key: cord-0822938-m0a763bn authors: Hagenkort-Rieger, Susanne title: Wird die „wahre“ Inflationsrate gemessen? Praxis der Inflationsmessung vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie date: 2020-11-20 journal: Wirtschaftsdienst DOI: 10.1007/s10273-020-2780-6 sha: 95117de5bb5e87b9b3b1a92a1d9f2ebdc6cfd718 doc_id: 822938 cord_uid: m0a763bn nan Harmonisierte Verbraucherpreisindizes werden von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union anhand der Rahmenverordnung (EU) 2016/792 sowie der in der ergänzenden Durchführungsverordnung (EU) 2020/1148 beschriebenen harmonisierten Methodik erstellt. So können Verbraucherpreisindizes zwischen den Ländern methodisch sauber direkt verglichen und aggregiert werden. Ziel ist es, eine qualitativ hochwertige und vergleichbare Messgröße für die Entwicklung der Verbraucherpreise im Euroraum bereitzustellen. Das Statistische Bundesamt berechnet, wie andere nationale Statistikämter der Europäischen Union auch, zwei Verbraucherpreisindizes, den HVPI und den nationalen Verbraucherpreisindex (VPI). Der VPI wird als Maßstab für die allgemeine Teuerung in Deutschland genutzt, darüber hinaus dient er vor allem der Wertsicherung langfristiger Zahlungsvereinbarungen, wie etwa Miet-oder Unterhaltszahlungen. Die verschiedenen Fragestellungen -bleibt die Kaufkraft des Euro mittelfristig stabil bzw. behalten langfristig vereinbarte Zahlungen ihren Wert -rechtfertigen eine unterschiedliche Methodik für den HVPI und den VPI, jeweils mit Susanne Hagenkort-Rieger Wird die "wahre" Infl ationsrate gemessen? Praxis der Infl ationsmessung vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie DOI: 10.1007 DOI: 10. /s10273-020-2780 Susanne Hagenkort-Rieger, Dipl.-Volkswirtin, ist Leiterin der Gruppe "Preise" im Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. "Zahlen lügen nicht" oder "Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken" 1 -das ist die Bandbreite, der man begegnet, wenn man sich dem Verhältnis von Statistik und Wahrheit populistisch nähert. Tatsächlich gilt: Gute Statistik ist die bestmögliche Annäherung an die Wahrheit bzw. Realität. Qualitativ hochwertige Statistiken beruhen auf Methoden, die das Ziel haben, die Realität zu treffen. Die Abbildung der Realität in einer einzigen Zahl ist dabei mitunter äußerst komplex. Welcher Ausschnitt aus der Realität in einer Statistik besonders gut quantitativ erfasst werden soll, richtet sich an der wirtschafts-, sozial-oder umweltpolitischen Fragestellung aus, die mit der Statistik beantwortet werden soll. Die Fragestellung hat also einen maßgeblichen Einfl uss auf die Wahl der Statistikmethode und insofern -aber nur insofern -auch auf das Ergebnis. In der amtlichen Statistik hat die Qualität statistischer Daten seit jeher eine große Bedeutung. Gemäß dem Verhaltenskodex für europäische Statistiken (Eurostat, 2018) müssen amtliche Statistiken 15 Grundsätzen entsprechen, darunter die Verpfl ichtung zu Qualität, zu der neben anderen Dimensionen auch Genauigkeit und Zuverlässigkeit zählen. So heißt es im Verhaltenskodex: "Die europäischen Statistiken spiegeln die Realität genau und zuverlässig wider." Dabei soll ein einmal erreichtes Qualitätsniveau weiterhin gewährleistet, darüber hinaus ausgebaut und für Nutzer*innen transparent öffentlich gemacht werden. Mitten in einer Krise -wie der beispiellosen Covid-19-Krise mit gewaltigen Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft -werden qualitativ hochwertige Statistiken zu Recht mit äußerster Dringlichkeit ge-Zeitgespräch oder quantitativen Änderungen unbeeinfl usste -also "reine" -Preisveränderung der Produkte messen. Dies ist so lange unproblematisch, wie das beobachtete Gut inklusive aller Verkaufsbedingungen unverändert bleibt. Es kann aber vorkommen, dass ein Gut, dessen Preis längere Zeit beobachtet wurde, nicht mehr in die Preiserhebung einbezogen werden kann oder soll. Dies ist der Fall, wenn das ältere Modell nicht mehr erhältlich ist oder es spürbar an Marktbedeutung verloren hat. Dann muss der Preis eines aktuellen Modells mit dem des ausgeschiedenen Modells verglichen werden. Solche Modellwechsel können ebenso wie Änderungen von Packungsgrößen oder Vertragskonditionen mit Qualitätsänderungen einhergehen. In diesen Fällen wird der durch die Qualitätsunterschiede hervorgerufene