key: cord-0840370-2as32qjs authors: Butterwegge, Carolin; Butterwegge, Christoph title: Abschied vom Recht auf Bildung?: Bildungsbenachteiligung von Kindern durch Schulschließungen während der Covid-19-Pandemie date: 2022-03-29 journal: Sozial Extra DOI: 10.1007/s12054-022-00465-4 sha: ff4b3d7a6963e70844462f4eddbee2da22b8edfa doc_id: 840370 cord_uid: 2as32qjs Schulschließungen während der Covid-19-Pandemie haben nicht bloß zu Lernrückständen bei vielen Kindern und Jugendlichen geführt. Vielmehr wuchs auch die in der Bundesrepublik aufgrund der wachsenden sozialen Ungleichheit die ohnehin stark ausgeprägte Bildungsungleichheit. Hauptleidtragende der monatelangen Kita- und Schulschließungen waren Kinder aus einkommensschwachen Familien. L aut einer Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung waren die Schulen hierzulande im ersten Lockdown vom 23. März 2020 bis zum 5. Mai 2020 an insgesamt 44 Tagen weitgehend geschlossen. Anschließend erfolgte zwar eine partielle Öffnung der Schulen, in mehreren Bundesländern blieben die Sekundarstufen aber noch länger zu. Teilweise gab es bis zu den Sommerferien nur Wechselunterricht. Durchschnittlich waren die Schulen bis zu den Sommerferien an 59 Tagen partiell geschlossen. Insgesamt fand zwischen eineinhalb und drei Monaten für die meisten Kinder überhaupt kein Präsenzunterricht statt (vgl. Bujard et al. 2021, S. 8) . Während des zweiten Lockdowns im Winter 2020/21, der als kurzer "Wellenbrecher" begann, aber mehrfach verlängert und verschärft wurde, blieben die Schulen an insgesamt 61 Tagen fast vollständig zu. Anschließend wurde der Präsenzschulbetrieb insbesondere für Grundschulkinder zum Teil wieder aufgenommen, wobei es im Sekundarschulbereich erhebliche Unterschiede von einem Bundesland zum anderen gab. Bis zum 7. Juni 2021 erfolgten partielle Schulschließungen an 112 Ta Beobachter_innen überraschte die große, mit einer strukturellen Bildungs-und Teilhabeungerechtigkeit verbundene Heterogenität der schulischen Betreuung (vgl. Christiansen und Steinmayr 2020, S. 60). Da gab es Schulen mit einer überwiegend soziökonomisch benachteiligten Schülerschaft in herausfordernden Lagen, in denen manch eine Lehrkraft wegen vermuteter Ausstattungsmängel der Elternhäuser und/oder von in der Schulkultur verbreiteter Defizitorientierungen im Hinblick auf digitale Kompetenzen der Schüler_innen einen Fernunterricht für ihre mehrheitlich benachteiligten Schüler_innen anfangs gar nicht erst in Betracht gezogen hat. Andere Lehrkräfte stießen schnell an ihre Grenzen, wenn es im Lockdown darum ging, überhaupt Kontakt zu allen Schüler_innen bzw. ihren Elternhäusern herzustellen und aufrechtzuerhalten. Der postalische Versand oder Bring-und Abholdienste von Arbeitsblättern am Wochenbeginn ersetzten weder Rückmeldungen zur Aufgabenbearbeitung noch den sozialen Austausch von Lehrkräften mit Schüler_innen, etwa über das kindliche Wohlbefinden oder dessen Gefährdung. Mehrheitlich bekamen die (älteren) Schüler_innen nach den üblichen Startschwierigkeiten durchaus einen gut organisierten Online-Distanzunterricht angeboten, mit dem sie gut zurechtkamen und sogar Lernfortschritte machten. Im ersten Lockdown war der Mangel an digitalen Endgeräten eines der Hauptprobleme von Schüler_ innen. Auch mussten sich die Schulen mitsamt ihren Lehrkräften erst auf den Distanzunterricht einstellen und ihn organisieren lernen, während digitale und datenschutzkonforme Schulplattformen vielerorts noch nicht etabliert waren. Die üblichen Bildungsangebote trotz geschlossener Schulen aufrechtzuhalten, gelang sehr unterschiedlich und war stark vom Alter der Lerngruppen, ihren Mediennutzungskompetenzen und der sozioökonomischen Lage ihrer Elternhäuser abhängig: Grundschulkinder ohne gefestigte Lese-und Schreibkompetenzen im Distanzunterricht zu motivieren und "mitzunehmen", erwies sich für Lehrkräfte als am schwierigsten. Daher erhoben Grundschulen neben Abschlussklassen zuerst den Ruf nach Wiederöffnung. Insbesondere an weiterführenden Schulen mit vielen in beengten Wohnverhältnissen lebenden Jugendlichen ohne digitale Endgeräte, Drucker und WLAN sowie mit Eltern, die sich mit der von ihnen erwarteten schulischen Unterstützung ihrer Kinder überfordert sahen, verloren die Lehrkräfte den Kontakt zu nicht wenigen Schüler_innen mit der Folge, dass für diese schlicht und einfach kein Unterricht mehr stattfand. Zwar verfügten die meisten Schüler_innen im zweiten Lockdown aufgrund der inzwischen erfolgten Beschaffung von Tablets und anderen Endgeräten durch Bund, Länder und Kommunen zumindest über ein digitales (Leih-)Endgerät, aber auch dieses Problem war keineswegs endgültig gelöst: Gerade