key: cord-0851860-hrabcm19 authors: Windel, Armin; Haus-Rybicki, Sebastian title: Europäische Perspektiven auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz: Impulse für eine globaler orientierte Arbeitswissenschaft date: 2021-05-20 journal: Z Arbeitswiss DOI: 10.1007/s41449-021-00251-0 sha: 44fe4c48855506e7c50804af0ddeee980118ecdd doc_id: 851860 cord_uid: hrabcm19 In recent decades, the safety and health of workers in Europe has steadily improved, in no small part due to the implementation of the results of ergonomics research. However, European OSH systems are facing a number of challenges, which have been increasingly brought to the attention of policymakers and the public in the wake of the Covid-19 pandemic. This article examines some of these central challenges to occupational safety and health from a European perspective. It is based on a position paper prepared by the German Federal Institute for Occupational Safety and Health (BAuA) together with other European OSH institutes from the research network PEROSH on the occasion of the EU Commission’s consultation process for a new European OSH strategy. The article not only highlights the European specifics of many challenges. Rather, it also understands these challenges as strategic fields of action for ergonomics, in order to demonstrate the potential of ergonomics in the development of joint European OSH solutions—as basis for the solution of problems caused by globalisation. Das deutsche Grundgesetz schützt in Artikel 5 die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre, die sich unabhängig von staatlichen Einflüssen entwickeln können sollen. Gleichzeitig ist die Wissenschaft zunehmend gefragt, sich mit gesellschaftlich relevanten Fragestellungen zu befassen und ihre Erkenntnisse so darzustellen, dass sie in die gesellschaftliche Debatte eingebracht werden können. Angesichts der hohen Bedeutung der Arbeit in der Gesellschaft, der sich verändernden Arbeitsbedingungen und des kontinuierlichen technologischen Wandels gilt dies insbesondere für die in der Arbeitswissenschaft versammelten Fachdisziplinen. Die hohe Anwendungsorientierung der Arbeitswissenschaft ist sowohl Anspruch als auch Verantwortung, Antworten auf die komplexen Herausforderungen einer zunehmend globalisierten Welt zu finden. Dabei ist arbeitswissenschaftliche Forschung selbstverständlich international: Erkenntnisse zu den relevanten Forschungsfragen unserer Zeit finden sich natürlich nicht nur innerhalb der deutschsprachigen Wissenschaftscommunity. Aus einer solchen Perspektive hat arbeitswissenschaftliche Forschung den Auftrag, sich mit gesellschaftlichen Herausforderungen der zunehmend globalisierten Welt zu befassen, wie etwa den Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung, dem Kampf gegen Krankheiten oder der Schaffung guter Arbeitsbedingungen für alle Erwerbstätigen. Hierzu kann die Arbeitswissenschaft wissenschaftliche Fundierung und Lösungsansätze beitragen. Angesichts der weit vorangeschrittenen europäischen Integration bildet die Europäische Union, das heißt genauer ihre Institutionen, Prozesse und politischen Initiativen, einen außerordentlich wichtigen Bezugsrahmen für die Umsetzung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse. Der vorliegende Beitrag will die Arbeitswissenschaft dazu anregen, die Politik der EU, insbesondere im Bereich von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, verstärkt in den Blick zu nehmen, um hieraus Impulse für das Selbstverständnis und das eigene Forschungshandeln, aber auch eine verstärkte Internationalisierung, abzuleiten. Selbstverständlich gehen wir davon aus, dass Arbeitswissenschaftlerinnen und Arbeitswissenschaftler in der Bearbeitung konkreter Forschungsfragen immer auch international ausgerichtet sind, etwa dadurch, dass sie in englischsprachigen Journals veröffentlichen oder den wissenschaftlichen Diskurs auf internationalen Konferenzen suchen. Gleichzeitig weist ein kritischer Überblick über die Beiträge der letzten GfA-Konferenzen darauf hin, dass Forschungsfragen, die sich durch eine europäisch-vergleichende Perspektive