key: cord-0790912-oft32f3w authors: Heine, Michael; Herr, Hansjörg title: Europäische Währungsunion: schlecht gerüstet für große Krisen date: 2021-05-17 journal: Wirtschaftsdienst DOI: 10.1007/s10273-021-2921-6 sha: 1f5fc077c6af70d8bc117c9b7149e8a916c8c315 doc_id: 790912 cord_uid: oft32f3w Even before the COVID-19 crisis, the European Monetary Union (EMU) exhibited an unsatisfactory economic development with low growth and inflation rates below the target rate of the central bank. Macroeconomic coordination among monetary and fiscal policy is necessary to fend off such large crises. Insufficient wage increases that lead to deflation need to be avoided. Last, but not least, a mechanism is needed to stabilise the financial system and quickly deal with non-performing loans. Except in the field of monetary policy, the EMU lacks institutions that support quick and sufficient economic policies. There is the danger that policy mistakes will lead to long-term stagnation in the EMU or possibly even a great recession. Wenngleich es bereits in der zweiten Hälfte 2019 zu einem konjunkturellen Abschwung in der Europäischen Währungsunion (EWU) gekommen war, hat die Corona-Pandemie diese Abwärtsbewegung erheblich beschleunigt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist seit der Großen Depression in den 1930er Jahren in Europa nicht mehr so stark gesunken wie 2020. Bekanntlich sinken bei wirtschaftlichen Abschwüngen die staatlichen Einnahmen, und es steigen die Ausgaben. Daher ließ sich die Schuldenbremse, ohne desaströse Konsequenzen zu riskieren, nicht verteidigen. Sie wurde außer Kraft gesetzt. Damit hat die Fiskalpolitik erstmals seit der Finanzmarktkrise 2007/2008 wieder an einem Strang gezogen mit der seit Jahren expansiv ausgerichteten Geldpolitik. Obwohl die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie noch nicht abzuschätzen sind, ist vor allem in Deutschland eine heftige Diskussion entbrannt, wie es mit der Schuldenregel weitergehen soll. Z. B. hat der eher moderate Vorschlag von Kanzleramtschef Helge Braun, die Schuldenbremse zeitweilig auszusetzen und dazu das Grundgesetz zu ändern, heftige Kritik ausgelöst. Mit sehr unterschiedlichen Begründungen wurde stattdessen etwa vom haushaltspolitischen Sprecher der CDU-Fraktion im Bundestag, Eckhardt Rehberg, oder auch vom ifo-Präsidenten Clemens Fuest gefordert, möglichst schnell zur Schuldenbremse und Haushaltskonsolidierung zurückzukehren (Tagesschau, 2021) . Sollte Deutschland -wahrscheinlich gemeinsam mit seinen nordeuropäischen Verbündetenals das ökonomisch stärkste und zugleich stabiles Land bereits 2022 diesem Rat folgen, würden so die Weichen für die EWU insgesamt entsprechend gestellt. Die aktuelle Diskussion konzentriert sich auf die Ausgestaltung der Fiskalpolitik. Das ist für die künftige Entwicklung der EWU ohne Zweifel ein wichtiger Bereich. Aber diese Diskussion greift zu kurz, da so zentrale Problemfelder aus den Augen verloren werden, wie die Gefahren der hohen Verschuldung des staatlichen, jedoch vor allem privaten Sektors in einer Reihe von EWU-Ländern. Sollte die EWU in eine Stagnationsphase gleiten, dürfte dies zu einem scharfen Anstieg von notleidenden Krediten führen. Ein weiteres und völlig aus dem Blickfeld geratenes Problem ist der krisenbedingte Druck auf die Lohnentwicklung, der zu einer defl ationären Entwicklung massiv beitragen kann. Dies zeigen nicht nur theoretische Erwägungen, sondern auch ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte. Gerade die Große Depression, die nach 1929 einsetzte, aber auch die seit 20 Jahren hartnäckige Stagnation der japanischen Volkswirtschaft belegen eindrucksvoll, wie gefährlich defl ationäre Entwicklungen sind. Abbildung 1 Vierteljährliche Veränderungen des realen BIP, der Infl ationsrate und der Nominallöhne in der Eurozone jeweils 1. Quartal Quellen: ECB (2021); Eurostat (2021). Die wirtschaftliche Entwicklung in der EWU verläuft bereits seit der Finanzmarktkrise 2007/2008 unbefriedigend. Das durchschnittliche jährliche Wachstum des realen BIP betrug in der EWU von 2008, dem ersten Jahr der Großen Rezession, bis 2019 nur gut 1 % (vgl. Abbildung 1). Die Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern waren erheblich. Während die EWU von 2007 bis 2019 insgesamt um 9,5 % wuchs, lagen die Werte z. B. für Deutschland bei 14,6 %, für Frankreich bei 11,4 %, für Spanien bei 6,6 %, für Portugal bei 4,9 %, für Italien bei -0,03 % und für Griechenland bei -23,2 % (OECD, 2021). Nach Zahlen der Europäischen Zentralbank (ECB, 2020) dürfte das BIP 2020 in der EWU insgesamt um 7,3 % geschrumpft sein. Auch hier verzeichnet Deutschland mit -5,5 % im Vergleich zu Portugal mit -8,1 %, Italien mit -9 %, Frankreich mit -9,3 %, Griechenland mit -10 % und Spanien mit -11,1 % relativ gute Werte. Für 2021 erwartet die EZB eine Erholung des BIP von 3,9 %. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung überrascht es nicht, dass die Arbeitslosigkeit in der EWU hoch ist und 2020 auf 8,3 % anstieg. Dabei lagen -wie zu erwarten -Länder wie Griechenland mit 18 %, Spanien mit 16,7 %, Italien mit 9,9 % oder Frankreich mit 8,5 % deutlich vor Deutschland (4 %) (EK, 2020). Die schleppende Konjunktur spiegelte sich auch in den Veränderungen des Preisniveaus wider. 2003 hatte die EZB ihr damaliges Infl ationsziel, das zwischen Null und 2 % lag, aufgrund sehr niedriger Infl ationsraten vor allem in Deutschland (2003 rund 1 %) und wegen der Furcht, man könne bei einer Infl ationsrate von nahe Null schnell in eine Defl ation abrutschen, auf knapp unter 2 % korrigiert. Damit sollten defl ationäre Gefahren vermieden werden (Heine und Herr, 2021) . Dieses Infl ationsziel hat die EZB ab 2013 trendmäßig deutlich verfehlt (vgl. Abbildung 1). 2020 betrug die Infl ationsrate in der Eurozone 0,2 %, und einige Euroländer waren mit einem fallenden Preisniveau konfrontiert. In Griechenland fi el es um 1,3 %, in Zypern um 1,2 %, in Estland und Irland um 0,6 % und in Italien, Portugal und Slowenien um 0,2 %. Für 2021 erwartet die EZB für die Währungsunion erneut eine sehr niedrige Infl ationsrate von 1 % und für 2022 von 1,1 % (ECB, 2020). Der Hauptgrund für die niedrige Infl ationsrate liegt in den zu geringen Lohnerhöhungen. Aufgrund der unbefriedigenden ökonomischen Entwicklung nach der Großen Rezession blieb der Druck auf die Tarifparteien hoch, gemäßigte Lohnabschlüsse zu vereinbaren. Von 2011 bis 2020 sind die Nominallöhne je Beschäftigten in der EWU jährlich nur um 1,7 % gestiegen. Aber auch hier gab es Unterschiede zwischen den Ländern. So stiegen sie in Deutschland um 2,3 %, in Italien um 0,9 % und in Spanien um 0,7 %. In Griechenland sanken sie in diesem Zeitraum im Jahresdurchschnitt um 2,3 % (EK, 2020). Die Entwicklung der Nominallöhne spiegelt sich in der Entwicklung der nominalen Lohnstückkosten wider. Denn Lohnerhöhungen lassen sie steigen und Produktivitätsfortschritte lassen sie sinken. Die