key: cord-0809971-tqzk0lff authors: von Ameln, Falko title: Führen und Entscheiden unter Unsicherheit date: 2021-11-02 journal: Gr Interakt Org DOI: 10.1007/s11612-021-00607-4 sha: e3ed152a78e0b6f8d6a66be58dfb982f139ed0c7 doc_id: 809971 cord_uid: tqzk0lff This article in the journal “Gruppe. Interaktion. Organisation. (GIO)” summarizes the challenges of leadership and decision making under uncertainty. These challenges are illustrated using the example of corona management in Germany and related to problems in organizational decision-making processes. The main aim of the text is to shed light on the dilemmas of decision-making using a combination of organizational psychological and organizational sociological perspectives and to explain these dilemmas with reference to the social context of decision making. The final section gives recommendations for an organizational and leadership culture that meets the requirements of decision-making under uncertainty. 1 Leipziger Str. 9, 26506 Norden, Deutschland 2 Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF), Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Universitätsstr. 65-67, 9020 Klagenfurt, Österreich sich aber auch, wie Zielkonflikte und Paradoxien, unzureichend geklärte Entscheidungsverfahren und eine eher regelungsorientierte Kultur eine lösungsorientierte und konsensfähige Entscheidungsfindung erschweren. In der viel zitierten VUKA-Welt (Mack et al. 2015) , also von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägten Organisationsumwelten, werden Krisendynamiken (d. h . von hohem Veränderungsdruck geprägte, existenzbedrohende Situationen ohne bekannten Lösungsweg) häufiger, wenngleich sie meist weniger dramatisch und öffentlichkeitswirksam in Erscheinung treten. Die Pandemie zeigt dabei in zugespitzter Form die Herausforderungen auf, vor denen Führung in jeder unsicherheitsbesetzten Ent-K scheidungssituation steht, nicht nur in der Politik, sondern in Organisationen jeglichen Typs. Ausgehend von dieser These, die im ersten Abschnitt belegt werden soll, versucht der vorliegende Artikel, fünf generelle Herausforderungen des Führens und Entscheidens unter Unsicherheit aufzuzeigen. Dabei soll die Komplexität der Beobachtungen auf der Phänomenebene zumindest in Teilen mithilfe psychologischer und soziologischer Erklärungsansätze aufgeschlossen und in ihren Zusammenhängen dargestellt werden 1 . Was ist eine "gute" Entscheidung? Die Frage unterstellt, dass es angebbare normative Bedingungen des Entscheidens gäbe. Eine Entscheidung ist in dieser Perspektive der klassischen Entscheidungstheorie dann "gut", wenn sie dazu beiträgt, zwischen verschiedenen Alternativen diejenige auszuwählen, die den vorab definierten Kriterien am ehesten gerecht wird, z. B. dem definierten Ziel am nächsten kommt, ein optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweist usw. Dass Entscheidungen in Organisationen keineswegs so lehrbuchmäßig rational verlaufen, ist nicht nur aus der Praxis bekannt, sondern auch von der Organisationsforschung vielfach beschrieben worden. So hat March sehr pointiert darauf hingewiesen, dass Entscheidungsgelegenheiten, Lösungen und Akteure in Organisationen nur lose gekoppelt sind und dass Entscheidungsprozesse daher nicht der klassisch-rationalistischen Ordnungsvorstellung entsprechen, sondern eher der Ordnung in einem Mülleimer (March und Olsen 1986) gleichen. Unsicherheit in Entscheidungsprozessen entsteht aber nicht erst in dieser Gemengelage "organisierter Anarchien" (Cohen und March 1974) , sondern ist von einer grundlegenderen Natur. Abgesehen von Idealbedingungen sind Entscheidungen immer mit verschiedenen Formen von Unsicherheit 2 konfrontiert. In manchen Entscheidungssituationen sind zwar die möglichen zukünftigen Zustände und auch ihre statistische Eintretenswahrscheinlichkeit bekannt. Beim Roulette 1 Die im Beitrag verwendeten Beispiele beziehen sich auf die Corona-Politik und die öffentlichen Reaktionen darauf in Deutschland. In anderen Staaten (etwa Österreich und der Schweiz) ließen sich sicherlich ähnliche Dynamiken, aber auch Unterschiede beobachten. Dass diese nicht systematisch einbezogen wurden, hängt mit Platzbeschränkungen und mangelnder Detailkenntnis des Autors zusammen, vor allem mit dem Band von Gloger und Mascolo (2021) , der anhand von Interviews einen Einblick in die Situation der politischen Entscheidungsträger*innen in Deutschland ermöglicht. 