auszeichnen und zur Lösung gemeinsamer europäischer Her-ausforderungen beitragen wollen, stärker als bislang adressiert werden könnten. Hierzu zählen auch methodische Forschungsfragen, die unterschiedliche Interventionsansätze in den Mitgliedstaaten betrachten oder auf eine vergleichende Evaluation von länderspezifischen Präventionsstrategien abzielen. Ein weiteres Instrument der EU zur Umsetzung der gemeinsamen politischen Ziele wurde mit Beginn dieses Jahres neu aufgelegt: Als Spiegel der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen verfolgt auch das Forschungsförderprogramm "Horizon Europe" das Ziel der Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. In Fortsetzung des erfolgreichen Vorgängerprogramms "Horizon 2020" werden in der zentralen Säule "Global Challenges and European Industrial Competitiveness" auch Kernthemen der Arbeitswissenschaft adressiert (z. B. in den Clustern "Digitalisierung" und "Gesundheit"). Gemeinsam mit 12 weiteren europäischen Arbeitsschutzinstituten hat die BAuA ein Positionspapier verfasst und aktiv in den Konsultationsprozess der EU für die neue Arbeitsschutzstrategie eingebracht. Das Papier wurde im Rahmen der seit 2003 bestehenden "Partnership for European Research in Occupational Safety and Health" (PEROSH) verfasst. Ihr gehören die führenden nationalen Arbeitsschutzinstitute aus derzeit 13 europäischen Ländern an. Anliegen der Partnerschaft ist unter anderem die Zusammenarbeit in Forschungs-und Entwicklungsprojekten sowie die Vertretung der Perspektive der Arbeitsschutzforschung gegenüber den europäischen Institutionen. Das PEROSH-Positionspapier zielt darauf ab, den Beitrag der angewandten Forschung zu den Herausforderungen für die Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und zum europäischen Arbeitsschutzhandeln zu unterstreichen und die Forschungsperspektive stärker als bislang zu einem Bestandteil der europäischen Arbeitsschutzstrategie zu machen (PEROSH 2020). Im neuen Forschungsrahmenprogramm "Horizon Europe" werden von der Forschung nicht nur Beiträge zur Sicherung der "technologischen Souveränität", "strategischen Autonomie" und "globalen industriellen Führerschaft" Europas erwartet, sondern auch zur einer "menschen-zentrierten und ethischen Entwicklung und Nutzung neuer Technologien". Im ersten Arbeitsprogramm 2021-22 für das Cluster "Digital, Industry and Space" spielen somit auch arbeitswissenschaftliche Perspektiven wie die Arbeitsgestaltung, die Mensch-Technik-Interaktion, Gesundheitsrisiken sowie die Produktions-und Produktsicherheit eine große Rolle. Seit einigen Jahren führen ökonomische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse weltweit zu einer größeren Vielfalt und Heterogenität in der erwerbstätigen Bevölkerung. Blickt man etwa auf die Beschäftigungsverhältnisse in Europa, so lässt sich ein Anstieg verschiedener Formen von atypischer Beschäftigung feststellen (Eurofound 2020 Sowohl in der politischen als auch in der wissenschaftlichen Debatte ist umstritten, ob es sich bei atypischen Beschäftigungsformen um prekäre Beschäftigungen handelt und ob sie zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen, beispielsweise hinsichtlich der Dauer der Befristung. Aus der Perspektive von PEROSH sollte arbeitswissenschaftliche Forschung unter Berücksichtigung der vorzufindenden Vielfalt der Arbeitsformen in Europa für die notwendige Fundierung der Debatte sorgen. Mit ihrer anwendungsorientierten Forschung könnte die Arbeitswissenschaft verstärkt zum Ziel der Ratsschlussfolgerung vom 5. Dezember 2019 beitragen -den Schutz aller Beschäftigten zu verbessern und dabei insbesondere Beschäftigte in atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu berücksichtigen (Council of the European Union 2019, S. 7). Nicht zuletzt geht es dabei auch darum, verbesserte wissenschaftliche Grundlagen vorzulegen, um die Bestimmungen des Arbeits-und Gesundheitsschutzes auch für vulnerable Beschäftigtengruppen, insbesondere in Sub-und Leiharbeitsunternehmen und für Beschäftigte aus anderen europäischen Ländern (Saisonarbeiter*innen, Leih-arbeiter*innen