key: cord-0847267-i23yzese authors: Domurath, Irina title: Verbraucherkredit als Daseinsvorsorge? date: 2022-03-19 journal: Wirtschaftsdienst DOI: 10.1007/s10273-022-3132-5 sha: 5b3797dc605cd351244bcf379b624d232ae43ee7 doc_id: 847267 cord_uid: i23yzese The COVID-19 pandemic has shown once again that it is often the poor who suffer from economic downturn in times of crisis. As was the case in the financial crisis of 2008, we now have an opportunity to rethink the role of consumer credit in society and design and create a legal framework that adequately reflects that role. The following thought experiment hopes to give impetus to legal reforms. Dr. Irina Domurath ist Associate Professor of Law an der Universidad Central de Chile. Die COVID-19-Pandemie hat einmal mehr gezeigt: in Krisenzeiten, sind es oft die fi nanziell Schwachen, die besonders von gesamtwirtschaftlichen Einbrüchen betroffen sind. Wie schon in der Finanzkrise bietet sich jetzt eine Gelegenheit, die Rolle von Verbraucherkrediten in der heutigen Gesellschaft zu überdenken und Rechtsreformen anzustoßen, die diese Rolle angemessen widerspiegeln. Die Idee dieses Gedankenexperiments ist einfach: Verbraucherkredite sind aus der heutigen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Er ist, wie andere systemrelevante Dienstleistungen (Telekommunikation, Wasser etc.), eine Dienstleistung der Daseinsvorsorge. Diese nehmen eine gesellschaftlich und sozial zentrale Stellung ein. Daher sollte auch die Überschuldung anders behandelt werden und nicht dem "Geld hat man zu haben"-Grundsatz unterstellt werden. Der Rechtsrahmen für den Verbraucherkredit sollte die Systemrelevanz von Krediten widerspiegeln. Der Verbraucherkredit kann schon allein deswegen als systemrelevant -also: gesellschaftlich unverzichtbarangesehen werden, weil er (systemrelevanten) Konsum ermöglicht. Konsum Zuletzt ergibt sich die Systemrelevanz von Verbraucherkrediten insbesondere aus seiner Funktion im "umgebauten" Sozialstaat. Der Verbraucherkredit ist heutzutage deswegen systemrelevant, weil der Zugang zu Krediten mehr und mehr Wohlfahrtsdienstleistungen ersetzt hat. Prasad (2012; 2019) bezeichnet dies als den "credit-welfare trade-off ". Damit beschreibt sie die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte, in denen sich Wohlfahrtstaaten zunehmend von der Garantie der Wohlfahrt verabschiedet und im Gegenzug vermehrt und vereinfacht Zugang zu Verbraucherkrediten gewährt haben (auch indirekt durch die Neuregulierung der Finanzmärkte). Diese Entwicklung ist anhand der invertierten Beziehung zwischen öff entlichen Fürsorgeleistungen und dem Ausbau von Verbraucherkrediten sichtbar: in höher entwickelten Sozialstaaten ist die Nachfrage nach Verbraucherkrediten demgemäß geringer als in weniger entwickelten Sozialstaaten (Prasad, 2012) . In letzteren gibt der private Kredit Verbraucher:innen die Möglichkeit, ihren Konsum, einschließlich der Basisgüter, zu fi nanzieren. Damit werden also öff entliche Ausgaben durch private Verschuldung ersetzt (Pierson, 1994; Castles et al., 2010; Nullmeier und Kaufmann, 2010) . Kredite erlauben unter anderem den Erwerb von Verbrauchsgütern und Leistungen, die sonst vom Staat erbracht würden. Auch in Deutschland ist diese Entwicklung sichtbar: die politische Förderung von Sparverhalten erodierte, quasi-öff entliche Darlehen und Verbraucherkredite wurden verbreitet angeboten und der Sozialstaat ist in den Bereichen Rente, Bildung und Gesundheitsvorsorge weniger aktiv (Mertens, 2017) . Der deutsche Sozialstaat hat sich als "aktivierender Wohlfahrtsstaat" "restrukturiert". Dies bedeutet nichts anderes, als dass der Staat seine Funktion nicht darin sieht, Bürger:innen direkt Wohlfahrt zu sichern, sondern sie dabei zu unterstützen, sich selbst um ihre Wohlfahrt zu kümmern. Schröders Agen-Zeitgespräch da 2010 war das Paradebeispiel für diesen Umbau des Sozialstaates: Durch die sogenannte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes (die bezüglich der Möglichkeit zur befristeten Beschäftigung für über 50-Jährige vom Eu-GH für als diskriminierend und damit EU-rechtswidrig befunden wurde), die Zusammenlegung des Arbeitslosengeldes mit der Sozialhilfe (im Endeff ekt eine Kürzung des Arbeitslosengeldes), die Erhöhung des Rentenalters etc. ist Deutschland der Third Way-Politik von Blair's Labour Partei in Großbritannien gefolgt (Blair und Schröder, 1998 , Schröder, 2003 . Da also Verbraucherkredite für Wirtschaftswachstum, Geldpolitik und Sozialpolitik unentbehrlich sind, sollten sie auch als systemrelevant angesehen werden. Die Systemrelevanz des Verbraucherkredits bringt auch Banken in eine systemrelevante Stellung. Sie haben