2 In der Literatur sind sehr viel differenziertere Konzepte von Unsicherheit beschrieben worden (vgl. etwa Dequech 2011), die für die Zwecke dieses Artikels allerdings nicht weiter ausgeführt werden müssen. liegt die Wahrscheinlichkeit für "rot" bei 50 %, es ist aber unsicher, ob eine rote oder eine schwarze Zahl fallen wird. Diese Form der Unsicherheit wird aleatorische Unsicherheit (ebd., S. 119) oder Risiko genannt. Wenn zukünftige Zustände bekannt, deren Eintretenswahrscheinlichkeiten aber unbekannt sind, hat man es mit einer anderen Form von Unsicherheit zu tun, die Apelt und Senge (2015, S. 2) im Anschluss an Dequech als Ungewissheit bezeichnen. Entscheider*innen in komplexen Entscheidungssituationen haben es nicht nur mit Risiko und Ungewissheit zu tun, sondern mit einer noch weiter reichenden Art von Unsicherheit, die aus den Eigenschaften komplexer Systeme (Dörner und Schaub 1995) resultieren -hier veranschaulicht am Beispiel der Corona-Pandemie: Neuartigkeit (Zu Beginn der Pandemie war vom "neuartigen Corona-Virus" die Rede. Auch heute, über ein Jahr später, werden wir von der Entwicklung immer wieder überrascht.) Offenheit der Zielsituation (Das Ziel der Corona-Schutzmaßnahmen -"flatten the curve"/Vermeidung einer Überlastung der Intensivstationen/Null-Covid/Herdenimmunität ... -steht nicht fest, sondern musste und muss immer wieder neu diskursiv entwickelt und konsentiert werden.) Polytelie (Hinzu kommt, dass unterschiedliche und z. T. widersprüchliche Ziele miteinander konkurrieren, z. B. Verringerung der Infektionszahlen vs. Öffnung der Schulen -siehe Abschnitt 2) Vielzahl der Variablen (Der Pandemieverlauf hängt von der Infektiosität der Virus-Mutationen, der Compliance der Bevölkerung, der Verfügbarkeit von Impfstoffen und Medikamenten, der Arbeit der Gesundheitsämter, der Außentemperatur und zahllosen weiteren Faktoren ab, die nicht alle bekannt und in ihrer Interdependenz erforscht sind.) Ein zentrales Problem in komplexen Entscheidungssituationen ist also der Umgang mit Nichtwissen. Beispielsweise wurde und wird diskutiert, ob Geimpfte das Virus noch übertragen können. Während dieses spezifische Nichtwissen (also das bekannte Nichtwissen: Man weiß, dass man etwas nicht weiß) bei den Entscheider*innen das Erleben von Unsicherheit erzeugt, ist für das Management komplexer Entscheidungssituationen das nicht-spezifische Nichtwissen (also das, wovon man nicht weiß, dass man es nicht weiß) noch sehr viel problematischer. Ein weiteres Problem sind die zahlreichen typischen Denkfehler im Umgang mit komplexen Systemen (vgl. Schaub 2006), z. B. Vernachlässigung der Systemdynamik im Zeitverlauf, linear-kausales Denken unter Vernachlässigung der Wechselwirkungen, wishful thinking, Bekämpfung der Symptome anstatt der Ursachen, um nur einige wenige zu nennen. Hinzu kommt eine ebenso große Anzahl kognitionspsycho-K logisch begründeter Urteilsfehler beim Entscheiden (base rate neglect, overconfidence u. v. a., vgl. Pfister et al. 2017, S. 149 ff.; Walz 2015) . Sowohl externe als auch interne Unsicherheiten führen also dazu, dass mögliche zukünftige Zustände des Systems nicht linear aus dessen gegenwärtigem Zustand ableitbar sind. Dies bringt eine qualitativ anders gelagerte Form der Unsicherheit mit sich, die Dequech (2011) Solche Multirationalitäten sind in der Organisationstheorie vorrangig unter dem Begriff der Paradoxie thematisiert worden 3 . Wie aus dem bisher Gesagten deutlich wird, sind Paradoxien in Organisationen also kein Sonderfall, son-dern ergeben sich unausweichlich aus dem Zusammentreffen lokaler Rationalitäten, die durch System-Umwelt-Differenzierungsprozesse auf verschiedenen Ebenen entstehen (vgl. Smith und Lewis 2011). Damit wird die Notwendigkeit eines Umgangs mit Paradoxien zu einer Grundkonstante des Entscheidens in Organisationen schlechthin (Luhmann 2015) . Die Komplexitätssteigerung organisationaler Umwelten (Stichwort "VUKA") bringt es mit sich, dass solche Paradoxien des Entscheidens sich potenzieren oder zumindest weniger leicht ignoriert werden können. Infolgedessen, so Luhmann (ebd., S. 45), "wird es nötig werden, die Entscheidungstheorie selbst von Prinzip auf Paradoxie umzustellen". Schnelles, eindeutiges Entscheiden, Zupacken, Probleme lösen -das entspricht dem Rollenbild der heroischen Führungskraft, dem Anspruch, den viele Führungskräfte an sich selbst haben und oftmals auch den Erwartungen aus dem System. Paradoxe Entscheidungssituationen werden in dieser Motivlage erst einmal als störend, hemmend, frustrierend empfunden: Wie man es macht, ist es falsch. In der Pandemie ist zu beobachten, dass totaler Lockdown eine ebensowenig gangbare Alternative ist wie totale Öffnung. Deshalb, so Simon (2007, S. 75) , "führt keine Führungskraft ihren Job optimal aus, wenn sie dauerhaft Eindeutigkeit schafft". "Komplexitätsvergessene