etc.) durchzusetzen. Arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken und Erkrankungen beeinträchtigen die physische und psychische Gesundheit der Beschäftigten und erschweren, reduzieren oder verhindern die Teilhabe am Arbeitsleben. Die noch immer hohe Verbreitung arbeitsbedingter Erkrankungen in Europa geht zum Teil mit hohen Kosten für Unternehmen und Gesellschaft einher. Besonders Muskel-Skelett-Belastungen (MSB) nehmen nach wie vor unter der den arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken eine unrühmliche Spitzenposition ein. In der Europäischen Union sind sie das häufigste Gesundheitsproblem bei der Arbeit. Ungefähr 60 % der Beschäftigten aus allen Sektoren und Berufen sind von entsprechenden Beschwerden betroffen. Zwischen den Mitgliedstaaten gibt es allerdings große Unterschiede. Während etwa aus Finnland 79 % der Befragten des 6. European Working Conditions Survey über Muskel-Skelett-Beschwerden berichten, waren es in Ungarn nur 40 % (EU-OSHA 2019). In Deutschland sind MSE die Diagnosegruppe mit dem höchsten Anteil an Arbeitsunfähigkeitstagen (BMAS und BAuA 2020, S. 135). Es ist davon auszugehen, dass der Wandel der Arbeitswelt zu einer neuen Verteilung der Risiken bei der Arbeit (z. B. aufgrund sitzender Arbeit) führt, einschließlich der Risiken, die aus kombinierten Expositionen entstehen. Vor diesem Hintergrund betonen die EU-Institutionen seit Jahren die große Bedeutung einer kontinuierlichen Präventionsarbeit (Council of the European Union 2019; EU KOM 2014). Hinsichtlich psychischer Belastungen erweist sich die Gestaltung guter Arbeit in der betrieblichen Praxis als eine komplexe Aufgabe. Aus Sicht von PEROSH gilt es gerade mit Blick auf gesichertes Gestaltungswissen Forschungslücken zu füllen (Rothe et al. 2017 ) und durch länderübergreifende Vergleiche von anderen Mitgliedstaaten zu lernen. Es bedarf zum Beispiel eines systematischen, ganzheitlichen betrieblichen Prozesses, in den die betrieblichen Akteure und Beschäftigten einbezogen werden müssen. Insbesondere hierzu kann die Arbeitswissenschaft mit ihrer breiten interdisziplinären Aufstellung verstärkt beitragen. Zur Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen sollte sich die arbeitswissenschaftliche Forschung im engen Schulterschluss mit der Arbeitsmedizin verstärkt dem Ziel widmen, die Auswirkungen des Wandels der Arbeit auf Beschäftigte zu untersuchen und Konzepte für die Primär-, Sekundär-und Tertiärprävention evidenzbasiert weiterzuentwickeln und zu erproben. Dabei gilt es verstärkt ganzheitliche Perspektiven auf die Gesundheit der Beschäftigten zu fördern und deren Nutzen zu evaluieren. Globale Lieferketten (Global Supply Chains (GSC)) sind zu einem zentralen Merkmal von Produktion und Handel in der Weltwirtschaft geworden. Im internationalen Vergleich ist die Beteiligung der EU-Länder an globalen Lieferketten besonders hoch (ILO 2016, S. 14). Während GSC zur Beschäftigung beitragen, ist die Einhaltung von Mindeststandards für menschenwürdige Arbeit, einschließlich des Arbeitsschutzes, aufgrund des hohen ökonomischen Drucks, der komplexen Strukturen und des Mangels an verbindlichen Regelungen und deren Durchsetzung oft unzureichend. Seit vielen Jahren versuchen internationale Organisationen, nationale Regierungen sowie Initiativen des privaten Sektors, diese Nachteile von GSC anzugehen. Sowohl die Vereinten Nationen als auch die ILO haben Erklärungen verabschiedet, die Leitprinzipien der Sorgfaltspflicht einführen, um Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit globalen Geschäftsaktivitäten zu verhindern (UN 2011; ILO 2017a Aus der Perspektive von PEROSH besteht Bedarf sowohl an einer soliden Datenbasis zum Arbeitsschutz in globalen Lieferketten als auch an wissenschaftsbasierten Instrumenten und deren Wirksamkeit, die die europäischen Unternehmen in ihren Bemühungen um die Einhaltung von Arbeitsschutzstandards entlang ihrer Lieferketten praktisch unterstützen. Ein Forschungsprojekt der ILO in Zusammenarbeit mit der Generaldirektion Beschäftigung der EU-Kommission zum Thema Arbeitsschutz in globalen Lieferketten der Lebensmittel-und