key: cord-0817811-wqj2zupm authors: Reich, Hanna; Czaplicki, Andreas; Gravert, Christian; Hegerl, Ulrich title: Negative Effekte der COVID-19-Maßnahmen auf die Versorgung depressiv Erkrankter: Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung date: 2021-06-17 journal: Nervenarzt DOI: 10.1007/s00115-021-01148-3 sha: e8ac3aeb4130bb06bfe39d3c387b15c5fbf89a6c doc_id: 817811 cord_uid: wqj2zupm nan Akteure in der Politik, im Medizinbetrieb und in vielen anderen Bereichen haben eingreifend und teils rasch und zielgerichtet auf die Bedrohungen durch die COVID-19-Pandemie reagiert. Mit Blick auf die Situation in anderen Ländern wurden die getroffenen Maßnahmen meist als erfolgreich, wenn nicht gar vorbildlich dargestellt und dabei auf die Infektionszahlen und COVID-19assoziierten Todesfälle verwiesen. Diese Zahlen allein sind jedoch für eine Erfolgsbeurteilung nicht ausreichend, da dadurch die "Nebenwirkungen" der getroffenen Maßnahmen vernachlässigt werden. Entscheidend ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Ausmaß an Leid und Tod, das durch die getroffenen Maßnahmen einerseits verhindert und andererseits verursacht wird. Berichte über gravierende negative gesundheitliche Folgen dieser Maßnahmen häufen sich. In Deutschland wie auch in anderen Ländern wurde nach Ausbruch der Corona-Pandemie über eine verzögerte medizinische Kontaktaufnahme von Patient:innen nach Herzinfarkt oder Schlaganfall verbunden mit deutlich erhöhtem intrahospitalem Sterberisiko berichtet [2, 8, 9] . Auch die Versorgung von Patient:innen mit Suchterkrankungen war bedingt durch monatelange Schließungen ambulanter Drogenhilfeeinrichtungen erschwert [4] . MitdieserArbeitsolleinBeitragzuder dringend benötigten Diskussion der Kosten-Nutzen-Abschätzung bzgl. der Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens geleistet werden, indem aus Betroffenensicht deren Einfluss auf die medizinische und psychotherapeutische Versorgung depressiv Erkrankter dargestellt wird. In einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage der deutschen Wohnbevölkerungim Altervon18 bis69 Jahrenwurden 5178 Personen (n = 2660 weiblich) im Zeitraum vom 26.06.2020 bis 08.07.2020 durch das zertifizierte Befragungsunternehmen (ISO 26362) Respondi AG online befragt (Teilnahmequote: 31,3 %). Die Stichprobe stellt eine mehrfach geschichtete Quotenauswahl anhand der verschränkten Merkmale Geschlecht, Alter, Bundesland/Bundesländergruppe entsprechend der aktuellen Bevölkerungsfortschreibungen des Statistischen Bundesamts dar. Alle Teilnehmenden waren im Access Panel registriert und haben ihre schriftliche Einwilligungserklärung zur Teilnahme gegeben. Eine Aufwandsentschädigung erfolgte in Form von Punkten (Gegenwert: 1 €), die für Internetkäufe eingesetzt werden können. Einschränkungen in der allgemeinen medizinischen Versorgung wurden für den Befragungszeitraum ("aktuell") und retrospektiv für die erste Lockdownphase ("4 Wochen des Lockdowns") folgendermaßen erfragt: "Durch die Maßnahmen gegen Corona sind bei mir oder einem nahen Angehörigen wichtige Arzttermine ausgefallen/wichtige medizinische Behandlungen nicht durchgeführt worden/die Behandlungsmöglichkeiten beeinträchtigt gewesen" (Likert-Skala 1-4). Teilnehmende mit diagnostizierter Depression (n = 1,094 "Ja, bei mir ist bereits einmal die Diagnose Depression gestellt worden"; davon n = 197 "Ich befinde mich aktuell in einer depressiven Phase") wurden zu spezifischen Auswirkungen auf die Versorgung ihrer Depressionserkrankung befragt (ja/ nein), die Datenauswertung erfolgte mit Stata SE15.1 (α = 0,05). Mehr als ein Drittel der befragten Allgemeinbevölkerung gab an, während des ersten Lockdowns Einschränkungen der medizinischen