key: cord-0820836-8nko611k authors: Taupitz, Jochen title: Benachteiligungsrisiken von Menschen mit Behinderung in der Triage – effektive Abwehr aus Karlsruhe?: Zugleich Besprechung von zu BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20 date: 2022-03-14 journal: Medizinrecht DOI: 10.1007/s00350-022-6134-9 sha: 0d0f502a6b47d678f67ab7996ee34d82a49f9ad6 doc_id: 820836 cord_uid: 8nko611k nan Die Frage, nach welchen Kriterien knappe intensivmedizinische Ressourcen wie z. B. Beatmungsgeräte in der aktuellen Corona-Pandemie zu verteilen und damit zuzuteilen sind, wird spätestens seit den bedrückenden Berichten über Ereignisse etwa in Bologna 2020 international intensiv diskutiert 1 . Dabei wurde auf die spezielle Situation von Menschen mit Behinderung zumeist eher am Rande eingegangen. Das hat sich spätestens mit der Verfassungsbeschwerde von Menschen mit Behinderung v. 27. 6. 2020 geändert 2 . Während das BVerfG noch mit Beschluss v. 16. 7. 2020 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen hatte, weil zu diesem Zeitpunkt nicht konkret absehbar gewesen sei, dass die Plätze für eine intensivmedizinische Behandlung in den (deutschen) Krankenhäusern nicht ausreichen würden, um notwendige Maßnahmen für alle Behandlungsbedürftigen zu ergreifen 3 , hat das Gericht jetzt in seiner (in diesem Heft abgedruckten) Entscheidung in der Hauptsache ein Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen bejaht. Der Ausgangspunkt der Entscheidung des BVerfG ist wenig überraschend: Aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ergibt sich für den Staat nicht nur das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierungen wegen Behinderung, sondern auch ein Auftrag, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung durch Dritte zu schützen (Rdnr. 96) 4 . Und dieser Schutzauftrag kann sich in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Dazu gehören neben gezielten, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzungen von Personen wegen einer Behinderung auch eine mit der Benachteiligung wegen Behinderung einhergehende Gefahr für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter wie das Leben sowie Situationen struktureller Ungleichheit (Rdnr. 97). Das alles wird vom Gericht akribisch mit Zitaten belegt. Nicht angesprochen -da offenbar nicht entscheidungserheblich -wird dagegen, inwieweit sich ein Schutzauftrag auch unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ableiten ließe 5 . 1. Heftig umstrittene, vom Verfassungsgericht bisher nicht geklärte zentrale Fragen der Verteilung und damit Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen 6 werden vom Gericht dagegen eher nonchalant, fast nebenbei beantwortet. Dies widerspricht der Tradition deutscher Gerichte und auch des BVerfG, sich mit prominent vertretenen Gegenauffassungen argumentativ auseinanderzusetzen. Dazu -die Primärverantwortung zuschieben. Die vom Ethikrat postulierte gesetzgeberische Unzuständigkeit gipfelte nach Auffassung des Ethikrates zugleich darin, dass sich ein Mediziner, der eine bestimmte 10 "Gewissensentscheidung trifft, die ethisch begründbar ist und transparenten -etwa von medizinischen Fachgesellschaften aufgestellten -Kriterien folgt", dem Risiko der Verurteilung wegen einer rechtswidrigen Straftat aussetzt und allenfalls mit "entschuldigender Nachsicht der Rechtsordnung rechnen" darf; denn der Staat habe auch in Katastrophenzeiten "die Fundamente der Rechtsordnung zu sichern" 11 . Dass von Seiten der Ärzte eine "unerträgliche Rechtsunsicherheit" beklagt wird, ist vor diesem Hintergrund mehr als verständlich. Von all dem liest man in der Entscheidung des BVerfG nichts. Die Stellungnahme des Ethikrates wird vom Gericht lediglich zu Beginn der Entscheidung (Rdnr. 7) erwähnt: "Hinweise des Deutschen Ethikrates (Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise -Ad-hoc-Empfehlung, 27. 3. 2020)" seien in der Praxis neben notärztlichen ‚Leitplanken' der Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands (BAND) e. V. "von Bedeutung". Und die von der DIVI im Verfahren beklagte "unerträgliche" Rechtsunsicherheit für die Ärzte, "welche Kriterien im Fall einer Pandemie bei der Verteilung knapper medizinischer Ressourcen maßgeblich sein sollen", wird vom Gericht (Rdnr. 120) lediglich als Argument benutzt, um das u. a. daraus resultierende Risiko einer Benachteiligung von Menschen mit Behinderung zu begründen. Stattdessen wird die gesetzgeberische Handlungspflicht ohne jede Problematisierung staatlicher Handlungsbefugnisse aus Art. 3 Abs. 3 S. 3 GG abgeleitet. Und selbst