Struktur in bzw. für jeweils unterschiedliche soziale Welten. Strukturen sind gleichsam tiefgreifende, weitgehend vor-reflexive Prozeduren bzw. Schemata, die Handeln anleiten und dabei reproduziert werden. Struktur ist auch dort also (Sewell 2005, S. 129ff.) als notwendiger Komplementärbegriff zu Routinen angelegt, die deren (Re-)Produktion erklären. Strukturen umfassen zudem Ressourcen ("human" und "non-human", ebd.), insbesondere materiale Objekte, aber auch explizite Regelkanons, die Schemata bzw. Prozeduren ermöglichen, zugleich aber in ihrer sozialen Bedeutung von diesen bestimmt werden. Nach dieser knappen Darlegung der Grundannahmen der eventful sociology sollen im Folgenden methodologische Vorannahmen transparent gemacht werden, die der späteren Strukturierung der Fallverlaufsbeschreibung zugrunde liegen: (a) Diachronizität qua strukturierter Beschreibung: Ereignisse schlagen nicht "einfach" als externer Wirkfaktor auf die Handlungsmuster und mithin stillschweigenden Annahmen von Akteur*innen durch, sondern nehmen ihren Ausgang in -oftmals -überraschenden Irritationen (bzw. eben: Unterbrechungen) von Routinen (Sewell 2005, S. 227) . Diese werden in lokalen Aktivitäten neutralisiert, aufgefedert oder repariert (etwa im Rekurs auf andere Ressourcen). Sie können allerdings auch kontinuieren, sich kaskadenhaft aufstufen und/oder überlokal entfalten. Das macht es erforderlich, Geschehen ab einem -von Forscher*innen definierten und transparent gemachteninitial moment und über die Zeit hinweg zu dokumentieren. Dem liegt die Annahme einer grundlegenden Pfadabhängigkeit sozialer Prozesse zugrunde (Sewell 1996, S. 16) , wonach vorgängige Geschehnisse, auch Resultate und Problemlösungen verschiedener Art, prägenden Einfluss auf darauffolgende besitzen. Der Blick richtet sich so auf komplexe Verkettungen von Handlungen, Entscheidungen und Handlungskonsequenzen. Damit geht die Annahme einher, dass initiale Bedingungen des Entstehens sozialer Prozesse (etwa Routinekrisen) aus der Geschichte der Gruppe nicht eliminiert werden. Darin ist ebenso die forschungsleitende Annahme verankert, dass für aktuelle Phänomene temporale Referenzmomente bzw. -zeiträume identifiziert werden können. Die in diesem Beitrag vorgenommene Fallverlaufsdarstellung (siehe Abs. 4) orientiert sich dem folgend an den Prämissen der in der neuen historischen Soziologie ausgearbeiteten Form der erklärenden Narration, die verschiedene Daten und Interpretations(zwischen)resultate verknüpft (Griffin 1993; Grenz 2020a) . Sie beginnt entsprechend mit der Beschreibung grundlegender Aspekte der Protestroutinen von Fridays for Future, inklusive der Rahmungen, zentralen materialen Objekte und Historie der Bewegung, um sich dann den Neu-Rahmungen und Rekonfigurationen zentraler Protestroutinen in der ersten Phase der COVID-19-Pandemie zuzuwenden. (b) Ereignisse als Reflexivwerden von Struktur: Ereignisse provozieren -gleichsam mit der Zeit -die praktische und deutende Zuwendung von Akteur*innen (Sewell 2005, S. 228) , die sich mithin auf bestimmte Bedingungen des routinierten Handelns beziehen können. Damit ist jedoch kein Erkennen einer inneren Wahrheit oder eine gesteigerte Selbsterkenntnis der Akteur*innen verbunden, sondern lediglich eine verstärkte Hinwendung und Neuordnung zu Routinebedingungen. Gerade in der Diskussion zu (historischen) Weltereignissen ist herausgestellt worden, dass diese Problematisierungen durch kulturelle Eigenzeitlichkeiten gekennzeichnet sind, diese aber auch überschreiten können (Stichweh 2017, S. 558) . Ereignisse dieser Kategorie können "Weltbedeutsamkeit" erzeugen, weil sie Akteur*innen Globalität im Sinne weltweiter "Interdependenz" und "Vernetzung" (ebd., S. 552) schlagartig, eindrucksvoll und folgenreich vor Augen führen, deren komplexe Verwobenheit mit Alltagsroutinen sonst oft unterthematisiert bleiben. Im Fall von Fridays for Future erweist sich diese Blickrichtung als besonders aufschlussreich, da die Artikulation globaler Interdependenzen und Vernetzungen bereits zum Kernprogramm der Bewegung zählt und, wie in Abs. 4 gezeigt werden wird, bestimmte Neurahmungen vorgenommen werden, die der Verschränkung globaler Diskurse Rechnung tragen. Der vorliegende Beitrag zielt damit ausdrücklich nicht darauf, nachzuzeichnen, ob und inwiefern eine Gruppe von Akteur*innen einen globalen sozialen Umbruch in Gang setzt, wie etwa im Ansatz des eventful protest (Della Porta 2008). Vielmehr geht es darum, an einem konkreten Fall nachzuzeichnen, wie sich Routinekrisen eigenkulturell, voraussetzungs-und folgenreich über einen bestimmten Zeitraum entfalten und mithin zu Ereignissen (gemacht) werden. In diesem methodisch orientierten Abschnitt wird zunächst das ethnografische Studiendesign vorgestellt und kurz auf notwendige Adaptionen eingegangen, die auf die ab März 2020 unmöglich gewordene Präsenzforschung reagierten. Abschließend werden die forschungsmethodischen Konsequenzen der zuvor beschriebenen Prozessorientierung beschrieben. Unser Forschungsprojekt "Digitale Infrastrukturen der Partizipation in Wien" zielte zunächst auf die Frage, wie digitale Medien in unterschiedliche soziale und politische Engagementformen eingebunden werden. Zudem sollte erforscht werden, wie unterschiedliche Akteur*innen 3 mit den Ambivalenzen digitaler Medien -z. B. mit digitalen Ungleichheiten oder Überwachung -umgehen. In einem dritten Schritt sollten gemeinsam Vorschläge für ein partizpationsförderndes Design digitaler Medien er-arbeitet werden. Die Auswahl der Untersuchungsfelder erfolgte etwa ein dreiviertel Jahr bevor in Europa umfangreiche Anstrengungen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie unternommen wurden. Die ausgewählten Akteur*innengruppen zeichneten sich alle durch eine randständige Position aus. Fridays for Future Wien galt uns als randständig, weil bei dieser klimapolitischen Bewegung Proteste und Streiks von jungen Menschen und oft Schüler*innen organisiert werden (Sommer et al. 2020 ). Dieser Gruppe fehlt es an institutioneller Verankerung und Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen im politischen Feld. Insbesondere minderjährige Schüler*innen sind auch nicht berechtigt, an nationalen Wahlen teilzunehmen. Bis Anfang 2020 konnten Feldzugänge für eine urban-digitale Ethnografie (Lane 2018) weise der geschäftige Alltag vorüberzieht. Proteste sind also selbst eine Irritation von Routine (Rancière 1999) . Protestierende machen sich dabei verletzlich und verpflichten sich sichtbar gegenüber ihren Forderungen. Letztlich wird Protest durch die körperlichen Vollzüge der Protestroutinen performativ hergestellt und ist in dieser Dimension unplanbar (Schäfer 2018 Routinen bestehen, der in Abs. 1 angeführten Bestimmung folgend, aus -normativostentativ hervorgebrachten -Verständnissen und Regeln darüber, worum es in ihrem Vollzug geht und wie dieser gestaltet werden soll, und aus Handlungsmustern, die wiederum in Verknüpfung mit bestimmten Bedingungen stehen. Für Fridays for Future lässt sich zunächst festhalten, dass sich zu Beginn der Corona-Pandemie diese institutionalisierte Verbindung in Bezug auf die Mobilisierungs-, Koordinierungs-und Protestroutinen am