Vernunft" (Nassehi 2018) , die eine Seite der Paradoxie und damit einen Teil der Komplexität systematisch ausblendet, geht den Denkfehlern im Umgang mit komplexen Systemen auf den Leim. Führungskonzepte, die dem paradoxen Charakter von Entscheidungssituationen Rechnung tragen, kommen u. a. unter dem Stichwort der ambixdextren Führung (z. B. Szlang und Bruch 2020) stärker in den Blick, allerdings verdient dieses Themenfeld von den Organisationswissenschaften noch stärkere Aufmerksamkeit. len System und die Rückwirkungen, die diese antizipierten Folgewirkungen auf den Entscheider haben, stärker mitberücksichtigen. Vor dieser Anforderung stehen nicht nur die Forschung, sondern auch die Entscheider*innen selbst. So kann eine Entscheidung aus der Sicht des Entscheiders rational richtig, aber dennoch aus Führungsperspektive "falsch" (i. S. v. "nicht umsetzbar", "kontraproduktiv") sein, wenn die Entscheidung keine soziale Akzeptanz erfährt und nicht gemeinsam umgesetzt wird. Entscheiden ist in diesem Verständnis ein komplexer sozialer Koordinierungsprozess, der weitaus mehr beinhaltet als die Wahl zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten. Brunsson (1990, S. 48 ) formuliert es so: Organizations have more problems than choice. Another fundamental organizational problem is to achieve co-ordinated, collective action. It has been argued that decision-making and decisions are sometimes used for solving that problem, and that this affects the design of the decision process [...] . In order to mobilize organizational action, it is important to secure commitment from presumed actors [...] . Decision-making may be used as a way of forming commitments, both directly and indirectly. Eine "gute" Entscheidung ist in diesem Sinne also nicht unbedingt eine, die die gemessen an "rationalen" Kriterien beste Alternative auswählt, sondern eine, die soziale Akzeptanz und Folgebereitschaft herstellt. Diese Anforderung an Entscheidungen, die gerade Führungskräften vertraut ist, weist auf die Bedeutung der Einbindung der Betroffenen in Entscheidungsprozesse, der Begründung von Entscheidungen, der kommunikativen Einkleidung von Entscheidungen und des Impression Managements auf der Seite der Entscheider*innen hin. Aus systemtheoretischer Sicht ist jede Entscheidung mit dem Problem der doppelten Kontingenz konfrontiert: Diejenigen, die die Entscheidung umsetzen sollen, können im Sinne der getroffenen Entscheidung handeln (z. B. die Maskenpflicht beachten), aber auch etwas anderes oder das Gegenteil tun. Schlimmstenfalls tun sie das Gegenteil, gerade weil so entschieden wurde. Solche Reaktanzreaktionen dürften gerade bei selbsternannten "Querdenkern" (also den "Widerstandskämpfern" in den gängigen Modellen zu Haltungen in Change-Prozessen), ab einem gewissen Grad der Corona-Müdigkeit aber auch bei zuvor Gutwilligen die Akzeptanz beeinflussen. An dieser Stelle zeigt der Blick auf die Pandemie wiederum ein Dilemma, mit denen auch Entscheider*innen in Organisationen konfrontiert sind: Manches (z. B. Schließung des Einzelhandels) lässt sich erzwingen, Vieles aber nicht, und gerade diese nicht erzwingbaren, sondern nur freiwillig zu erbringenden Leistungen ("nicht intendierbare Leistungen", Elster 1987, S. 141 ff.) wie z. B. die Einhaltung von Hygieneregeln im privaten Raum sind oft entscheidend für die Erreichung der mit der Entscheidung angestrebten Ziele. Da die Abhängigkeit von solchen nicht intendierbaren Leistungen die Macht der Führung begrenzt (v. Ameln und Kramer 2012; v. Ameln und Heintel 2016, S. 121 ff.) , müssen Entscheidungen und die Kommunikation von Entscheidungen immer auch auf das Akzeptanzmanagement hin ausgerichtet werden. Die daraus abgeleiteten Entscheidungsprämissen stehen oft quer zu fachlichen Kriterien der Rationalität, was im Corona-Management sicherlich einer der Gründe für das viel kritisierte "Herumeiern" der Politik und die Vielstimmigkeit der Ministerpräsident*innen war. Ein in Entscheidungssituationen zentraler Mechanismus der Unsicherheitsreduktion ist Vertrauen (Luhmann 2014) . Vertrauen kann unterschiedliche Bezugspunkte haben. Man kann Vertrauen in die persönliche Integrität der Person haben, die eine Entscheidung trifft -dann vertraut man darauf, dass diese Person die Entscheidung zum Wohle der Allgemeinheit, im Sinne der Systemrationalität usw. und damit weitgehend frei von persönlichen Einzelinteressen trifft. Vertrauen kann sich auf die Kompetenz des Entscheiders oder der Entscheiderin beziehen. Karl Lauterbach wurde in der Pandemie vor allem deswegen so viel Vertrauen entgegengebracht, weil ihm als Mediziner die für eine wirksame Corona-Politik