key: cord-0874803-d5i4lqim authors: Jerusalem, Anna; Goldgruber, Judith; Pichler, Gerald title: Ein Bündnis von Medizin und Geisteswissenschaften — nicht nur für Demenz date: 2021-10-26 journal: Procare DOI: 10.1007/s00735-021-1394-6 sha: fca62cd0ef4c9767e08ea51af79e44c96beda16b doc_id: 874803 cord_uid: d5i4lqim Researchers from various fields of medicine, health sciences, social sciences, cultural studies, history, literature, and education seek to develop new perspectives on medicine and the humanities, thus connecting these two fields with each other. In this interdisciplinary field of research, the so-called Medical Humanities, a wide spectrum of research approaches has emerged. Among other questions, the Medical Humanities are concerned with how literature and art provide insights into human conditions and how one can gain a better and more holistic understanding of a disease, such as dementia. Specific examples of application illustrate what the Medical Humanities can contribute to science and society. dass Themen wie Krankheit und Gebrechen in literarischen Werken aufgegriffen wurden. Hinzu kommt, dass das Lesen und Schreiben von Literatur auch als Heilmethode vorgeschlagen wurde, was auf Aristoteles' Beobachtungen über die Kraft der Karthasis zurückgeht [3] . Die Medizin und die Geisteswissenschaften haben also viele Berührungspunkte und sind historisch tief miteinander verwurzelt. Als eigenständiges Fach manifestierte sich diese Beziehung schließlich in den USA in den 1960er Jahren mit der Einstellung des ersten Vollzeitprofessors für Literatur und Medizin an einer medizinischen Hochschule. Literatur wurde in der Folge zunehmend als ein wichtiges Fach in der Berufsausbildung von Ärztinnen und Ärzten und Pflegepersonen in den Vereinigten Staaten anerkannt [3] . Heute gibt es an den meisten medizinischen Fakultäten Kurse, in denen Literatur und Film verwendet werden, um die Krankheitserfahrungen von Patientinnen und Patienten und Pflegekräften zu analysieren und zu untersuchen [1] . [1] . Die Einbeziehung der Geisteswissenschaften ist also sehr nützlich und wertvoll für die Medizin ist. Die Einführung in die Welt der Kunst und Literatur fördert die Entwicklung von Beobachtungsgabe, analytischem Denken, Selbstreflexion und Empathie [2] . Literatur kann helfen, ein besseres und ganzheitliches Verständnis einer Erkrankung zu erlangen, und sie kann helfen zu entdecken, dass es neben der objektiven wissenschaftlichen Rationalität noch andere gesundheitsbezogene Erkenntnisse gibt [5, 6] . Gerade im Hinblick auf Demenz und Menschen, die mit Demenz leben, können Literatur, Film und Kunst eine wesentliche Rolle spielen, da sie dazu dienen, unsere Augen, Ohren, Köpfe und Herzen zu öffnen [6] . KRIEBERNEGG: Aktuell untersuchen wir Altersbilder und intergenerationelle Gerechtigkeit in "Climate Fiction"-Literatur, die den Klimawandel thematisiert. Ein erstes Ergebnis ist die Sichtbarkeit einer starken gesellschaftlichen Spaltung in "Jung" und "Alt" im Klimawandel-Diskurs und die Übertragung von Metaphern des Klimawandels auf die alternden Körper. Ein neues interdisziplinäres Projekt befasst sich mit Gender, Altern, Care und Migration. Ein weiteres, größeres Thema ist auch Altern und Digitalisierung. Ich bin an einem sehr großen internationalen Forschungsprojekt namens "Aging in Data" beteiligt, das an der Schnittstelle von Alternsforschung, Kommunikations-und Medienwissenschaften und kritischen Datenstudien liegt. In diesem Zusammenhang konnten wir feststellen, dass die COVID 19-Pandemie bereits bestehende altersbedingte soziale und politische Ungleichheiten und Spaltungen vergrößert hat. Generell hoffe ich, dass ich mit meiner Forschungsarbeit in unserer Gesellschaft einen Schritt in Richtung mehr intergenerationelle Solidarität bewirken kann, und dass es uns gelingt, die Ambivalenzen des Alterns besser anzunehmen, im Alter(n) auch Handlungsspielräume zu sehen und es nicht nur als Bürde und Belastung wahrzunehmen. KRIEBERNEGG: Mich interessieren gerade die spannenden Schnittstellen und "Übersetzungsprozesse" zwischen den Disziplinen. Einerseits schaffen wir mit der Age and Care Research Group Graz und auch am CIRAC Möglichkeiten und Strukturen für die interdisziplinäre