Versorgung bei sich selbst oder einem nahen Angehörigen erlebt zu haben; auch zum Befragungszeitpunkt im Sommer berichtete dies immer noch Tab. 1 Einschränkungen in der allgemeinen medizinischen Versorgung während der COVID-19-Pandemie ("bei mir oder einem nahen Angehörigen", Selbstbericht) Während Hochgerechnet betrafen die hier erfragten Einschränkungen in der medizinischen Versorgung im ersten Jahr der Pandemie ca. 2 bis 3 Mio. Menschen mit affektiven Erkrankungen [3] . Diesen unter einer schweren, oft auch lebensbedrohlichen Erkrankung leidenden Menschen wurde eine schlechtere Versorgung ihrer Erkrankung zugemutet, um das Infektionsgeschehen zu verlangsamen oder Versorgungskapazitäten für COVID-19-Infizierte zu schaffen. Ähnliche Befunde zu einem Rückgang der Versorgung psychischer Erkrankungen liegen auch aus Großbritannien vor [5] . Männliche Befragungsteilnehmer und jüngere Erwachsene berichteten in der vorliegenden Befragung von stärkeren Einschränkungen als die jeweiligen Referenzgruppen (. Tab. 2). Gleichzeitig zeigte eine longitudinale Studie, dass das Stresserleben bei jungen Erwachsenen sowie depressive und Angstsymptome bei jungen Frauen im Besonderen im Zuge der Pandemie zunahmen [7] . Junge Erwachsene waren damit sowohl mit erhöhten Belastungen ihrer psychischen Gesundheit als auch mit stärkeren Einschränkungen in der psychotherapeutischen Versorgung während der COVID-19-Pandemie konfrontiert. Eine mangelhafte Versorgung depressiver Erkrankungen junger Erwachsener kann mit hohen, langfristigen Kosten für Individuum und Gesellschaft einhergehen [1]. Die Sicherstellung zeitnaher, leitliniengerechter Behandlungen depressiver Erkrankungen sollte daher auch in Anbetracht ihres gesamtgesellschaftlichen Nutzens in den aktuellen politischen Entscheidungen stärker Eingang finden. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um Analysen von Daten einer sozialwissenschaftlichen Befragung. Eine methodische Einschränkung betrifft Fragen, die sich auf den ersten Lockdown beziehen, da diese retrospektiv im Juni/Juli gestellt wurden. Zudem erfolgte beiderErfragungallgemeinerEinschränkungen (. Tab. 1) keine Differenzierung zwischen Erkrankten selbst und Angehörigen; eine getrennte Auswertung ist an dieser Stelle somit nicht möglich. Eine nicht nur auf das Infektionsgeschehen verengte Sicht macht deutlich, dass die Implementierung besonders strenger Maßnahmen in der COVID-19-Pandemie nicht "Auf Nummer sicher gehen" bedeutet und dass es auch nicht um Gesundheit vs. Ökonomie geht, sondern um die richtige Balance zwischen Nutzen und Risiken der Maßnahmen. Eine Gesamtbilanzierung sollte weitere Aspekte beinhalten, die hier nicht betrachtet wurden. Diese umfassen neben ökonomischen und freiheitsrechtlichen Aspekten auch die Frage, ob sich die in einigen Bevölkerungsgruppen beobachteten Zunahmen von depressiven und Angstsymptomen [7] sowie des Alkoholkonsums [6] Case rates, treatment approaches, and outcomes in acute myocardial infarction during the Coronavirus disease 2019 pandemic Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH) Auswirkungen der COVID-19-Krise aufPräventionsangebotezu durchBlutundsexuell übertragenen Infektionen bei Drogengebrauchenden IndirectacuteeffectsoftheCOVID-19pandemicon physicalandmentalhealthintheUK: apopulationbased study Alkoholkonsum in Deutschland und Europa während der SARS-CoV-2 Pandemie The impactoftheCOVID-19 pandemiconself-reported health Temporal trends in the presentation of cardiovascular and cerebrovascular emergencies during the COVID-19 pandemic in Germany: an analysis of health insurance claims Medical emergencies during the COVID-19 pandemic-ananalysisofemergencydepartment data in Germany