Kreuzungspunkt eines als gefährlich und gefährdet modifizierten Körpers (temporär) auflöst. Das Folgegeschehen erweist sich als Verzahnung von Hinwendungen zu repräsentational-normativen Elementen routinierten Handelns, was hier als Neurahmung bezeichnet werden soll, und adaptierten performativen Elementen. So umfasste der Wandel der Routinen einerseits eine neue Rahmung des Protests, die allmählich zum Slogan Fight every crisis findet, der die Klimaproteste in der Corona-Krise prägen wird. Andererseits werden zuvor ko-präsente Aktivitäten digital mediatisiert, und der freitägliche Schulstreik erhält mit dem Onlinestreik ein neues Format. Dabei handelt es sich um Experimente und Neubildungen bestehender Protestsymboliken und -materialien, die in häusliche Umgebungen eingepasst und mittels Anleitungen in sozialen Medien verbreitet und koordiniert werden. Der vorübergehende Abschied von den Straßenprotesten erreicht beim fünften weltweiten Klimastreik am 24.04.2020 einen Höhepunkt mit einem livestream, der per Videokonferenz Fridays for Future-Aktivist*innen aus ganz Österreich sichtbar macht. Nach diesem Großevent folgte eine hinsichtlich der Corona-Schutzmaßnahmen vorsichtige -mit Blick auf die Nähe zu den politisch verantwort- (GD, 9, FFF) . Hierbei wird deutlich, dass Wandel und Beständigkeit der Routinen im Zusammenhang mit anderen alltäglichen Routinen stehen. Die Verlagerung auf diese sozialen Medien orientiert sich einerseits an bestehenden Medienroutinen junger Menschen. Andererseits werden die Aktivitäten dort gezielt ausgebaut, um die verlorenen Orte der Interaktion mit dieser Gruppe wiederaufzubauen. Zur Verbreitung der digitalen Fotografien für den Online-Streik markieren die Teilnehmer*innen die reichweitenstarken accounts von Fridays for Future, welche die Beiträge weiterverbreiten (GD, 9, FFF) . Obwohl diese Variante des Protests schnell an die Stelle des Straßenprotests tritt, werden zudem andere Aktionsformen getestet: Am 27.03.2020 findet eine Videostreik-Konferenz mit 100 Teilnehmer*innen statt. In den ersten Wochen und Monaten der Corona-Krise verändern sich die Rahmungen von Fridays for Future, indem der Fokus von den Ursachen des Klimawandels hin zur Machbarkeit seiner Bekämpfung verschoben wird. Die Corona-Krise gilt dabei als Blaupause für entschlossene politische Maßnahmen. Routinierte Protestrepertoires fließen in neue Online-Formen ein, werden neu zusammengestellt und dabei den Möglichkeiten der sozialen Medienplattformen als neuen, zentralen protest sites angepasst. Unerlässlich sind dabei die bereits für Aktivist*innen und zentrale Zielgruppen verfügbaren sozialen Medien, die eine Relevanzsteigerung erfahren. Dies betrifft das Vorhandensein von reichweitenstarken accounts und know-how, genauso wie erweiterte Darstellungskompetenzen. Diese werden durch Anleitungen vermittelt in die neuen wöchentlichen Onlinestreiks überführt. Die neuen Protestformen basieren damit auf den etablierten, die sie zugleich rekontextualisieren und neu zusammensetzen. Alte Routinen treten so in die formative Bedingungskonstellation des Engagements in der Krise ein. Die Corona-Krise ist zudem aufschlussreich, um die in den Kritiken des Krisenengagements mobilisierten Einsätze und Problemstellungen zu untersuchen, da sie zumindest in der westlichen Welt als weithin lös-bzw. heilbare Krise diskutiert wird. Sie wird vor allem als vorübergehende Unterbrechung verstanden. Für die Akteur*innen ist erwartbar, dass die Probleme, die zur Beendigung des Straßenprotests führten, zeitnah bearbeitet werden. So wird die Möglichkeit einer Rückkehr