notwendige Fachkompetenz zugeschrieben wurde. Man kann Vertrauen in ein Entscheidergremium haben, also darin, dass die Beteiligten durch gute Kooperation und Abstimmung zu guten Entscheidungen kommen. Auch diese Form von Vertrauen erscheint im deutschen Pandemie-Management zunehmend gestört: Vor allem durch Alleingänge der Ministerpräsident*innen, die gemeinsam getroffene Vereinbarungen immer wieder hinterliefen, "verfestigt sich der Eindruck politischer Vielstimmigkeit, des Sowohl-als-auch, das viele als "die da oben wissen nicht, was sie wollen" wahrnehmen" (Gloger und Mascolo 2021, S. 253 Bäuerle et al. (2020) in der bereits in Abschnitt 2 erwähnten Studie signifikante negative Korrelationen zwischen dem Vertrauen in das Corona-Management der deutschen Bundesregierung und generalisierten Angstsymptomen (r = -0,153, P < 0,001) sowie psychologischem Belastungserleben (r = -0,154, P < 0,001 Wie Entscheidungen angefertigt werden, ist in wichtigen Fällen über ein Programm definiert: Im Gesetzgebungsverfahren ist beispielsweise festgelegt, welche Verfassungsorgane mit welchen Rollen und Rechten in welcher Reihenfolge an der Entstehung und Verabschiedung von Gesetzen beteiligt werden. Im der dritten Welle der Pandemie wurde das Fehlen eines Programmes beklagt, das Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern effektiv regeln würde (was schließlich zur Aufnahme der "Bundesnotbremse" in das Infektionsschutzgesetz am 21.04.2021 führte). Die dadurch entstehenden Verwerfungen (also Kompetenzgerangel, manifeste Konflikte, heftiger Streit über Entscheidungskriterien) zeigten sich in ähnlicher Form bei der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur in der CDU. Hier manifestiert sich ein Defizit, das auch in vielen Organisationen zu beobachten ist: Zwar wird permanent entschieden, aber die Art der Entscheidungsfindung ist aufwändig, konfliktträchtig, unsystematisch und oft nicht zielführend (March und Olsen 1986 ; siehe auch Abschnitt 1). Gerade angesichts des Umstands, dass Entscheiden das Kerngeschäft der Organisation darstellt, ist bemerkenswert, dass Entscheidungsprogramme oft eher als informelle Gepflogenheiten historisch aus der Praxis erwachsen als dass sie formal entschieden würden. Zwar sind Verantwortlichkeiten (z. B. in Geschäftsverteilungsplänen) festgeschrieben, mit der jeweiligen Stelle verbundene Entscheidungsbefugnisse definiert und Entscheidungsgremien etabliert. Man weiß beispielsweise, dass strategische Entscheidungen im Rahmen der Vorstandssitzung zustande kommen, aber nach welchen Entscheidungsprinzipien innerhalb des Vorstandsgremiums entschieden wird, inwieweit andere Verantwortliche innerhalb der Organisation einbezogen werden usw., ist oft nicht klar geregelt. Dieses Regelungsdefizit kann insofern funktional sein als eine flexible Anpassung des Entscheidungsmodus an die Gegebenheiten ermöglicht: Je nach Entscheidungsanlass kann man mehr oder weniger Zeit und Sorgfalt auf die Entscheidung verwenden und mehr oder weniger Akteure einbeziehen; man kann miteinander diskutieren und wenn sich kein Konsens einstellt, kann die Führungskraft das Thema immer noch zur "Chefsache" erklären. Häufig produziert diese Flexibilität aber Nebenfolgen, wie sie auch beim Corona-Management zu beobachten sind: Entscheidungsprozesse werden träge und laden sich mikropolitisch auf, Entscheidungen werden in Frage gestellt, wenn sich Betroffene exkludiert fühlen (vgl. die obenstehenden Hinweise zu prozeduraler Gerechtigkeit). Diese Probleme lassen sich nicht gänzlich ausräumen, aber doch reduzieren. Organisationen müssen entscheiden, wie entschieden wird. Im Zuge der Agilitätsdebatte wurden Entscheidungsverfahren entwickelt (die in basisdemokratischen Initiativen im Übrigen schon lange in ähnlicher Form praktiziert wurden), die die inhaltliche Qualität und die Akzeptanz von Entscheidungen steigern sollen. Eine Entscheidungsarchitektur kann darüber Auskunft geben, welcher Entscheidungsanlass welche Anforderungen an die Entscheidungsfindung mit sich bringt und welches Verfahren diese Anforderungen am besten erfüllt, darunter z. B. kollegiale Rollenwahl, um die Person zu ermitteln, die die höchste fachliche Kompetenz für die Entscheidung aufweist, die Konsent-Moderation, um Einwände qualitativ zu minimieren und die Widerstandsabfrage, um Einwände quantitativ zu minimieren. Das bedeutet keineswegs, dass Entscheidungen in komplexen Dilemmasituationen immer im Einklang getroffen werden könnten. Eigene Betroffenheiten erschweren eine Entscheidung im Sinne des Allgemeinwohls (der Systemrationalität). An diesen Stellen hat Führung das Recht und die Funktion, Entscheidungen