Schulen mit einer benachteiligten Schülerschaft standen vor großen Herausforderungen und konnten nicht alle Schüler_innen bedarfsgerecht mit Endgeräten ausstatten, sodass man weiterhin von Schüler_innen hörte, die allenfalls mit einem Handy auf digitale Unterrichtsangebote und Materialien zurückgreifen konnten. Es gibt Hinweise, dass solche digitalen Ausstattungsmängel besonders auf die (in Sammelunterkünften lebenden) Kinder aus Internationalen oder Vorbereitungsklassen sowie auf Kinder zutrafen, an denen eine diesbezügliche Bedarfsabfrage von Schulen zum Beispiel aufgrund von bestehenden Sprachbarrieren oder von misslungener Kommunikation mit dem Elternhaus vorbeilief. Selbst der postalische Versand von Arbeitsblättern wurde offenbar notgedrungen weiter praktiziert. Auch sind manche Schulen immer noch nicht an ein stabiles WLAN angeschlossen. Trotz eines Digitalisierungsschubs war die Form des Hybridunterrichts mit geteilten Klassen selbst im zweiten Jahr der Pandemie in den wenigsten Schulen durchführbar. Während des mehrfach unterbrochenen, länger andauernden und erst im April 2021 von der "Bundesnotbremse" abgelösten Lockdowns mussten Kinder und Jugendliche erneut ausbaden, was die politisch Verantwortlichen an Vorsorgemaßnahmen in Kitas und Schulen versäumt hatten. In den höheren Jahrgangsstufen vor allem der Gymnasien gingen die wochenlangen Schulschließungen größtenteils mit einer überstürzten Digitalisierung des Unterrichts (Homeschooling und E-Learning) einher, wodurch sich die Benachteiligung von Kindern aus finanzschwachen Familien im Bildungsbereich verstärkt hat. Denn nicht immer waren die Ausstattungsmängel in Bezug auf Technik im eigenen Haushalt befriedigend gelöst, was nötig gewesen wäre, um nicht ins Hintertreffen gegenüber materiell bessergestellten Klassenkamerad_ innen zu geraten. In einer digitalen Zweiklassengesellschaft scheitern zwangsläufig jene Kinder, die gar keinen oder nur ei-nen beschränkten Zugang zum schnellen Internet, zu einem Computer und einem Drucker haben. Wenn sie von sämtlichen Online-Angeboten im Bildungs-und Kulturbereich wie auch von den Gruppenchats ihrer Peergroup ausgeschlossen waren, fühlten sich die Betroffenen wie "Kinder zweiter Klasse", die einfach nicht dazugehören. Eine (erfolgreiche) Teilhabe am Distanz-, Hybrid-und Wechselunterricht setzte nicht bloß einen Internetanschluss, die Ausstattung mit geeigneten Endgeräten und die Fähigkeit zu selbstständigem Lernen, sondern auch Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien voraus. Schon vor der Pandemie waren die computer-und informationsbasierten Kompetenzen der Schü-ler_innen in Deutschland im internationalen Vergleich mittelmäßig sowie die Ausstattung mit mobilen Endgeräten, der Zugang zu WLAN in der Schule und die Verfügbarkeit von Lernmanagementsystemen, aber auch die Teilnahme von Lehrkräften an Fortbildungsveranstaltungen zu diesem Kompetenzbereich sogar unterdurchschnittlich. Zugleich deutet sich eine Verstärkung der sozialen Ungleichheit durch eine Ungleichverteilung der digitalen Kompetenzen zwischen Schüler_innen verschiedener Schulformen und nach der sozialen Herkunft an. Laut der International Computer and Information Literacy Study (ICILS), einer international vergleichenden Schulleistungsstudie, lagen die mittleren Kompetenzwerte, die Gymnasiast_innen erreichten, deutlich vor jenen der Achtklässler_innen anderer Schulformen der Sekundarstufe I (vgl. Eickelmann et al. 2019, S. 13 ff.) . Für das Erreichen nur der ersten und/oder zweiten von fünf Kompetenzstufen erwies sich das an der Zahl der Bücher im heimischen Haushalt gemessene "kulturelle Kapital" der Familie als besonders einflussreich: 43,1 % der Achtklässler/innen aus Familien mit niedrigem, aber bloß 18,8 % der Achtklässler/innen aus Familien mit hohem kulturellen Kapital verfügten über geringe rudimentäre bzw. basale Kompetenzen (vgl. Senkbeil et al. 2019, S. 314 Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona-Pandemie. Wiesbaden: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung Kinder und Jugendliche während der Corona-Krise. Belastung sozialer Beziehungen sowie Verschärfung der Teilhabeungerechtigkeit Die Studie ICILS 2018 im Überblick. Zentrale Ergebnisse und mögliche Entwicklungsperspektiven Die Katastrophe der digitalen Bildung. Warum Tablets Schüler nicht klüger machen -und Menschen die besseren Lehrer sind Die Lüge der digitalen Bildung Schule und Unterricht im angepassten Regelbetrieb. Analyse und Reflexion Corona-bedingter (Teil-) Schließungen von Schulen anhand der COSMO-Befragung in NRW Soziale Herkunft und computer-und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich