key: cord-0854700-71pgf6ad authors: Diener, Leander title: COVID-19 und seine Umwelt: Von einer Geschichte der Humanmedizin zu einer ökologischen Medizingeschichte? date: 2021-04-19 journal: NTM DOI: 10.1007/s00048-021-00299-3 sha: ee4d14b14b501ee83034097eefbb1259b9dbf10d doc_id: 854700 cord_uid: 71pgf6ad This paper is part of the Forum COVID-19: Perspectives in the Humanities and Social Sciences. The history of medicine is mostly written as a history of human medicine. COVID-19 and other zoonotic infectious diseases, however, demand a reconsideration of medical history in terms of ecology and the inclusion of non-human actors and diverse environments. This contribution discusses possible approaches for an ecological history of medicine which satisfies the needs of several current and overlapping crises. der als externe Faktoren untersucht, zum Beispiel bezüglich spezifischer klimatischer Bedingungen (Sellers ) oder beim Studium von Überlebensstrategien prekärer Organismen als innere Milieus, die feindlichen externen Milieus gegenübergestellt werden (z. B. Geroulanos & Meyers ; Heggie ). Die leitenden Körpermodelle sind entsprechend maschinelle Körper (Sarasin ; Rabinbach ) , bakteriologische Körper (Berger a) oder homöostatische Körper (Kury ; Jackson ) : Körper also, die auf einer bestimmten Konzeption der Abgeschlossenheit von Organismen basieren. Diese Körpermodelle lassen sich schließlich mit Gewinn auf bestimmte politische Agenden hin untersuchen (für den bakteriologischen Körper siehe z. B. Sarasin et al. ) . Als sich im Zuge eines weit um sich greifenden Anthropological Turn in den er und er Jahren aufregende neue Perspektiven auf geisteswissenschaftliche Themen entwickelten, wurde auch die Medizingeschichte davon erfasst (Güttler : ) . So wurde beispielsweise der traditionelle Anthropozentrismus (oder vielleicht eher: Androzentrismus) der althergebrachten Institution "Medizin" mit feministischen und postkolonialen Ansätzen hinterfragt, etwa mit dem Argument, dass die moderne Medizin auf einem bestimmten problematischen männlichen, westlichen und weißen Standardkörper beruhe. Die gleichzeitige Ökologisierung des Theorieninventars in historischen Disziplinen, das heißt das Aufkommen von situierenden und lokalisierenden Herangehensweisen, hätte durchaus den tradierten, nun kritischen Standardkörper um das Attribut "human" erweitern können. Warum dies nicht geschehen ist, soll jedoch nicht Gegenstand dieser kurzen Erörterung sein. Jedenfalls zog die Medizingeschichte anders als die Medizinanthropologie und auch die Wissenschaftsgeschichte nicht so bereitwillig mit, als es um die Integration der Natur und der Umwelt in den Untersuchungsbereich und um die entsprechende ökologische Re-Konzeptualisierung des Körpers und des Menschlichen ging: Die medizinische Umwelt wurde primär sozial gedacht. Und während sich die Medizinanthropologie und die Wissenschaftsgeschichte bereits seit Jahren mit dem diagnostizierten Zeitalter des Anthropozäns und den damit verbundenen Folgen beschäftigt, arbeitet sich die Medizingeschichte weiterhin an dem sich aus der Körpergeschichte der er Jahre ergebenden Spannungsfeld zwischen essenzialistischem Biologismus und Sozialkonstruktivismus ab.  Auf den ersten Blick scheinen Medizingeschichte und die Geschichte des Anthropozäns wenig miteinander zu tun zu haben; geht es hier um anscheinend relativ geschlossene gesellschaftliche Aushandlungsprozesse von Gesundheit und Krankheit, wird dort unter anderem das menschliche Eingreifen in die Erdgeschichte thematisiert. Wie genau die Veränderung der Umwelt medizinhistorisch aufgearbeitet werden kann und soll, ist eine offene Frage. Eine Zeitgeschichte der Medizin -und darauf läuft die Frage nach dem Anthropozän früher oder später hinaus -beschäftigt sich jedenfalls momentan eher mit anderen Faszinationsthemen: den Neurowissenschaften, hochtechnisierter Spitzenmedizin, der epidemiologischen Transition oder mit AIDS und anderen Infektionskrankheiten in einem Schnittbereich zur Medizinanthropologie. Die AIDS-Pandemie ist hier ein besonders aufschlussreiches Beispiel, zumal der HIV-Erreger relativ früh mit einer Form von Mensch-Tier-Übertragung in Verbindung gebracht wurde (Grmek : -). Ebenfalls war relativ früh klar, dass im Zentrum der Geschichtsschreibung von AIDS vor allem die soziale Konstruktion der Krankheit stand (Fee & Fox ; McKay ) . Diese historische Interpretation von AIDS war sowohl auf eine historiografische als auch eine soziopolitische Gewichtung der Zeit zurückzuführen und prägt die einschlägige Literatur bis in die Gegenwart. Der Übergang ins . Jahrhundert brachte mit einer Häufung von epidemischen