auch ohne Zustimmung der übrigen Systemmitglieder zu treffen (Luhmann 1976, S. 215) . Oftmals werden solche "harten" Entscheidungen auch von den Betroffenen erwartet. Gleichzeitig endet das hierarchische Durchgriffsrecht der Führung aber immer an den Grenzen der Folgebereitschaft der Geführten und an der Stelle, an der Vertrauen und Systemvertrauen zu erodieren beginnen (siehe der vorangegangene Abschnitt). Führung als (auf der informellen, nicht der formalen Ebene) vom System delegierte Autorität steht also immer in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis von prozeduraler Gerechtigkeit und hierarchischen Sonderbefugnissen. Die gemeinsam getragene Festlegung von Entscheidungsverfahren ist also eine Vorbedingung dafür, dass Führung in diesem komplexen Wechselspiel von symmetrischer und asymmetrischer Entscheidungsfindung Alleinentscheidungsrechte überhaupt wirkungsvoll wahrnehmen kann. Auf dieser Stufe werden mögliche unerwartete Ereignisse weitgehend ausgeblendet. Dieses Muster herrschte offenbar vor der Pandemie in der Politik vor. Ressourcen zur Pandemiebekämpfung (also Vorräte an Schutzausrüstung, Personal, aber auch institutionelle Resilienz auf der Ebene von Know How, Kommunikation und Entscheidungen) wurden nicht aufgebaut oder sogar abgebaut, obwohl das Risiko einer Pandemie durchaus bekannt war. Eine Pandemie, so der Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb im Interview mit Gloger und Mascolo (2021) , sei kein "schwarzer Schwan", also ein Ereignis mit extrem niedriger Eintretenswahrscheinlichkeit, sondern "das Gegenteil eines "schwarzen" Schwans [...], ein "weißer Schwan" vielmehr -ein Ereignis nämlich, das mit Sicherheit eintreten wird" (S. 86). Gloger & Mascolo beschreiben ausführlich, dass das Risiko einer Pandemie der Politik durchaus bewusst war, dass notwendige Maßnahmen als Konsequenz dieser Erkenntnis aber ausblieben. So hatte Angela Merkel schon 2015, nach der Ebola-Epidemie, grundlegende Reformen zur Verbesserung des Pandemiemanagements der WHO eingefordert. 2017 wurde im Vorfeld des G20-Gipfels unter deutschem Vorsitz mit den Gesundheitsministern ein zweitägiges Planspiel durchgeführt -das Szenario: Ein Virus, das zu Husten und Ersticken führt, bricht in einem Land namens "Anycountry" (gemeint war China) aus und gerät außer Kontrolle (ebd., S. 81 f.). Ähnliche Erkenntnisse zeigten sich schon 2005, als 7 Bundesländer, 11 Ministerien und 50 Unternehmen den Umgang mit einer Influenzapandemie übten: Das Szenario stammte vom RKI. Das Planspiel habe wichtige Erkenntnisse vor allem hinsichtlich der "psychologischen Reaktion der Bevölkerung in Krisensituationen" gebracht, hieß es im Abschlussbericht. Entscheidungsträger seien auf die psychosozialen Folgen einer Pandemie nicht ausreichend vorbereitet [...] . Der Bericht wies auf strategische Defizite etwa bei der Versorgung mit Schutzausrüstung hin. Und dabei blieb es. Und die Frage nach den Zuständigkeiten im Katastrophenfall blieb -und bleibt -unbeantwortet: Wer darf was in einer Krise? (ebd., S. 95) Wie die Beispiele zeigen, dürfte das, was Gebauer als "Gleichgültigkeit" bezeichnet, auf typischen Denkfehlern im Umgang mit komplexen Systemen wie wishful thinking, Planoptimismus ("wird schon gut gehen") und Ablenkbarkeit durch andere Themen (Schaub 2006; s. oben) beruhen -psychoanalytisch könnte man von Verdrängung und Verleugnung sprechen. Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 1 eingeführten Unterscheidungen ist bemerkenswert, dass das Kernproblem beim Umgang mit Unsicherheit im Fall von Covid-19 also nicht das Nichtwissen war, sondern der Umgang mit einem vorhandenen Wissen, das man aber als schwaches Signal ignorieren konnte. In einer Welt, die sich lange als stabil auffassen ließ, musste man zumindest scheinbar keine Strategien für den Umgang mit fundamentaler Unsicherheit entwickeln (einzelne Unternehmen und Branchen ausgenommen). Man konnte sich in Vorträgen von der rauen VUKA-Welt berichten lassen, dabei aber den eigenen blinden Fleck im Hinblick auf fundamentale Unsicherheit als Thema, das auch eine praktische Relevanz haben könnte, bewahren. Man hängt gewissermaßen an den Resultaten langjähriger Unsicherheitsabsorption, die sich als bekannte Welt selbst validieren. Das gilt besonders, wenn man sich auf Risiken eingelassen hatte und es gut gegangen ist [...] . In diesem Sinne gibt es zahllose Organisationen, die von ihren Mißerfolgen leben, weil gerade sie sichere Entscheidungsgrundlagen bieten. (Luhmann 2015, S. 36) Auf Stufe 2 werden kompensatorische Maßnahmen ergriffen, wenn ein unerwartetes Ereignis eingetreten ist. Diese Maßnahmen