Entwicklung der Lohnstückkosten ist nach Keynes (1930) der wichtigste Faktor für die Preisniveauentwicklung. Die nominellen Lohnstückkosten erhöhten sich in der EWU von 2011 bis 2019 jährlich durchschnittlich nur um 1,09 %. In Deutschland stiegen sie überdurchschnittlich an, nachdem sie von Mitte der 1990er Jahre bis zur Großen Rezession stagnierten. Geringe Erhöhungen verzeichneten beispielsweise Frankreich und Italien. In Spanien war der Anstieg der Lohnstückkosten null, und Griechenland musste fallende Lohnstückkosten hinnehmen (Eurostat, 2021) . Aufgrund dieser Entwicklung konnte die EZB ihr Infl ationsziel nicht realisieren. Funktional wäre eine Erhöhung der Nominallöhne gewesen, die der gestiegenen Trendproduktivität plus der Zielinfl ationsrate der EZB entspricht. Die Arbeitsproduktivität stieg in der EWU von 2011 bis 2019 jährlich um durchschnittlich 0,81 % (OECD, 2021). Somit hätten die Nominallöhne bei einer Zielinfl ationsrate von etwa 1,9 % um durchschnittlich rund 2,7 % und nicht nur um 1,09 % steigen müssen. Bei einer solchen Abweichung steht eine Zentralbank auf verlorenem Posten. Am Rande sei erwähnt, dass es noch weitere Defl ationstreiber gab. Der Preis für Rohöl stürzte von einem Niveau über 100 US-$ pro Barrel Ende 2014 auf ein Niveau von derzeit unter 60 US-$ ab, was die niedrige Infl ationsrate weiter begünstigte (OECD, 2021). wurde der Fiskalvertrag unterzeichnet, der alle EWU-Länder unter anderem verpfl ichtet, keine strukturellen Defi zite von mehr als 0,5 % am BIP zuzulassen und die Verschuldungsquote der öffentlichen Haushalte auf 60 % zu reduzieren (Blyth, 2013 Ohne Zweifel wird die Corona-Krise zu einem Anstieg fauler Kredite führen. Die EZB geht bei einem negativen, aber plausiblen Szenario davon aus, dass sich die faulen Kredite in der EWU 2022 auf 1,4 Billionen Euro (deutlich über 10 % des BIP) akkumulieren könnten. Mitte 2020 beliefen sie sich noch auf 0,55 Billionen Euro. Besonders problematisch ist, dass sich die faulen Kredite schwerpunktmäßig in den Ländern sammeln, die bereits eine hohe Staatsverschuldung aufweisen (ECB, 2021b) und folglich relativ wenig Potenzial für Gegenmaßnahmen besitzen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen durch die Staatsschuldenkrise besteht die Gefahr, dass sich die vergleichsweise stabilen Länder wie Deutschland oder die "sparsamen Vier" weigern, den Krisenländern zu helfen. Eine an sich notwendige EWU-weite Lösung steckt noch in den Kinderschuhen. Im Rahmen der Europäischen Bankenunion wurde 2015 zwar ein einheitlicher europäischer Bankenabwicklungsmechanismus beschlossen und ein europäisches Abwicklungsgremium geschaffen. Letzteres hat zur Unterstützung seiner Aufgaben einen Abwicklungsfonds zur Verfügung, der schrittweise aufgebaut und 2023 0,06 Billionen Euro oder 1 % der Bankeinlagen umfassen soll (Single Resolution Board, 2020) . Dass dieser Betrag bei einer ernsthaften Krise nicht ausreichen wird, liegt auf der Hand. Da es zudem keine gemeinsame Einlagenversicherung in der EWU gibt, dürfte es dann auch wieder zu massiven Verlagerungen von Einlagen aus Krisenländern in stabilere Länder kommen. Ungemach droht der EWU auch auf der globalen Ebene. Im neuesten Report der Weltbank (World Bank, 2021), der 69 Länder umfasst, werden die erheblichen Risiken, die aus der externen Verschuldung von Entwicklungsländern resultieren, deutlich herausgearbeitet. Kommt es hier zur Krise, bleibt die EWU gewiss nicht ungeschoren. Zusammenfassend