key: cord-0852389-ilglb4ho authors: Gabrisch, Hubert title: Die prekäre alte Normalität der EU und die Notwendigkeit zur Reform date: 2021-10-23 journal: Wirtschaftsdienst DOI: 10.1007/s10273-021-3031-1 sha: 3187d0188c2844667381c76ceb62fd667c8845da doc_id: 852389 cord_uid: ilglb4ho The EU has been in crisis mode since 2008. The old normality is the big political goal, but a return to the status quo ante is not really desirable. Unfortunately, European politics has no concept for the future of the Union after the COVID-19 pandemic. This could prove to be an existential problem for the Union in its current form. The article analyses the inner context of the various crises since 2008, points out possibilities for reforming the Union’s architecture in the central fields of fiscal and monetary policy and warns against further crises and the marginalisation of the Union on a global scale. Noch richten Politik, Wissenschaft und Medien in der EU ihre volle Aufmerksamkeit auf den unvorhersehbaren Verlauf der COVID-19-Pandemie, aber die Frage nach der Zukunft der EU ist bereits aufgeworfen. Die Bekämpfung der Folgen all der Krisen seit 2008 hat zu fi skalischen und geldpolitischen Ausnahmezuständen geführt. Die Sehnsucht nach "Normalität" ist unübersehbar, denn es scheint nicht, dass die politische Führung der EU ein Konzept zur Reform der EU-Architektur besäße. Der Aufruf der EU-Kommission (2021) an die breite Öffentlichkeit vom Frühjahr 2021, Reformideen einzureichen (Future of Europe), erscheint eher hilfl os, denn ein konsistenter Entwurf ist hier kaum zu erwarten. Was bleibt, ist der bequeme Weg zurück in die Vorkrisennormalität. Dies wäre jedoch genau der falsche Weg, und die Regierungen müssen einsehen, grundlegende Reformen der EU-Architektur auch um den Preis harter Auseinandersetzungen über eine Änderung der EU-Verträge vorzunehmen. Die EU hatte nach der Gründung ihrer Währungsunion (EWU) 1999 neun "gute" Jahre. Der Euro blieb nach innen und nach außen stabil, und er begann, seine erwartete Rolle als eine internationale Reservewährung zu spielenein Hinweis auch auf die steigende politische Bedeutung der EU. Zwischen 2004 und 2007 wurden zwölf neue Länder aufgenommen, darunter zehn ehemals sozialistische Länder. Als Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) kann die EU ihr kumuliertes Stimmrecht bei diversen Abkommen (GATT, GATS, TRIPS) 1 ausüben. Die Gründung der EU erschien als gelungener Akt. Was jedoch in den nächsten 14 Jahren folgte, war eine Abfolge von Krisenepisoden, von denen jede auf ihre Art Entstehung und Schwere der nachfolgenden beeinfl usste: Bankenkrise und Große Rezession 2008 bis 2009, Eurokrise 2010 bis 2012, gefolgt von einer kleinen Rezession 2012 bis 2013, Stagnation bis 2019 und dann Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang 2020. Trotz temporärer Erholungen nach jedem Tiefpunkt zeichnet sich mittlerweile eine signifi kante Wachstumsschwäche der EU im Vergleich mit den wichtigsten Wirtschaftsräumen der Welt ab (vgl. Abbildung 1) -mit deutlichen Desintegrationstendenzen als Folge. Polen, Tschechien und Rumänien lehnen die an sich verpfl ichtende Übernahme der gemeinsamen Währung ab (Gabrisch und Kämpfe, 2013) , Großbritannien verließ die EU 2020. (Saraceno und Tamborini, 2020) . In der EWU sind diese Umschichtungen die Folge einer Konvergenz der Anlagerisiken (vor allem Wegfall des Wechselkursrisikos) und der durch die Geldpolitik der EZB hergestellten gleichen Finanzierungsbedingungen (One Size Fits All) zugunsten der EWU-Länder mit hohem Kapitalbedarf. Darüber hinaus wurde im Eurosystem eine regional hohe Kreditvergabe in Verbindung mit ebenso hohen Wirtschaftswachstums-und Infl ationsraten als Ausdruck von Konvergenz-und Aufholprozessen vermutet (unter anderem Fischer, 2007) . Auf der realwirtschaftlichen Seite gingen die Finanzströme Hand in Hand mit einer Entkoppelung der nationalen Produktivitätsentwicklung von der Lohnkostenentwicklung in Defi zit-wie auch Überschussländern. Gabrisch und Staehr (2014) fanden anhand von Kausalitätstests, dass gewachsene Nettokapitalströme die relativen Lohnstückkosten besser erklären als umgekehrt die Lohnstückkosten die Nettokapitalströme. Baldwin et al. (2015) sahen die Probleme in einer Expansion der Kreditvergabe in den späteren Krisenländern in deren institutionellem Umfeld ohne eigene Geldpolitik. Diese Erklärungen schließen ein zunächst weit verbreitetes Krisennarrativ, das darauf verweist, dass im EWU-Raum die Lohnpolitik nicht an makroökonomischer Stabilisierung orientiert war (unter anderem Flassbeck, 2007; Sinn, 2010; Lapavitsas et al., 2010; Stockhammer, 2011) , zwar nicht vollständig aus, relativieren es aber in seiner Bedeutung. Die Schockwellen der US-amerikanischen Finanzkrise ab 2007 lösten im EU-Raum eine sinkende Kreditversorgung des Bankensektors aus, der über eine Bilanzkürzung exponierte Risiken zu beseitigen suchte und dabei allgemein zu einem Ausfall von Nachfrage beitrug. Im EWU-Raum waren von den Beschränkungen der Refi nanzierung vor allem jene Mitgliedsländer betroffen, die aufgrund ihrer hohen strukturellen Leistungsbilanzdefi zite und höheren Infl ationsraten (Spanien, Portugal, Irland, Italien, Griechenland) besonders auf einen unverstellten Zugang zu den Finanzmärkten angewiesen waren. Große Rezession 2 0 0 0 2 0 0 1 2 0 0 2 2 0 0 3 2 0 0 4 2 0 0 5 2 0 0 6 2 0 0 7 2 0 0 8 2 0 0 9 2 0 1 0 2 0 1 1 2 0 1 2 2 0 1 3 2 0 1 4 2 0 1 5 2 0 1 6 2 0 1 7 2 0 1 8 2 0 1 9 2 0 2 0 2 0 2 1 2 0 2 2 nachr. EU 0,4 Abbildung 2 Öffentliche Investitionen 1 (durchschnittlich pro Jahr) insgesamt und in den Gesundheitssektor D e u t s c h l a n d I r l a n d G r i e c h e n l a n d S p a n i e n F r a n k r e i c h I t a l i e n P o r t u g a l D e u t s c h l a n d I r l a n d G r i e c h e n l a n d S p a n i e n F r a n k r e i c h I t a l i e n P o r t u g a l in % des BIP E U 1 7 D e u t s c h l a n d 2 I r l a n d G r i e c h e n l a n d S p a n i e n F r a n k r e i c h I t a l i e n P o r t u g a l Lässt man die wirtschaftspolitische Entwicklung Revue passieren, so kann der EZB bescheinigt werden, seit 2012 "geldpolitisch richtig gehandelt" zu haben (Heine und Herr, 2020, 371) . Das zentrale Problem sind die dezentralisierten, allerdings demokratisch legitimierten Fiskalpolitiken, die gegenüber der zentralisierten Geldpolitik einer unabhängigen EZB an Restriktionen gebunden sind und zu einer prozyklischen Ausrichtung neigen. Die Entstehung einer neuen Krise aus der vorhergehenden ist demnach zwar nicht ausschließlich, aber doch auch aus der Rückkehr der Fiskalpolitik zu ihren Beschränkungen nach deren temporärer Suspendierung zu erklären. Es ist wie eine Unwucht, die das EU-Fahrzeug zu einer langsamen Fahrweise zwingt. Bonatti et al. (2020, 16) identifi zieren hier ein Trilemma, in das der EWU-Raum spätestens durch die Pandemie gezogen wurde. Auf der einen Seite müsse die Integrität des Binnenmarkts gesichert werden. Auf den beiden anderen Seiten stünden die geldpolitische Orthodoxie der EZB mit ihrem einseitigen Mandat der Infl ationsbekämpfung plus des Verbots einer dauerhaften unmittelbaren Staatsfi nanzierung und die fi skalische Orthodoxie (vollständige nationale fi skalische Souveränität bei Defi zit-und Verschuldungsrestriktionen). In einer Krise könnten nur jeweils zwei der drei Ziele gehalten werden. Die Überwindung des Trilemmas wäre dann von existenzieller Bedeutung für die EU, und deshalb beschreibt es die alternativen Agenden für Reformen. Legte sich die Politik weiterhin auf die beiden Orthodoxien der Geld-und Fiskalpolitik fest, so würde die Sicherung gleicher Finanzierungsbedingungen durch die EZB und die Anwendung des präventiven und mehr noch des korrektiven Arms des Stabilitäts-und Wachstumspakts sowie des Fiskalpakts die Spannungen und Ungleichgewichte innerhalb des strukturell ungleichen EWU-Raums erneut verstärken. In einer schweren Krise könnte die Integrität des Binnenmarkts nur durch eine weitere Suspendierung der zwei Orthodoxien aufrechterhalten werden. Letztendlich könnte dann das Risiko wieder zunehmen, dass Länder doch aus der Währungs-EU ausscheiden. Mit Blick auf Griechenland wurde dieses Szenario zwischen 2010 und 2015 unter Ökonom:innen intensiv diskutiert (unter anderem Sinn, 2015) . Um dies zu verhindern, müsste zumindest eine der beiden Orthodoxien aufgegeben oder zumindest in ihrer Rigidität gemildert werden. An vorderster Stelle würde die Fiskalpolitik stehen, die hauptverantwortlich für die erwähnte Unwucht ist. Eine Liberale Demokratien ziehen einen Großteil ihrer inneren Legitimität daraus, dass sie eine ständige Verbesserung der Lebensumstände bieten müssen. In nicht kleinen Bevölkerungssegmenten der westlichen Länder, einschließlich der EU, nehmen demokratische Teilhabe und Akzeptanz individueller Rechte einen geringeren Stellenwert ein als eine ständig verbesserte Versorgung mit Konsumgütern und Wohnung. Der Aufstieg politischer Bewegungen mit autoritärer Ausrichtung in Deutschland und anderen EU-Staaten wird sich fortsetzen, wenn autoritäre oder "illiberale" Demokratiemodelle (z. B. in Polen und Ungarn) beweisen, dass sie diese Erwartungen besser erfüllen können Rebooting the Eurozone: Step 1 -agreeing a Crisis narrative Liaisons Dangereuses: Increasing Connectivity, Risk Sharing, and Systemic Risk The Euro's Savior? Assessing the ECB's Crisis Management Performance and Potential for Crisis Resolution Re-thinking the lender of last resort Necessity as the mother of invention: monetary policy after the crisis COVID-19 and the future of quantitative easing in the euro area: Three scenarios with a trilemma Reconciling Risk Sharing with Market Discipline: A Constructive Approach to Euro Area Reform Future of Europe Die geldpolitischen Maßnahmen der EZB und der Fed im Zuge der Covid-19 Pandemie An Assessment of the Trends in International Price Competitiveness among EMU Countries, Deutsche Bundesbank Euroland and the World Economy -Global Player or Global Drag? Zur Kritik der Kapitalmarktunion The New EU Countries and Euro Adoption The Euro Plus Pact: Competitiveness and External Capital Flows in the EU Countries Europäische Währungsunion: schlecht gerüstet für große Krisen A Fiscal Stabilisation Function for the Eurozone Eurozone Crisis: Beggar Thyself and Thy Neighbor Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht Misfortunes Never Come Alone: From the Financial Crisis to the Covid-19 Pandemic, CEPR COVID-Economics, Vetted and real-time papers How does quantitative easing work in a monetary EU? Rescuing Europe, CESifo Forum, 11 Special Issue Die griechische Tragödie, ifo Schnelldienst, Sonderausgabe Peripheral Europe's Debt and German Wages: The Role of Wage Policy in the Euro Area Lessons for the Age of Consequences: COVID-19 and the Macroeconomy, Institute for New Economic Thinking, Working Paper The lender of last resort and modern central banking: principles and reconstruction. Bank for International Settlement: Rethinking the lender of last resort The Eurozone crisis: A near-perfect case of mismanagement