zu den alten Routinen immer präsent gehalten, etwa durch throwback-Streiks, die Szenen vergangener Streiks vergegenwärtigen. Auch entsprechende Forderungen von Teilnehmer*innen und Reden bei Online-Veranstaltungen und -protesten vergleichen online und offline und präferieren weitestgehend die alten Routinen, die als wirkmächtiger erachtet werden. Der weltweite Klimastreik am 24.04.2020 wird bereits mit den Worten beendet: "Wir sehen uns beim nächsten weltweiten Klimastreik, hoffentlich offline." (Feldprotokoll, 8, FFF) . Adaptierte Routinen werden schließlich auch dahingehend problematisiert, dass sie affektive Vergemeinschaftungsmomente bei Protesten und im Zuge der Vorbereitung von Protesten erschweren: "Das Feeling fehlt einfach, das mit den Freunden und Freundinnen zusammen die Straße blockieren [...]" (GD, 9, FFF) . Zugleich mangele es an den richtigen Infrastrukturen: "[...] es gibt ja ultraetablierte Streamplattformen, [...] da entsteht, dann auch ein Massenfeeling, [...] dass du dich fühlst, als würdest du teilnehmen, als würdest du mit irgendwelchen Leuten mitfiebern und das haben wir halt überhaupt nicht gehabt." (GD, 9, FFF) . Auch die Aktualisierung der mobilisierenden Freund*innennetzwerke erlauben die neuen digitalen Routinen nur eingeschränkt. So werden Videokonferenzen als rein zweckorientiert, dennoch ineffektiv und ermüdend erfahren (GD, 9, FFF) . In dieser Gruppendiskussion wird daraus der Schluss gezogen, dass "physische" Protestaktionen "einfacher" und "viel effizienter" sind. Auch die oben bereits angeführte Bindung von Engagement an körperliche Ko-Präsenz wird reflektiert. So boten Online-Treffen und -Proteste die Möglichkeit, neben anderen Tätigkeiten vollzogen zu werden. Sie fordern damit nicht das gleiche Maß und dieselbe Form des Engagements. In den Kritiken zeigt sich so ein weiterer Aspekt von Krisen und des damit verbundenen abrupten Wandels von Routinen. In allen Beispielen werden alte Alternativen zu den neuen Routinen erinnert und zumindest diskursiv präsent gehalten. Sie dienen als Vergleichs-oder Rechtfertigungsfolie für die je aktuelle gesellschaftliche Situation und bedingen die Auseinandersetzungen und Aushandlungen, ob die jeweiligen Aktionsformen "gute Praxis" sind und daher weitergeführt werden. (c) ostentative Erwartungen an die Dauer der Corona-Krise, die die erhandelten Routinen schließlich als Überbrückungsstrategien (bridging strategies) erkennbar werden lassen. Die Krise konstituiert damit einen symbolischen und soziomateriellen Zeit-Raum, in dem radikaler Routinewandel möglich -mithin nötig -wird. Sie erzeugt vor dem Hintergrund komplexer Verschränkungen von Temporalitäten zwar implizite und explizite "reflective" und "experimental spaces" (Bucher und Langley 2016) der Neurahmung und Umordnung von Routinen. Diese Zeit-Räume sind jedoch gerade nicht kontemplativ und dem praktischen Handlungsdruck enthoben. Daraus resultieren u. E. Folgen für die entstehenden Routinen, die von Beginn an kritisch betrachtet und immer wieder verändert werden sowie einen provisorischen Charakter als Interimsroutinen annehmen, deren Gültigkeit und Vollzug möglichst zeitlich begrenzt wird. Die Pointe dieser Interimsroutinen, die im weiteren Verlauf der Corona-Krise für die meisten Gesellschaftsmitglieder spürbar wurde, besteht nun darin, dass die begrenzte Zeitdauer dieser Routinen eine eigene rekursive Dynamik entwickelt, die zu ihrer Verstetigung und Stabilisierung führt. So wirkt die Krise in diesen Routinen oft länger als zunächst von denjenigen, die sie ausbilden, erwartet. 9 Mit der Corona-Krise erlebte die Diagnose und Gesellschaftstheorie der Risikogesellschaft einen regelrechten Aufschwung (siehe etwa Thiedeke 2020; grundlegend Beck 1986 Beck , 2007 . Hier soll abschließend allerdings nicht der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern COVID-19 global und lokal als Risiko hervorgebracht wird und welche begrenzten Berechenbarkeiten damit einhergehen. Vielmehr geht es darum, die gegenwartssoziologische Relevanz der präsentierten Einsichten und der vorgestellten Methodologie -über die Corona-Krise hinaus -auszuweisen, indem diese in die weitere Debatte zur (Welt-)Risikogesellschaft eingehängt werden. Leitend ist dabei die Doppelfigur der Reflexivität, wie sie in Abs. 4 herangezogen wurde. Reflexivität trägt zum einen der gegenwartsdiagnostischen Annahme Rechnung, dass die Bearbeitung gegenwartsgesellschaftlicher Probleme durch (Gefährdungs-)Effekte ausgelöst wird, die sich als Nebenfolgen industriegesellschaftlichen Fortschritts entpuppen. Epistemologisch gewendet tritt hier also die Figur der externen Wirkung auf -und Akteur*innen, die in der Zwangslage sind, auf der Grundlage unsicheren Wissens Entscheidungen treffen zu müssen (Beck et al. 2004; Böhle und Weihrich 2009) . Dem steht jene Reflexivitätsfigur gegenüber, die auf die Formen und Einrichtungen der institutionalisierten Dauerselbstbeobachtung der Gegenwartsgesellschaften abhebt, also auf Reflexion im Sinne der Pluralisierung und Heterogenisierung von Wissen und Wissenserwerb (Giddens 1994; Rasborg 2012) . Der risikogesellschaftlichen Metaphorik folgend, besteht das Dilemma der Entscheidungen also darin, dass sie nicht nur unter symptomatischer Unsicherheit, sondern auch in symptomatischer Weise quick, sozusagen reflex-artig erfolgen müssen (Lash 2003, S. 51). Das hier am Fall von Fridays for Future präsentierte Programm einer prozessorientierten (Corona-)Sozialforschung, das an die Forschung zu Routinedynamiken anschließt und mit der Perspektive der eventful sociology verbindet, ist eine Möglichkeit, sich der Gegenüberstellung von Reflex und Reflexion, und damit von structure und agency zu entziehen (in ähnlicher Weise siehe Bucher und Langley 2016). Stattdessen wird damit Struktur als dynamisch und plural begriffen, und Wandel (hier, im Sinne von Routinedynamiken) als ein zunächst kontingenter und soziomaterieller Prozess in den Blick gerückt, in dessen Verlauf sich Handlungsresultate und mehr oder weniger dauerhafte Lösungen einstellen. Zugleich verbindet sich mit dieser Verschiebung die Kritik an der Kritik des Krisenbegriffs. Risiken in der Risikogesellschaft sind keineswegs exzeptionell oder vorübergehend, wie dies der insofern angestaubte Begriff der Krise nahelegte (Beck 2014, S. xix) . Wie am Beispiel von Fridays for Future nachgezeichnet, ist es jedenfalls empirisch ertragreich(er), die mehr oder weniger expliziten Zeitlichkeitserwartungen zu betrachten, die die kollektive Hinwendung zu Routinen und Routinenwandel mitbestimmen. Damit adressiert dieser Beitrag schließlich die wichtige Forderung, die vielgestaltigen, in ihren Konsequenzen folgenreichen Antworten auf die Pandemie freizulegen, um sie in ebenjener Komplexität zu verstehen und dabei in ihrer je eigenkulturellen Bedeutung zu interpretieren (Teti et al. 2020) . Danksagung Für ihre Arbeit bei der Erhebung und Diskussion des Datenmaterials möchten wir unseren Mitarbeiter*innen Tereza Maletz und Peter Fikar danken Funding Der Beitrag basiert auf einem Forschungsprojekt, das mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien (MA 7) und verankert im "Digitalen Humanismus" durchgeführt