bleiben aber ausschnitthaft und begrenzt. Wenn sich in einem Unternehmen beispielsweise ein Ar-beitsunfall ereignet, wird man auf Stufe 2 eine Ursachenanalyse vornehmen, um diese Unfallursache zukünftig abzustellen (ohne allerdings andere Unfallrisiken systematisch in den Blick zu nehmen). Diese Stufe zeichnet sich durch den Versuch aus, Risiken durch Festlegung von Standards, Regeln und Prozessen in den Griff zu bekommen. Die Grundannahme ist, dass man Unsicherheit durch eine ausgefeilte lineare Steuerungslogik in den Griff bekommen kann: Das Ziel ist das Aufrechterhalten eines "Normalzustands", zu jeder Abweichung lässt sich eine eindeutige Ursache feststellen, Abweichungen vom Plan werden mit der Nachbesserung des Plans beantwortet, der Mensch wird als Fehlerquelle betrachtet (Gebauer 2017, S. 91 ff.) . Die Gefahr dieses Musters besteht darin, dass ab einer gewissen Regeldichte typische dysfunktionale Nebeneffekte formaler Organisationen entstehen: Angesichts eines unüberschaubaren Regelwerks tritt Verunsicherung auf, Regelbefolgung auf der Schauseite und informelles Verhalten im Verborgenen klaffen auseinander, Fehler werden vertuscht, die Verantwortung wird hin-und hergeschoben, Regeln werden nicht mehr ernstgenommen, die Achtsamkeit gegenüber Abweichungen nimmt ab -"Es entsteht die Illusion von Kontrolle bei gleichzeitigem Ansteigen der Ungewissheit" (ebd., S. 82). Verbleibt man in dieser Logik, können sich also leicht dysfunktionale Muster einschleifen, die die organisationale Fähigkeit für den Umgang mit Unsicherheit dauerhaft einschränken, wie sie in der organisationstheoretischen Literatur (z. B. Ortmann 2004) vielfach beschrieben wurden. Auf den Stufen 1 bis 3 werden Systeme als triviale Maschinen im Sinne von Heinz von Foerster konzipiert. Dieses Denken stößt durch die selbstverstärkenden Muster in Stufe 3 an eine Glasdecke (Gebauer 2017, S. 244 ff.) , die nur durch eine andere Logik und ein komplexitätsadäquateres Verständnis von nicht-trivialen Systemen überwunden werden kann. In Diese Tugenden waren in der deutschen Corona-Politik nur in Ansätzen zu beobachten. Das bisherige Management der Pandemie lässt sich im Wesentlichen der Stufe 3 zuordnen (vgl. auch das einleitende Zitat des Bundespräsidenten). Die für Stufe 3 charakteristische Flut von Regeln und den Versuch, das Scheitern der regelbasierten Risikoeindämmung durch weitere, noch elaboriertere Regeln zu kompensieren, hat den öffentlichen Raum stark dominiert -die vorläufige mediale Kulmination war der oben schon erwähnte "Stufenplan", aber auch Gesundheitsämter, Schulen und Unternehmen hatten große Mühe, die fast täglich wechselnden und erweiterten Verordnungen und RKI-Empfehlungen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Wie auch in Organisationen häufig zu beobachten, hat sich die Sinnhaftigkeit vieler Regeln für viele nicht erschlossen, was zu einer Selbstentwertung des Regelsystems geführt hat. Ein interdisziplinär besetzter "Corona-Rat", der die Pluralität der Entscheidungslogiken in stärkerem Maße in politische Entscheidungsprozesse hätte einspiegeln können, ist zwar immer wieder angeregt, aber niemals realisiert worden. Überhaupt wurde die Pluralität der Perspektiven (so zumindest erschien es in den Medien) eher gegeneinander ausgespielt und nicht im Sinne der HRO-Prinzipien zunächst bewertungsfrei gewürdigt und als Ressource genutzt. So führten divergierende Positionen eher zu einem mit moralischem Unterton geführten Kampf um die Deutungsmacht, einer gegenseitigen Abwertung und einer zunehmenden Polarisierung der Debatte. Dass in Deutschland weniger und später zu Verbreitungsmechanismen des Virus geforscht wurde als in anderen Ländern, wurde in der Öffentlichkeit kritisiert -dass die Antezendentien der Infektion wesentlich weniger im Fokus der Forschung zu stehen schienen als ihre Folgen, hat sicherlich z. T. wissenschaftsethische Gründe, lässt sich aber auch als Perpetuierung des Stufe 2-Musters "Troubleshooting ist wichtiger als umfassende Situationsanalyse" lesen. Erfolgreiche Strategien anderer Länder kamen -zumindest in der öffentlichen Diskussion -kaum in den Blick (z. B. das nach der anfänglichen Verdrängungsstrategie ja offenbar recht erfolgreiche Corona-Containment in China) oder scheiterten an Regularien (wie eine wirksame Corona-App, die eines der zentralen Instrumente der erfolgreichen Corona-Politik in Taiwan war). Auch Modellversuche im eigenen Land (z. B. in Tübingen oder Rostock) wurden spät gestartet, im politischen Diskurs oft genug eher als moralisch prekäres Problem denn als Beitrag zur Lösung konnotiert und kaum im Hinblick auf nutzbare Erkenntnisse