Kooperation, vor allem auch in der Nachwuchsförderung. Andererseits versuchen wir schon konkret in Lehrveranstaltungen gemeinsam mit der Medizinischen Universität durch die Ansätze der Medical Humanities Fragen der Ethik, der Kunst, der Literatur, der Sprache, der Philosophie mit medizinischen Darstellungsweisen und Zugängen zu Krankheiten, Leben und Tod wieder zu verknüpfen und ein holistisches Denken zu entwickeln. Die Geisteswissenschaften und die Medizin haben sich auseinanderentwickelt und jeweils extrem spezialisiert. Dabei gingen wichtige Möglichkeiten verloren, das Menschsein, das Kranksein und das Leiden umfassend zu verstehen. Wir versuchen, Erkenntnisse beider "Welten" wieder näher zusammenzubringen, und das gelingt auch schon in kleinen Schritten. Die Studierenden der Amerikanistik haben beispielweise großes Interesse an den Aging Studies, an literarischen Krankheitsdarstellungen und an Themen wie Demenz. Als Lehrbeauftragte an der Medizinischen Universität sehe ich, dass es vor allem in der Pflegewissenschaft einige Studierende gibt, die sich sehr für Film und Literatur interessieren. Den Medizin-Studierenden muten wir damit noch viel zu, aber das Interesse der Studierenden an den Medical Humanities wächst beständig. KRIEBERNEGG: Ich bin nicht sicher, was altersspezifische Phänomene sind… aber Literatur und Film bieten uns Möglichkeitsszenarien an, die uns wichtige Einsichten über das Altern vermitteln können. In der Literatur ist schon die Phantasie der Lesenden angeregt, aber vor allem in Film-und Theater-Darstellungen werden Bilder des Alterns durch die Schauspielerinnen und Schauspieler und durch visuelle Techniken (Kameraführung, Winkel, Beleuchtung) in besonderer Weise betont. Dadurch kann es zu einem Hineinspüren und Verstehen des Anderen kommen, und das ist eine Grundvoraussetzung für eine Verbesserung von Beziehungen auf allen Ebenen -von der persönlichen bis hin zur politischen -und somit auch für gesellschaftspolitische Veränderungen im Umgang mit dem Alter(n). Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum betont, dass es darum geht zu versuchen, fiktionale Charaktere zu verstehen, und dadurch erkennen wir ihr Anderssein an. Zugleich nehmen wir aber auch ihre Ähnlichkeit mit uns selbst wahr. KRIEBERNEGG: Ich denke dabei mit ein wenig Sorge an ein nahes Familienmitglied, aber empfinde zugleich auch ein wenig Hoffnung, weil derzeit in Graz sehr viel Gutes passiert, um das Leben von Menschen mit Demenz und deren Bezugspersonen schöner und freudvoller zu machen. Ein wunderbares Beispiel ist die Theaterwissenschaftlerin Anne Basting, die mit dem Ansatz "Creative Care" in Nordamerika großartige Projekte umsetzt. Um dem Thema gut zu begegnen, müssen wir ein wenig Abstand vom rein defizitorientierten Verfallsnarrativ gewinnen und gemeinsam weiter überlegen, was es auf individueller, auf gesellschaftlicher und auf institutioneller Ebene braucht, um ein gutes Leben auch mit Demenz zu ermöglichen. Im Jahr 2012 erklärte die Weltgesundheitsorganisation Demenz zu einer Public Health Priorität [7] . Als Demenzkompetenzzentrum sehen wir einen klaren Auftrag darin, Demenz nicht nur von einer medizinischen und pflegewissenschaftlichen, sondern auch von einer soziokulturellen Perspektive zu beleuchten und dieses Wissen in unsere Arbeit miteinzubeziehen. Die Demenzforschung ist, genauso wie die Arbeit mit Menschen mit Demenz, eine vielseitige und bedarf daher der Zusammenarbeit vieler Disziplinen, um so das gesellschaftliche Verständnis und Bewusstsein für diese Krankheit zu schärfen und folglich den Umgang mit Menschen mit Demenz zu verbessern. Introduction The introduction of medical humanities in the undergraduate curriculum of Greek medical schools: challenge and necessity Why literature and medicine? Literature and medicine Literature and science: a different look inside neurodegeneration Entering a New Landscape. Dementia in Literature Dementia. A Public Health Priority eng.pdf;jsessionid=C3C5594455C547 4CBB27B7C29D9CBEFC?sequence=1 Erfahrungen der Initiatorin und Leiterin von Vergissdeinnicht, dem steirischen Netzwerk Demenzhilfe und Angehörige eines Menschen mit Demenz, Mag. Claudia Knopper Persönliche Konfrontation und die Rolle von Kunst, kreativer