wurde. Das Projekt "Digitale Infrastrukturen der Partizipation in Wien" erfolgte in Kooperation mit der Abteilung MDUR Author Contribution (optional: please review the submission guidelines from the journal whether statements are mandatory) Knopp geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht Die multiple Krise. Krisendynamiken im neoliberalen Kapitalismus Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne Weltrisikogesellschaft: Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit Foreword: risk society as political category Entgrenzung erzwingt Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung? Ungewissheit, Uneindeutigkeit, Unsicherheit -Braucht die Theorie reflexiver Modernisierung eine neue Handlungstheorie? The interplay of reflective and experimental spaces in interrupting and reorienting routine dynamics Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung Constructing grounded theory. A practical guide through qualitative analysis Reconceptualizing organizational routines as a source of flexibility and change Beyond routines as things: introduction to the special issue on routine dynamics Irrtum und Irritation: Für eine kleine Soziologie der Krise nach Foucault und Luhmann Risk, trust, reflexivity. In Reflexive modernization. Politics, tradition and aesthetics in the modern social order The constitution of society: outline of the theory of structuration Gefängnishefte. Bd. 7. Hamburg: Argument Mediatisierung als Handlungsproblem: Eine wissenssoziologische Studie zum Wandel materialer Kultur Processualizing data: variants of process-produced data Arbeitswelten der Digitalisierung: Zu den Potentialen prozessorientierter Ethnografie an einem Beispiel zur user*innen participation Narrative, event-structure analysis, and causal interpretation in historical sociology Mapping temporalities and processes with situational analysis. Methodological issues and advances Abschreckung im Konjunktiv. Macht-und Subjektivierungseffekte von Videoüberwachung auf Demonstrationen The digital street Krisen-Wörterbuch. Bangemachen gilt nicht. -(Nicht) normale Zeiten! -kultuRRevolutionäre Zeiten Temporary camps, enduring segregation. The contentious politics of Roma and migrant housing Social structure and anomie Michiel De Vydt Focus groups Towards a social theory of time Eventful protest, global conflicts. Distinktion Disagreement. Politics and philosophy (World) risk society" or "new rationalities of risk"? A critical discussion of Ulrich Beck's theory of reflexive modernity Gemeinsam interpretieren. Die Gruppeninterpretation als kommunikativer Prozess. Qualitative Sozialforschung Fluss ohne Ufer: Aggregatzustände und Ausdifferenzierung normativer Ordnungen -eine Art Essay Doing web history with the internet archive: screencast documentaries. Digital Technology Mobilisierungsprozesse von Fridays for Future Protestkultur im Diskursgewimmel Pfade, Mechanismen, Ereignisse. Zur gegenwärtigen Forschungslage in der Soziologie sozialer Prozesse Three temporalities: toward an eventful sociology Logics of history: social theory and social transformation Wer demonstriert da? Ergebnisse von Befragungen bei Großprotesten von Fridays for Future in Deutschland im März und Methods in the time of COVID-19: the vital role of qualitative inquiries Schulstreik: Geschichte einer Aktionsform und die Debatte über zivilen Ungehorsam Der stille Frühling der Soziologie: Wie die Corona-Krise Gewissheiten der Soziologie herausfordert Postdemokratische Empörung: Ein Versuch über Demokratie, soziale Bewegungen und gegenwärtige Protestforschung