Preisunterschied quantifi ziert und bei der Indexermittlung herausgerechnet. Ohne eine solche Qualitätsbereinigung würden sich Verbesserungen oder Verschlechterungen der Güterqualität in den Preisindizes voll niederschlagen. Damit wäre eine sinnvolle Interpretation der gemessenen Preisentwicklung erschwert. Durch unterschiedliche im europäischen statistischen System anerkannte Qualitätsbereinigungsverfahren wird somit gewährleistet, dass trotz Produktänderungen bei der Preismessung "Gleiches mit Gleichem" verglichen wird und somit Preisänderungen als "reine" Preisentwicklung interpretiert werden können. Lautet die Fragestellung, ob einkommensschwächere Haushalte stärker von Infl ation betroffen sind, so müssten nur solche Preise für Waren und Dienstleistungen beobachtet werden, die diese Haushalte im Schnitt kaufen. Zudem müsste die Wägung der Güter entsprechend angepasst werden. Geht es beispielsweise ganz konkret darum festzustellen, ob die Zahlungen an Hartz-IV-Berechtigte im Zeitverlauf ihre Kaufkraft behalten, so ist es statistisch adäquat, einen Preisindex zu ermitteln, der nur existenznotwendige Güter enthält und nicht alle Güter, die private Haushalte in Deutschland zum Zwecke des Verbrauchs erwerben. Daher berechnet das Statistische Bundesamt neben HVPI und VPI auch einen speziellen "regelbedarfsrelevanten Preisindex" im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) (Elbel, G. und C. Wolz, 2012) . Für diesen Index bilden die gesetzlich festgelegten, als regelbedarfsrelevant erachteten Ausgabepositionen die Grundlage. Das BMAS legt diese regelbedarfsrelevanten Positionen auf Basis einer Sonderauswertung der jeweils aktuellen Einkommens-und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamts fest. 2 Gelegentlich steht die in der amtlichen Preisstatistik angewandte Qualitätsbereinigung -als Ganzes oder einzelne Verfahren -in der Kritik. Was ist der Hintergrund von Qualitätsbereinigungen? Ein Preisindex soll eine von qualitativen Zeitgespräch Gründe: Preisschwankungen von Vermögenswerten -etwa die Verteuerung von Aktien -haben keinen unmittelbaren Einfl uss auf die Kaufkraft des Euro für die Lebenshaltung. Würde man dennoch die steigenden Aktienkurse im VPI berücksichtigen, wäre die Aussagekraft des VPI für die Ziele der Wirtschafts-und Geldpolitik eingeschränkt bis unbrauchbar. Im Zuge der Anpassung von Mietzahlungen würden sich die Schwankungen der Aktienkurse dann beispielsweise über die im VPI mit hohem Wägungsanteil enthaltenen Mieten "doppelt" in der Preisentwicklung auswirken: Steigt der VPI schneller an, werden auch indexgebundene Mieten in kürzeren Abständen angehoben, was wiederum erhöhend auf den Verbraucherpreisindex wirkt. Ob es sich beim Kauf einer Immobilie teilweise um eine Konsumausgabe oder vollständig um eine Investition handelt, wird seit einiger Zeit methodisch kontrovers diskutiert. Der europäisch bestimmte HVPI deckt nur Konsumausgaben der privaten Haushalte ab, und aus Sicht der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen gehört der reine Erwerb von Wohnraum nicht zu den Konsumausgaben der privaten Haushalte. Tatsächlich wird seit der von EZB-Chefi n Christine Lagarde initiierten Überprüfung der geldpolitischen Strategie der EZB diskutiert, ob der konsumtive Anteil einer selbstgenutzten Immobilie im HVPI berücksichtigt werden müsste und wie dies methodisch erfolgen könnte. Was das selbstgenutzte Wohneigentum angeht, unterscheiden sich die Erfassungsbereiche von VPI und HVPI: Während der HVPI Ausgaben für selbstgenutztes Wohneigentum nicht berücksichtigt, wird im nationalen VPI selbstgenutztes Wohneigentum über den sogenannten Mietäquivalenz-Ansatz abgebildet. Dabei wird unterstellt, dass sich die Kosten für das Wohnen in den eigenen vier Wänden entsprechend der Preisentwicklung für Mietwohnungen und -häuser entwickeln. Dies ist in einem Land wie Deutschland -einem ausgesprochenen Mieterland (die Mieterquote beträgt knapp 54%) 6 -eine statistisch vertretbare Methode. In anderen europäischen Staaten wohnen die Menschen häufiger in den eigenen vier Wänden. In diesen Ländern gibt es nicht genügend Mieten in der Preisbeobachtung, sodass hier eine einfache methodische Übertragung des deutschen Mietäquivalenz-Ansatzes nicht umsetzbar ist. In den USA, einem ebenfalls durch Eigentum geprägten Land, wird allerdings der Mietäquivalenz-Ansatz angewendet, indem die Bewohner*innen des selbstgenutzten Wohneigentums nach einer fi ktiven Miete für das selbstgenutzte Wohneigentum gefragt werden. die in die Berechnung preiserhöhend einfl ießen. Überhaupt wird der hedonischen Qualitätsbereinigung oft eine nicht gerechtfertigte Bedeutung zugeschrieben: Die in den Medien gelegentlich zu fi ndende Bezeichnung "hedonischer Preisindex" suggeriert, dass die hedonische Methode das einzige Qualitätsbereinigungsverfahren ist, das die amtliche Statistik verwendet. In der preisstatistischen Praxis ist es dagegen so, dass derzeit im Verbraucherpreisindex eine ganze Reihe von Qualitätsbereinigungsverfahren eingesetzt und nur einige ausgewählte Güter -wie PCs, Smartphones und Drucker -hedonisch qualitätsbereinigt werden. Alle hedonisch bereinigten Waren besitzen derzeit zusammengenommen einen Wägungsanteil von 1,4 % im VPI-Warenkorb. Auch die Infl ationsmessung während des ersten coronabedingten Lockdowns im Frühling 2020 war eine methodische und organisatorische Herausforderung (Mai und Kretzschmar, 2020 Zusammenhang der von Hans Wolfgang Brachinger (2005) entwickelte "Index der wahrgenommenen Infl ation (IWI)". Ziel des Index war, das Ausmaß zu quantifi zieren, in dem ein repräsentativer Haushalt nach seiner subjektiven Wahrnehmung bei seinen täglichen Einkäufen von der Infl ation betroffen ist. Einen wissenschaftlichen Erklärungsansatz lieferte Brachinger mit der sogenannten Prospect Theory von Kahnemann und Tversky (1979 , Brachinger, 2005 Die Vorstellung von der Wahrheit bzw. Realität, die einfach nur darauf wartet, ,,richtig" quantitativ erfasst zu werden, wird der Komplexität der wirtschafts-, sozial-und umweltpolitischen Fragestellungen nicht gerecht. Eine einzige Infl ationsrate, die für jedes Individuum "wahr" ist und auch von diesem als wahr empfunden wird, gibt es nicht. Zwar bietet das Statistische Bundesamt mit dem persönlichen Infl ationsrechner ein Instrument, die persönliche Infl ationsrate zu ermitteln, Aufgabe der amtlichen Statistik bleibt es aber, "laufend Daten über Massen erscheinungen zu erheben, zu sammeln, aufzubereiten, darzustellen und zu analysieren" ( § 1 Bundesstatistikgesetz). Ziel ist dabei immer, den jeweils besonders relevanten Realitätsausschnitt der Massenerscheinung möglichst gut quantitativ zu erfassen. Wenn es um die Frage geht, ob der Euro seine allgemeine Kaufkraft mittelfristig behält oder ob langfristige Zahlungsvereinbarungen ihren allgemeinen Wert behalten, dann liefern die amtlichen Zahlen dafür eine qualitativ hochwertige Datengrundlage. Die Zahlen lassen den gewünschten Aspekt der gesuchten Wahrheit sehr gut erkennen -erfordern aber das Bewusstsein, dass gleichzeitig andere Wahrheitsaspekte ausgeblendet werden Der Euro als Teuro? Die wahrgenommene Infl ation in Deutschland Statistik zwischen Lüge und Wahrheit. Zum Wirklichkeitsbezug wirtschafts-und sozialstatistischer Aussagen Oktober 2016 (BGBl. I S. 2394), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 10 Juli 2020 zur Festlegung der methodischen und technischen Spezifi kationen nach der Verordnung (EU) 2016/792 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf harmonisierte Verbraucherpreisindizes und den Häuserpreisindex Berechnung eines regelbedarfsrelevanten Verbraucherpreisindex für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach SGB XII Die Geldpolitik der EZB European Business Cycle Indicators Verhaltenskodex für europäische Statistiken für die nationalen statistischen Ämter und Eurostat Warum die gefühlte Infl ation so viel höher ist als die gemessene, 5. Oktober Prospect theory: An analysis of decision under risk Einsatz von Scannerdaten während der Covid-19-Pandemie Infl ationsmessung in Zeiten der Corona-Pandemie Wirtschaftliche Auswirkungen der Corona-Pandemie" vom 15 Pressemitteilung zu den Auswirkungen der Senkung der Mehrwertsteuer auf die Verbraucherpreise vom 15 Warum die Infl ation die Ärmeren besonders trifft -Offi ziell steigen die Preise kaum, im August betrug die Infl ation sogar null Prozent. Doch viele Verbraucher nehmen das anders wahr des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über harmonisierte Verbraucherpreisindizes und den Häuserpreisindex sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2494/95 des Rates