Landwirtschaft hat wichtige Erkenntnisse erbracht, auf denen in den nächsten Jahren aufgebaut werden kann (ILO 2017b). Die mit dem Wandel der Arbeitswelt verbundenen Flexibilisierungsprozesse führen zu einer voranschreitenden Herauslösung der Arbeit aus festen räumlichen und zeitlichen Strukturen. Sie werden von einer wachsenden Anzahl von Unternehmen und Beschäftigten genutzt (Sommer 2018 Die letzten Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union und Stellungnahmen zentraler Beratungsgremien (z. B. des Senior Labour Inspectors Committee (SLIC) oder des Advisory Committee on Safety and Health at Work (ACSH)) stimmen zuversichtlich, dass die vom Forschungsnetzwerk PEROSH erläuterten und in diesem Beitrag grob skizzierten Handlungsfelder für die angewandte Forschung zur Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit Eingang in die neue Arbeitsschutzstrategie der EU-Kommission finden werden. Umso wichtiger ist das Engagement der Arbeitswissenschaft, das europäische Arbeitsschutzhandeln in den kommenden Jahren systematisch zu begleiten und mit wissenschaftlicher Expertise zu stärken. Die skizzierten Herausforderungen sind daher auch von strategischer Relevanz: Sie verdeutlichen die Potenziale einer anwendungsorientierten Arbeitsforschung über die Klärung wissenschaftlicher Detailfragen hinaus. Das aktive Einnehmen einer europäischen Perspektive durch die Arbeitswissenschaft, insbesondere durch den Anschluss an eine europäische Forschungsprogrammatik könnte damit auf gleich zweifache Weise Wirkung entfalten: Neben der Stärkung des europäischen Arbeitsschutzes entstünden auch neue Impulse für die Arbeitswissenschaft -auch für deren globalere Ausrichtung. Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL. Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de. Dresden Council of the European Union (2019) A new EU strategic framework on health and safety at work: enhancing the implementation of occupational safety and health in the EU Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions on an EU Strategic Framework on Health and Safety at Work Mitteilung der EU-Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts-und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Gestaltung der digitalen Zukunft Europas White Paper on Artificial Intelligence-A European approach to excellence and trust Study on due diligence requirements through the supply chain Foresight on new and emerging occupational safety and health risks associated with digitalisation by 2025, Publications Office of the European Union Work-related musculoskeletal disorders: prevalence, costs and demographics in the EU, Publications Office of the European Union Casual work: characteristics and implications. Publications office of the European Union Labour market change: Trends and policy approaches towards flexibilisation. Publications Office of the European Union Committee on Legal Affairs. Draft Report with recommendations to the Commission on corporate due diligence and corporate accountability Bericht zu atypischen Verträgen, gesicherten Berufslaufbahnen, Flexicurity und neuen Formen des sozialen Dialogs Report IV: Decent work in global supply chains. International Labour Conference, 105th session Tripartite declaration of principles concerning multinational enterprises and social policy Food and agriculture global value chains: drivers and constraints for occupational safety and health improvement Global Commission on the Future of Work: Work for a brighter future Public Consultation on the European Pillar of Social Rights -New EU Strategic Framework on Health and Safety at Work. Statement by individual members of the Partnership for European Research in Occupational Safety and Health Arbeiten in der digitalen Transformation -Chancen und Risiken für die menschengerechte Arbeitsgestaltung Hrsg) Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. Voneinander lernen und miteinander die Zukunft gestalten! 20 Digitalisierung und Dienstleistungen -Herausforderung für die Arbeits-schutzakteure Implementing the United Nations "Respect and Remedy" Framework