Infektionskranken wie SARS und Ebola schließlich aufs Tapet, wovor vonseiten der Tierseuchenüberwachung seit Jahrzehnten gewarnt worden war. Die maßlose Landnahme und damit einhergehende Verdrängung von Wildtieren sowie die Zunahme von Jagd und Konsumation provozierte eine Häufung sogenannter Zoonosen im ausgehenden . und frühen . Jahrhundert (Hahn et al. : ) . Die COVID--Pandemie stellt lediglich das jüngste Beispiel dar, so kann man in verschiedenen Expertisen lesen; weitere zwischen Menschen und Tieren zirkulierende Viruserkrankungen werden mit großer Wahrscheinlichkeit folgen. Die drohende Gefahr von Zoonosen, aber auch die irreversible Realität von Antibiotikaresistenzen in der Landwirtschaft führte zum gesundheitspolitischen Projekt von One Health, in dem verschiedene internationale Organisationen dazu aufforderten, von der strikten Trennung in Human-und Veterinärmedizin abzusehen und der wechselseitigen Verflochtenheit der Gesundheit von Menschen und Tieren mehr Beachtung zu schenken. Das Wellcome-Trust-finanzierte historische Projekt zu One Health von Abigail Woods, Michael Bresalier, Angela Cassidy und Rachel Mason Dentinger untersuchte vor diesem Hintergrund historische Zusammenhänge, in denen Tier und Mensch enggeführt wurden (Woods et al. ) . Abgesehen von diesem dezidiert auf die Schnittmenge von Human-und Veterinärmedizin fokussierenden Projekt widmeten sich weitere historische Projekte den Kreisläufen, die Mensch und Tier verbinden. Beispielhaft ist etwa Hannah Landeckers Arbeit über den Metabolismus von nicht-menschlichen und menschlichen Akteur*innen, in dem Abfallprodukte aus der industriellen tierischen Nahrungsmittelproduktion zirkulieren (Landecker ) . Dass die Jahre  und  im Zeichen der COVID--Pandemie standen und stehen, lässt die Ausrichtung einer Medizingeschichte hinterfragen, in der Tiere höchstens peripher interessieren. Welche Agenda wird verfolgt, wenn Tierkörper und damit auch die natürliche Umwelt größtenteils ausgeklammert werden -oder vielmehr, wie müsste eine Agenda aussehen, die das nicht tut? Und wichtiger: Kann man sich das überhaupt noch leisten? Mit dieser zweiten Frage hängt eine weitere größere Aufgabe zusammen, die sich die Medizingeschichte stellen müsste: Wie findet die Medizingeschichte Anschluss an einige der brennendsten Themen des . Jahrhunderts, zum Beispiel die grundlegende Umgestaltung der Umwelt und die Klimaerwärmung? Eine Geschichtsschreibung, die einer gewissen Orientierungsleistung in der Gegenwart verschrieben ist, leistet im besten Fall einen Beitrag zur Diskussion von aktuellen Fragen anhand historischer Zusammenhänge. COVID- als Zoonose gibt den Blick frei auf eine globalisierte Menschheit, die nicht nur sozial auf der Welt, sondern auch biologisch mit der Welt verknüpft ist. Diese Interdependenzen können Angst machen, aber auch Grund zur Hoffnung geben -Hoffnung darauf, dass die Position des Menschen in der Welt wieder verhandelbar wird, was beispielsweise angesichts der Machtstellung neoliberaler Institutionen und einer verfestigten Ressourcenlogik im . Jahrhundert kaum mehr für möglich gehalten wurde. Das ökonomische Wachstumsparadigma und die Idee des freien Marktes stellten im Sommer  nicht nur die Rolle des Staates gegenüber einem überforderten Gesundheitswesen zur Debatte. Infrage gestellt wurde auch die Idee, dass sich menschliche Körper dank einem pharmaceutical-technological fix gegen alle möglichen Gefahren aus der Umwelt absichern können. Diese Situation fordert gewissermaßen eine Neuverhandlung alter Gewissheiten in der Medizingeschichte. Wie könnte also eine ökologisch gedachte Medizingeschichte aussehen? Julie Livingston schlug ganz grundsätzlich vor, Medizingeschichte als "Vorgeschichte" unserer neuen "Normalität der klimawandel-induzierten Ausnahmesituation" neu zu denken (Langstaff ) . COVID- erscheint gemäss Richard C. Keller lediglich als "Facette einer breiteren Erfahrung der spätkapitalistischen Moderne, oder des gegenwärtigen Anthropozän-Höhepunkts" (Langstaff  Eine weitere Möglichkeit könnte darin liegen, die der Medizin zugrunde liegenden Körpermodelle zu untersuchen -von menschlichen und nichtmenschlichen Körpern. Medizinische Körpermodelle und damit zusammenhängende Körperbilder sind ein zentraler Aspekt von Subjektivierung und politischer Agency. Auf diese Weise käme man schnell auf tierethische und tierrechtliche Diskussionen, aber auch auf soziale und politische Fragen: Körperbilder erlauben einen tiefgreifenden Blick auf das Selbstverständnis und die Handlungsfähigkeit von politischen Subjekten, wie etwa Philipp Sarasin anhand der "reizbaren Maschine" zeigt.  