hinsichtlich der gesetzgeberischen Handlungspflicht wäre es auch im Hinblick auf andere von medizinischen Zuteilungsentscheidungen Betroffene (über den Kreis der Menschen mit Behinderung hinaus) hilfreich gewesen, wenn das Gericht eine Begründung auch über die Wesentlichkeitslehre auf der Grundlage des Gesetzesvorbehalts geliefert hätte 12 . Mit dieser Begründung hätte z. B. auch eine Antwort auf die bereits häufig 13 gestellte Frage gege-ben werden können, was denn der Vorteil einer gesetzgeberischen Entscheidung im Vergleich zu Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften sein soll. Bezüglich der zentralen Aussage, dass das der medizinischen Praxis zugrunde liegende Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht (und damit das Ziel einer Maximierung der Überlebendenzahl) nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern sogar "verfassungsrechtlich unbedenklich" ist (Rdnr. 118), also auch vom Gesetzgeber vorgegeben werden darf (Rdnr. 128 14 ), begnügt sich das Gericht mit zwei mageren Sätzen: "Die Aussicht, die akute Erkrankung zu überleben, ist ein als solches zulässiges Auswahlkriterium für die Verteilung knapper Behandlungsressourcen. Dieses Kriterium stellt nicht auf eine Bewertung menschlichen Lebens ab, sondern allein auf die Erfolgsaussichten der nach der aktuellen Erkrankung angezeigten Intensivtherapie" (Rdnr. 116). Gerade dies (und insbesondere die Aufnahme dieses Kriteriums in ein Gesetz) wurde und wird von Teilen der Literatur 15 und auch vom Deutschen Ethikrat (s. oben) anders gesehen. So wird etwa in der Literatur kritisiert, dass das menschliche Leben seines subjektiven, einzigartigen Charakters beraubt werde, wenn ein "Aussortierter" nur noch Zählwert habe; Menschenleben dürften nicht gegeneinander abgewogen werden 16 1. Spannend bleibt, welche Maßnahmen der Gesetzgeber nun tatsächlich ergreifen wird -und ob die letztlich getroffene Regelung einer dagegen wohl zu erwartenden weiteren Verfassungsbeschwerde standhalten wird. Denn dass es dem Gesetzgeber gelingen wird, "jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam" zu verhindern (so die Forderung des Gerichts Rdnr. 130 25 ), ist kaum zu erwarten. Immerhin leitet das Gericht das Risiko, wegen einer Behinderung bei der Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt zu werden, aus einer "Gesamtschau verschiedener, teils ineinandergreifender Umstände" ab (Rdnr. 126; zur "Gesamtschau" auch Rdnrn. 110, 121 , was in der Ausbildung bislang kaum bearbeitet werde". Ähnlich wird im Hinblick auf im Grundsatz ausdrücklich als zulässig bezeichnete Kriterien (Komorbiditäten, Rdnr. 118) bzw. Hilfsmittel (Verwendung einer Skala, Rdnr. 118), befürchtet, dass sie "pauschal", "stereotyp" oder "vorschnell" einer Zuteilungsentscheidung zugrunde gelegt würden (Rdnr. 118) bzw. dass eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderung in der Praxis nicht "ausgeschlossen" werden könne (zwei Mal Rdnr. 118). Diesen Risiken wird der Gesetzgeber kaum durch die vom Gericht ausdrücklich für möglich gehaltene "Regelung von Kriterien, nach denen zu entscheiden ist, wie knappe Ressourcen zur Lebensrettung verteilt werden" (Rdnr. 128), hinreichend begegnen können. Denn wie auch immer sie ausgestaltet werden, kann ihre fehlerhafte (benachteiligende) Anwendung im täglichen praktischen Vollzug doch ganz sicher "nicht ausgeschlossen" werden. Eine weitere Verfassungsbeschwerde ist damit vorprogrammiert. Zudem bleibt in der Entscheidung des Gerichts völlig offen, welche Kriterien und in welcher Reihenfolge abgesehen von der "verfassungsrechtlich unbedenklichen" klinischen Erfolgsaussicht im Sinne des Überlebens der aktuellen Erkrankung (Rdnrn. 116, 118) 2. Der Gesetzgeber wird sich wohl eher auf die vom Gericht für möglich gehaltenen "Vorgaben zum Verfahren", ein "Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen", "Vorgaben zur Dokumentation" und/oder "Regelungen zur Unterstützung vor Ort" (Rdnr. 128) fokussieren. Da insoweit zentral die ärztliche Berufsausübung betroffen sein wird -denn es sind vor allem Ärzte, die über die Zuteilung von intensivmedizinischen Ressourcen entscheiden -, ist allerdings zu bedenken, dass insoweit keine Bundeskompetenz besteht. "Der" zur Regelung aufgerufene "Gesetzgeber" bedeutet deshalb wohl "die Landesgesetzgeber", wenn man nicht z. B. eine Regelung in die allgemeinen Vorschriften des BGB zum Behandlungsvertrag ( § § 630a ff. BGB) integriert oder, wie Kersten/Rixen vorschlagen (unten IV. 5.), eine Lösung über das AGG versucht 3. Allenfalls sehr langfristig wirken würden dagegen "spezifische[…] Vorgaben für die Aus-und Weiterbildung in der Medizin und Pflege und insbesondere des intensivmedizinischen Personals, um auf die Vermeidung von Benachteiligungen wegen Behinderung in einer Triage-Situation hinzuwirken" (Rdnr. 128). Ob eine daraus resultierende, weit in die Zukunft reichende vage Aussicht auf Besserung genügt, wo der Gesetzgeber doch gehalten ist, "seiner Handlungspflicht unverzüglich durch geeignete Vorkehrungen nachzukommen" (Rdnr. 130 31 ), bleibt zweifelhaft. Zwar befolgt ein "unverzüglicher" Erlass eines Gesetzes formal den Handlungsbefehl des Gerichts. Dem Sinn und Zweck, alsbald im Interesse behinderter Menschen Abhilfe zu schaffen, genügt ein erst in ferner Zukunft Auswirkungen entfaltendes Gesetz aber sicher nicht. Hinzu kommt, dass auch die genannten Vorgaben als Regelungen der ärztlichen Berufsausübung in die Kompetenz der Bundesländer fallen, so dass nicht einmal der schnelle Erlass von (einheitlichen?) Gesetzen zu erwarten ist. Erstaunlich ist schließlich, dass die Fortbildung vom Gericht nicht erwähnt wird -könnte sie doch bezogen auf Personal, das bereits in der Intensivmedizin tätig ist, eine viel zügigere Abhilfe schaffen. 4. Vielleicht ist aber auch der implizite Vorwurf des Gerichts, der Gesetzgeber habe "bislang [überhaupt] keine Vorkehrungen getroffen, die dem Risiko einer Benachteiligung von Menschen aufgrund einer Behinderung bei der Verteilung von knappen intensivmedizinischen Behandlungsressourcen wirksam begegnen" (Rdnrn. 108, 122), dahin zu verstehen, dass schon der nicht ganz untaugliche Versuch, gegenzusteuern, ausreichen wird. Denn das Gericht betont auch: "Besteht [wie hier] eine konkrete Schutzpflicht, kann das BVerfG deren Verletzung nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben" (Rdnr. 98 32 ). Das und der mehrfach betonte "weite" (Rdnr. 99) "Einschätzungs-, Wertungs-und Gestaltungsspielraum" des Gesetzgebers (Rdnrn. 99, 108, 38 : "In einer Situation, in der knappe, der Lebenserhaltung dienende medizinische Behandlungsmittel zwingend nur einer Person zugeteilt werden können, hat der oder die Behandlungsverantwortliche eine Entscheidung zu treffen, die sich an der klinischen Erfolgsaussicht orientiert und Benachteiligungen im Sinne eines in § 1 dieses Gesetzes [= des AGG] genannten Grundes vermeidet; die Entscheidung kann auch darin bestehen, die Behandlung eines Patienten oder einer Patientin zugunsten eines anderen Patienten oder einer anderen Patientin nicht einzuleiten oder abzubrechen." Die Entscheidung des BVerfG v. 16. 12. 2021 beschränkt sich in ihren Aussagen strikt auf die gestellten Anträge der Beschwerdeführer. Das ist juristisch nicht zu missbilligen, gibt aber der weiteren Rechtsentwicklung in wichtigen Fragen wenig Hilfestellung. Zu kritisieren ist, dass das Gericht zentrale verfassungsrechtliche Aspekte, die zum Kern der von den Beschwerdeführern aufgeworfenen Fragen gehören, geradezu aufreizend lässig behandelt. Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechte inhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/ 4. 0/deed.de. Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL. Sektorale Heilkundeerlaubnisse und Heilpraktikerberuf Die Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP will ein allgemeines Heilberufegesetz auf den Weg bringen 1 . Es könnte zur Abschaffung des HeilprG führen. Zwei dort geregelte Materien sind reformbedürftig: Der Begriff der Heilkunde ist zentral für die Ärzteschaft und die "anderen Heilberufe", die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG erwähnt sind. Er ist in § 1 Abs. 2 HeilprG definiert 2 . Mit einer reformierten Legaldefinition oder neuen Berufsqualifikationen könnte die "systematische Unstimmigkeit" 3 behoben werden, die zwischen den Gesundheitsfachberufen und dem Heilpraktikerberuf besteht, der ebenfalls im HeilprG geregelt ist 4 . Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker genießen die Kurierfreiheit, d. h. die Möglichkeit, die Heilkunde fast ohne Dazu und zu weiteren Fragen bezüglich der Reichweite des Urteils Tackenberg Zugriff am 7. 1. 2022. -Da das System zum Teil nicht differenziert genug ist, wechseln manche Kliniken auf andere Systeme der Kategorisierung, etwa den Emergency Severity Index (ESI), s. Dierbach Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2. Aufl. 2021, VI. 2. Triage Bündnis 90/Die Grünen, FDP 3; BVerwG, Urt. v. 25. 2. 2021 -3 C 17/19 -, für MedR Heft 4 mit Anm Der Artikel fasst das Rechtsgutachten zum Heilpraktikerrecht zusammen, das der Autor im Auftrag des BMG im April 2021 erstellt hat