Literatur und Film Als Angehörige eines Menschen mit Demenz habe ich es wahrscheinlich gemacht, wie die meisten anderen -ich hab mich im Internet erkundigt. Aus heutiger Sicht sehe ich das als eines der größten Probleme, dass wir -wenn wir über Demenz reden -hauptsächlich über das Endstadium reden. Dadurch werden wir mit sehr aussichtlosen Szenarien konfrontiert, wo man als Angehöriger oder Angehörige aber auch als Betroffener oder Betroffene nur noch den Kopf in den Sand stecken möchte. Wenn man mit so einem negativen, defizitären Bild konfrontiert ist, bekommt man Angst, man verzweifelt und man versucht es letztlich zu verdrängen. Und natürlich auch mein Papa -er hat damals die Befunde zerrissen und damit war's das. Das nächste Mal wie wir zu ihm gegangen sind -da wussten wir dann schon über die Situation Bescheid -durften wir das Wort "Alzheimer" selbst nicht mehr erwähnen, sonst reagierte er sehr aggressiv. Am Land höre ich hauptsächlich Aussagen wie "der kennt ja irgendwann nicht mal mehr seine eigene Familie" , "der weiß ja nicht einmal mehr wie man isst" oder "der weiß ja gar nichts, ..." und so ist Demenz auch in den Köpfen der Menschen verankert. Das heißt auch, wenn du die Diagnose bekommst und würdest sie öffentlich machen, katapultierst du dich aus Allem raus und auch aus deinem eigenen Leben. Keiner nimmt dich mehr ernst, denn jeder wird dich dann nur mehr anschauen und sagen: "Willst du das jetzt wirklich so oder ist das die Demenz?" Das ist unerträglich. Du wirst auf eine Krankheit reduziert und die Krankheit reduziert dich auf ein Nichts. Und so wird das leider in der Gesellschaft wahrgenommen. Ich bin ja ein großer Fan von Agatha Christie und sie beschreibt diese Menschen sehr oft -aber interessanterweise war das damals ein positiveres Bild als wir es heute haben. Damals war es etwas Integriertes, etwas Selbstverständliches -man hat den Betroffenen die Würde nicht so ganz genommen. Irgendwann ist das gekippt zu diesem Endzeitszenario. Seit einiger Zeit versucht man nun gegenzurudern, aber auch oft nicht so, dass Menschen mit Demenz als ein integrativer Teil gesehen werden. In manchen neueren Filmen oder Geschichten versucht man sie zu etwas "Coolem" zu machen oder sie ein bisschen lustig darzustellen, wie z.B. im Film "Honig im Kopf". Das ist meiner Meinung nach noch immer keine gute Auseinandersetzung mit der Realität der Demenz. Der relativ neue Film "Falling", in dem ein Sohn seinen demenzkranken Vater zu sich nach Hause holt, stellt die Situation für mich so dar, wie ich das auch erlebt habe: Dass mein Vater auf einmal begonnen hat, "aufzumachen". Ich habe meinen Vater das erste Mal richtig kennengelernt, weil ihm die Krankheit die ganze Fassade und all das, was er geglaubt hat sein zu müssen, sukzessive genommen hat. Dafür habe ich den Menschen kennenlernen können, der er wirklich war. Damit kam es auch zu vielen Gesprächen und auch Auseinandersetzungen, die früher nie möglich waren. In Filmen/Geschichten etc. lässt sich aufzeigen, dass der Mensch eine Chance hat, zu sich zu finden und Sachen aufzuarbeiten. Eine solche Darstellung der Demenz mit all ihren Facetten ist möglich und wichtig. Natürlich erfordert dies gleichzeitig sehr viel Selbstreflexion und Offenheit, denn man erfährt dadurch auch viel über sich selbst. Wir können Wissensvermittlung und Aufklärung machen, aber die Kunst/Literatur kann andere Sprachen sprechen. Dinge, die für uns unaussprechbar sind, können auf kreative Weise ausgedrückt werden und die Menschen erreichen. Ich finde diesen Zugang sehr wertvoll, denn er begegnet dieser Sprachlosigkeit, die wir diesem Thema gegenüber haben. Auf diese Weise können fast alle Menschen erreicht werden. Zum "Langen Tag der Demenz", der jedes Jahr rund um den Weltalzheimer-Tag am 21. September stattfindet, boten wir ein sehr vielseitiges Programm, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Unter anderem mit einer Schaufensterlesung in der Innenstadt. Beim Schaufenster geht jeder vorbei und vielleicht bleiben zwei, drei Sätze hängen und diese können ein anderes Bild erzeugen. Das ist das was Kunst/Literatur etc. tun kann, um dieses Stigma am besten zu brechen -weil den Menschen dadurch auch die Angst vor diesem Thema genommen werden kann.