Je nach politischem Projekt muss danach gefragt werden, auf welche Weise Körperbilder Entscheidungen beeinflussen. In diesen Formen des Selbstbezugs treten immer bestimmte Verhältnisse zu "natürlichen" und "kulturellen" Umwelten zutage. Körpermodelle wie der maschinelle, der bakteriologische oder der homöostatische Körper operieren beispielsweise in ungesunden, feindlichen Umwelten. In diesem Überlebenskampf ist der Spielraum für Interventionen in die Umwelt entsprechend groß. Hier überlagern sich also anthropologische Selbstbezüglichkeiten, Umweltverhältnisse, Wissensordnungen und Handlungslogiken in einer spezifischen Art und Weise. Ausgehend von COVID- als Zoonose wäre es daher für unsere Gegenwart naheliegend, Medizin und vor allem die verhandelten Körpermodelle im Zeichen einer kritischen ökologischen Medizingeschichte zu überdenken und sich von der strikten Trennung in Organismen (menschliche Körper) und deren Umwelten (nicht-menschliche Körper und "natürliche" Umwelten) zu lösen beziehungsweise deren intrikate Verstrickungen in den Fokus zu rücken. Reflections: Environmental History in the Era of COVID-. Environmental History (): - Natural Histories of Infectious Disease: Ecological Vision in Twentieth-Century Biomedical Science Surroundings: A History of Environments and Environmentalisms Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland - Abschied vom Krieg? Latente Infektionen und neue biologische Modelle der Wirt-Parasit-Interaktionen in der Bakteriologie der Weimarer Republik. Infektion und Institution. Zur Wissenschaftsgeschichte des Robert Koch-Instituts im Nationalsozialismus. Hg. von Marion Hulverscheidt Designs for Life: Molecular Biology after World War II The Climate of History: Four Theses Standardising Infection Control: Antibiotics and Hospital Governance in Britain The Life of a Virus: Tobacco Mosaic Virus as an Experimental Model A historical and political epistemology of microbes Eine Tiergeschichte der Moderne Sulphuric Utopias. A History of Maritime Fumigation Introduction: The Contemporary Historiography of AIDS. AIDS. The Making of a Chronic Disease The Human Body in the Age of Catastrophe: Brittleness, Integration, Science, and the Great War Re-Inventing Infectious Disease: Antibiotic Resistance and Drug Development at the Bayer Company - Emerging diseases, re-emerging histories History of AIDS. Emergence and Origin of a Modern Pandemic Membranes to Molecular Machines. Active Matter and the Remaking of Life Hungry for Knowledge": Towards a Meso-History of the Environmental Sciences AIDS as a Zoonosis: Scientific and Public Health Implications Geschichte eines Hormons, - When Species Meet Higher and Colder. A History of Extreme Physiology and Exploration Tipping the Balance": Karl Friedrich Meyer, Latent Infections, and the Birth of Ideas of Disease Ecology Écrire la nature. De l'histoire sociale à la question environnementale? The Age of Stress. Science and the Search for Stability The Molecular Vision of Life: Caltech, the Rockefeller Foundation, and the Rise of the New Biology A Genealogy of Animal Diseases and Social Anthropology (-) Refiguring Life: Metaphors of Twentieth-Century Biology Lords of the Fly: Drosophila Genetics and the Experimental Life Bridging the Lacuna between Academia and Society. Animals and their Relation to Gods, Humans and Things in the Ancient World. Hg. von Raija Mattila Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout A metabolic history of manufacturing waste: food commodities and their outsides. Food, Culture & Society Pandemic Narratives and the Historian Versuch einer symmetrischen Anthropologie Lynteris, Christos (Hg.) . Framing Animals as Epidemic Villains. Histories of Non-Human Disease Vectors The Coronavirus and Climate Action. Observations (April , ) Patient Zero and the Making of the AIDS Epidemic Ecology and Infection: Studying Host-Parasite Interactions at the Interface of Biology and Medicine The Black Box of Biology. A History of the Molecular Revolution. Übers. von Matthew Cobb The Antibiotic Era: Reform, Resistance, and the Pursuit of a Rational Therapeutics The Human Motor. Energy, Fatigue and the Origins of Modernity Konfigurationen der epistemologischen und ethischen Mensch-Tier-Grenzziehung in der Humanmedizin zwischen  und  Human-Animal Studies Eine Geschichte des Körpers -. Frankfurt am Main Marianne Hänseler und Myriam Spörri (Hg.) . Bakteriologie und Moderne To Place or Not to Place: Toward an Environmental History of Modern Medicine Difference and Disease: Medicine, Race, and the Eighteenth-Century British Empire Angela Cassidy und Rachel Mason Dentinger . Animals and the Shaping of Modern Medicine. One Health and its Histories