ausgewertet. Ähnliche Kritik an der Corona-Politik anderer Staaten vor dem Hintergrund der HRO-Forschung äußern Mirvis (2020), Sanders (2020) und Schulman (2021). Stufe 5 integriert die Praktiken und Kulturmerkmale der vierten Stufe, geht aber insofern über die vorangegangene Stufe hinaus als der kompetente Umgang mit Unsicherheit auf Stufe 5 als wesentlicher Beitrag zur Wertschöpfung der Organisation verstanden wird. Wie eine Kultur der kollektiven Achtsamkeit im Umgang mit Unsicherheit in politischen Entscheidungsprozessen gefördert werden könnte, ist nicht Gegenstand dieses Artikels. Die Pandemie hat aber gezeigt, was passiert, wenn Systeme Umweltkomplexität mit Problemlösungsmustern zu bewältigen versuchen, die die soziale Binnenkomplexität des Systems nicht hinreichend berücksichtigen. Für Führen und Entscheiden unter Unsicherheit lässt sich daraus lernen, wie wichtig kollektive Achtsamkeit, Multiperspektivität, psychologische Sicherheit und Bereitschaft zu einem evolutionären Lernen sind. In diesem Abschnitt sollen die wesentlichen Erkenntnisse des Artikels noch einmal gebündelt werden. Nicht erst die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass rationales Entscheiden unter VUCA-Bedingungen zunehmend an seine Grenzen stößt. Mit zunehmender Umweltdynamik wachsen Nichtwissen und fundamentale Unsicherheit, Systeme entziehen sich mit wachsender Komplexität einer linearen Steuerbarkeit. Anders als von der klassischen Theorie vorausgesetzt, können sich Entscheidungen in Organisationen in der Regel nicht an einem Ziel ausrichten, sondern müssen oft widersprüchlichen Erwartungen und Rationalitäten gerecht werden. In dieser Situation wachsen Unsicherheit, Stress und Angst auf der Seite der Entscheider*innen, da der Erwartungsdruck aus dem Umfeld trotz abnehmender Einflussmöglichkeiten oft aufrechterhalten bleibt. Führungsentscheidungen müssen dazu beitragen, dass Organisationen im Spannungsfeld konfligierender Ziele ihre Existenz sichern, was nur gelingt, wenn sie ein gewis-ses Maß an Folgebereitschaft der Beschäftigten gewährleis- Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation Macht in Organisationen. Denkwerkzeuge für Führung, Beratung und Change Management Macht und Führung. Gedanken zu Führung in einer komplexer werdenden Organisationslandschaft Neue Arbeitswelt, Führung und organisationaler Wandel Organisation und Unsicherheit -eine Einführung Das gesellschaftliche Unbehagen in der EU Increased generalized anxiety, depression and distress during the COVID-19 pandemic: a cross-sectional study in Germany Deciding for responsibility and legitimation: alternative interpretations of organizational decision-making. Accounting Leadership and ambiguity. The American college president Uncertainty: a typology and refinements of existing concepts Es geht nicht darum, wer recht hat. DIE ZEIT, Nr Handeln in Unbestimmtheit und Komplexität Die Angstfreie Organisation Subversion der Rationalität. Frankfurt/M.: Campus Kollektive Achtsamkeit organisieren. Strategien und Werkzeuge für eine proaktive Risikokultur Wie klug ist unser Bauch? DIE ZEIT Ausbruch. Innenansichten einer Pandemie Funktionen und Folgen formaler Organisationen (3. Aufl.) Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität Die Paradoxie des Entscheidens Managing in a VUCA World Ambiguity and command. Organizational perspectives on military decision making Reflections: US Coronavirus crisis managementlearning from failure. Donald Trump and more Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft (2. Aufl.). Hamburg: Murmann Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung. Frankfurt/M.: Suhrkamp Buridans Esel. Oder: Die Entübelung von Paradoxien nimmt überhand Vertrauen in Organisationen Die Psychologie der Entscheidung British government communication during the 2020 COVID-19 pandemic: learning from high reliability organizations Störungen und Fehler beim Denken und Problemlösen Reliability, uncertainty and the management of error: new perspectives in the COVID-19 era Das Management von Unsicherheit in Organisationen: Können Organisationen im Umgang mit Unsicherheit von den Erkenntnissen der High Reliability Theory lernen Paradoxiemanagement oder: Genie und Wahnsinn der Organisation Toward a theory of paradox: a dynamic equilibrium model of organizing. Academy of Management Prinzipien der Fairness als Führungskultur der Zukunft Ein ambidextres Führungsklima -Erfolgsfaktor in der neuen Arbeitswelt Einfach genial entscheiden (2. Aufl.). Freiburg: Haufe Das Unerwartete managen: Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen ten. Wo die Umsetzung angesichts begrenzter Machtmittel nicht erzwungen werden kann, müssen Entscheider*innen daher immer auch auf die Anschlussfähigkeit von Entscheidungen achten. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, welche Herausforderungen sich hier stellen: Gerade in hochgradig unsicherheitsbehafteten Situationen ist eine professionelle Kommunikation von großer Bedeutung. Hier wurden die Empfehlungen zur Krisenkommunikation, das Modell der Salutogenese und das Konzept der Change Story als hilfreiche Instrumente genannt.Ein weiterer für das Akzeptanzmanagement von Entscheidungen wichtiger Aspekt ist Vertrauen. Angesichts unklarer Zukunftsperspektiven und der Abhängigkeit von den Entscheidungen des Führungspersonals bedarf es einerseits eines hohen Maßes an Vertrauen in die fachliche Kompetenz und persönliche Integrität der Personen, die die Entscheidungen treffen. Im Kontext von Organisationen noch wichtiger erscheint allerdings das Systemvertrauen, d. h. der Glaube an die Funktionsfähigkeit von Institutionen und die regel-und verfahrensbasierte Entscheidungsfindung unabhängig von persönlichen Interessen und Urteilen. Im Artikel wurde ein Bezug zu den Forschungsbefunden zu prozeduraler Gerechtigkeit hergestellt.Akzeptanz von Entscheidungen und Systemvertrauen hängen auch davon ab, auf welchem Wege Entscheidungen zustande kommen. Auch hier besteht ein Spannungsfeld: Auf der einen Seite braucht es eine angemessene Einbindung verschiedener Akteure in Entscheidungsprozesse, auf der anderen Seite muss es gerade in Krisensituationen möglich sein, Entscheidungen schnell und auch gegen Widerstände treffen zu können. Hier besteht in vielen Organisationen noch ein Defizit in Bezug auf eine systematische, differenzierte und transparente Zuordnung der Entscheidungsverfahren, die sich für unterschiedliche Entscheidungsanlässe am besten eignen.Abschließend wurde anhand der HRO-Forschung geprüft, welche typischen Muster der Unsicherheitsbewältigung sich im deutschen Corona-Management beobachten ließen und welche allgemeinen Erkenntnisse sich daraus für Führen und Entscheiden unter Unsicherheit ableiten lassen. Hier wurde deutlich, dass ein immer ausgefeilteres System von Regeln nicht geeignet ist, um komplexe und dynamische Situationen zu bewältigen und dass es stattdessen einer Kultur der kollektiven Achtsamkeit bedarf, um Unsicherheit kompetent aufzufangen. Die Nutzung von Vielfalt als Ressource, die Stärkung der psychologischen Sicherheit und der Fokus auf soziales Lernen sind wichtige Entwicklungsfelder, die in vielen Organisationen noch intensiver bearbeitet werden müssen, um organisationale Resilienz für den Umgang mit künftigen Unsicherheiten auszubilden.Die Corona-Pandemie zeigt: Organisationen werden sich ebenso wie die Gesamtgesellschaft auf zunehmende Un-sicherheit einstellen müssen. Disruptionen in technologischer, wirtschaftlicher, sozialer oder gesundheitlicher Hinsicht sind keine "schwarzen Schwäne" mehr. Organisationen können nicht im permanenten Krisenmodus existieren, sondern müssen daran arbeiten (und tun es vielfach bereits), Resilienzfähigkeiten für das Entscheiden unter Unsicherheit als neuer Normalität zu entwickeln. Um es mit den Worten der Verfassungsrichterin und Schriftstellerin Juli Zeh zu sagen: "Die Art, miteinander zu sprechen und zu entscheiden, darf nicht unter der suspendierenden Bedingung des Ausnahmezustands stehen. Andersherum gesagt, wir müssen unseren Normalitätsbegriff so normalisieren, dass er auch große Störfälle umfasst" (Dorn et al. 2021) .Natürlich ist das Thema Entscheidungen unter Unsicherheit damit nicht abschließend behandelt. Viele relevante Aspekte (z. B. Angst, Stress und Resilienzfähigkeit auf der Seite der Entscheider*innen, Risikowahrnehmung, Einflüsse des organisationalen Kontextes, die Bedeutung von Mikropolitik auf Entscheidungsprozesse unter Unsicherheit, gruppendynamische Faktoren, organisationale Struktur-und Kulturmerkmale) konnten in diesem Beitrag nicht oder nur ansatzweise thematisiert werden. Wünschenswert wären vor allem eine intensivere interdisziplinäre Konzeptentwicklung und Forschungsaktivität zu Entscheiden unter Unsicherheit, um der steigenden Relevanz dieses facettenreichen Themas Genüge zu tun.Funding Open access funding provided by University of Klagenfurt.Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. PD Dr. Falko von Ameln ist Organisationsberater und Führungscoach. Er ist an verschiedenen Universitäten und Instituten in der Ausbildung von Führungskräften und Berater/innen engagiert. Habilitation mit venia Beratungswissenschaft, Editor-in-Chief der Zeitschrift "Gruppe. Interaktion. Organisation. (GIO)".