eine strukturelle Macht, weil sie Macht über Kreditkapazitäten haben: die Macht zur Kreditvergabe bedeutet auch, anderen die Möglichkeit des "Kauf-heute-bezahl-morgen" einzuräumen oder zu verwehren und damit über die Möglichkeit zu entscheiden, wer heute Kaufkraft hat, um Märkte anzukurbeln (Strange, 2015) . Diese Macht ist strukturell, weil sie in das globale System von Geldund Wertschöpfung eingebettet ist, indem kommerzielle Banken Geld durch Kreditvergabe generieren (McLeay et al., 2014) . Dieses System legt eine Struktur dar, die auf relativ stabile Art und Weise ein bestimmtes Verhalten sowohl von Banken als auch ihren Kund:innen verlangt. Dazu gehört nicht zuletzt das Verbraucherwohlverhalten, um eine gute Bonität zu erreichen. Kreditwürdigkeitsprüfungen des § 505a BGB, die Banken seit Jahrzehnten routinemäßig durchführen, haben einen maßgeblichen Einfl uss auf die (Nicht-)Gewährung von Krediten. In dem modernen wirtschaftspolitischen System, in dem der Verbraucherkredit eine wohlfahrtssichernde Funktion einnimmt, ist das Ergebnis der Bonitätsprüfung damit auch eine indirekte Entscheidung über den Zugang zu und die Verteilung von Wohlfahrt. Gleichzeitig wird Banken damit auch eine quasi-politische und -legislative Funktion zuteil. Dies ergibt sich zum einem aus der Verwendung von Standardkreditverträgen und AGB, die die Verbraucher:innen nicht verhandeln, und zum anderen aus ihrer sozialen Rolle, aus der sie die Verbraucher:innen zu bestimmten Verhalten bewegen können -wie beispielsweise durch die normativen Eff ekte von Kreditwürdigkeitsprüfungen. Ausgestattet mit quasi-öff entlicher normativer Autorität stellen Banken Regeln für Wohlverhalten in Kreditbeziehungen auf und im "credit-welfare trade-off ", damit auch für den Zugang zur Wohlfahrt. Über die Erschwinglichkeit des Verbraucherkredits als Daseinsvorsorge hinaus sollten außerdem die Möglichkeiten einer Neuverhandlung und eines Schuldenerlasses eruiert werden. Bezüglich der Neuverhandlung von Kreditkonditionen könnte eine weitere Ausnahme vom Grundsatz "pacta sunt servanda" eingeführt werden. Variationen des "rebus sic stantibus" werden insbesondere in Krisenzeiten immer wieder diskutiert (in der Finanzkrise: Domurath, 2017; für die Coronakrise: Twigg-Flesner et al., 2020) . Es wird vorgeschlagen bei social oder societal force majeure (Wilhelmsson, 1990 ) eine Neuverhandlung des Vertrages zu bewirken. Auch das European Law Institute in Wien hat 15 Grundsätze für die Coronakrise veröff entlicht, darunter zwei Grundsätze, die sich mit solchen unvorhergesehenen Umständen beschäftigen. In Deutschland könnte § 313 BGB auf Fälle angewandt werden, bei denen die Einkommensquelle aufgrund der Pandemie verloren gegangen ist. Keine Vertragspartei muss das Risiko hierfür tragen. Für die Anpassung von Kreditkonditionen spricht auch die lange Dauer von Kreditverträgen. Reifner plädiert schon seit Jahren für die rechtliche Einordnung von Kreditverträgen als Dauerschuldverhältnisse -lebenslange Verträge (Reifner, 2015; auch: Pulgar, 2014) . Die Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) hat sich auch für einen "dynamischen" Blick auf die Kreditbeziehung ausgesprochen; und spricht in einem Papier zum "produktiven Kredit" von der "produktiven Anpassung der Kreditkonditionen" (Roggemann et al., 2021 Europe: the Third Way/die Neue Mitte, Friedrich-Ebert-Stiftung, Friedrich-Ebert Foundation South Africa Working Documents, 2. Castles Consumer Vulnerability and Welfare in Mortgage Contracts Verhandlungspfl ichten bei Stö rung der Geschä ftsgrundlage: Ein Beitrag zur Dogmatik und Durchsetzung von Anpassungsanspruch und Verhandlungspfl ichten nach § 313 Abs. 1 BGB, Archiv fü r die civilistische Money creation in the modern economy Borrowing for social security? Credit, asset-based welfare and the decline of the German savings regime Post-War Welfare State Development Dismantling the Welfare State? Reagan, Thatcher, and the Politics of Retrenchment The Land of Too Much -American Abundance and the Paradox of Poverty The Trade-Off between Social Insurance and Financialization: Is There a Better Way? Life Time Contracts -Social long-term contracts in labour, tenancy and consumer credit law Thesen zur Dogmatik eines sozialen Nutzungsvertrages (Life-Time Contract) Gutachten zum produktiven Kredit Regierungserklärung, 14. März 2003, Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll, 15/32 States and Markets Renaissance der Lehre von der Neuverhandlungspfl icht bei § 313 BGB?, JuristenZeitung (JZ) Consumer Law and Policy Relating to Change of Circumstances Due to the COVID-19 Pandemic Social force majeure -a new concept in Nordic Consumer Law