sieht die Lage der Eurozone alles andere als rosig aus. Es existieren unzweifelhaft erhebliche Risiken, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die ökonomische Lage außer Kontrolle gerät. Selbstverständlich befi nden sich die Mitgliedstaaten der EWU in einer anderen ökonomischen Situation als vor der Großen Depression. So gibt es keinen Goldstandard mehr, der die Geldpolitik einer Reihe von Ländern einengte. Es gibt auch keine destabilisierende Verschuldung zwischen den entwickelten Ländern insbesondere aufgrund der Reparationsverbindlichkeiten Deutschlands als Resultat des Versailler Vertrags von 1919. Gleichwohl fi nden sich einige interessante Parallelen. Nehmen wir die USA in den 1920er Jahren. Aufgrund ihrer international dominanten Stellung besaß sie große geldpolitische und fi skalische Spielräume. In den 1920er Jahren entwickelte sich in den USA eine Spekulationsblase auf den Aktienmärkten und auch die Immobilienmärkte zeigten Übertreibungen. Beispielsweise hatte sich der Wert des Dow Jones Industrial Average Index von 1925 bis 1929 verdreifacht. Die Verschuldungsquoten von Unternehmen und privaten Haushalten stiegen stark an. Obwohl kein Zweifel bestand, dass es sich um eine Blase handelte, war es innerhalb der US-Zentralbank (Fed) höchst umstritten, mit welchen Maßnahmen man der Blase Luft entziehen sollte. Während die eine Fraktion Zinserhöhungen vorschlug, wollte die andere die Kreditvergabe für Spekulationszwecke beschränken (Ahamed, 2018) . Letztlich blieben die Zinssätze niedrig und man tat nichts. Für diese Linie sprach scheinbar, dass die Infl ationsrate Ende der 1920er Jahre sehr niedrig wurde und auch die Rohstoffpreise defl ationäre Entwicklungen zeigten. Als die Aktienblase 1929 platzte und eine Vermögensmarktdefl ation einsetzte, kam es zur Krise. Im Kampf dagegen wurden allerdings massive Fehler begangen, sodass es zur Großen Depression und einer rund zehnjährigen Stagnationsphase kam. Das reale BIP von Ende 1929 konnte erst 1940 in den USA wieder erreicht werden (Ahamed, 2018; Dodig und Herr, 2015) . Welche Fehler waren es, die aus einer zyklischen Krise eine Große Depression machten? (Kindleberger, 1973) . Die Ursachen für die Große Depression und ihre Folgen fi nden sich in erster Linie in wirtschaftspolitischen Fehlern, die wiederum auf falschen ökonomischen Vorstellungen, spezifi schen Interessen und fehlenden Institutionen basierten. Einige Parallelen zur Konstellation in der EWU drängen sich auf. Die Herren des Geldes, Wie vier Bankiers die Weltwirtschaftskrise auslösten und die Welt in den Bankrott trieben Lombard Street: A Description of the Money Market Credit to the non-fi nancial sector Austerity: The History of a Dangerous Idea Financial Crisis leading to stagnationselected historical case studies Economic Bulletin Eurosystem staff macroeconomic projections for the euro area countries Statistics ECB (2021b) Banking Supervision, Non-performing loans Statistical Annex of European Economy The Debt Defl ation Theory of Great Depressions The European Central Bank A Treatise on Money Die Weltwirtschaftskrise data Single Resolution Board Braun will Schuldenbremse aussetzen ‚Bad loans' of banks risking credit crunch Global Economics Prospects. Darkening Skies Abstract: Even before the COVID-19 crisis, the European Monetary Union (EMU) exhibited an unsatisfactory economic development with low growth and infl ation rates below the target rate of the central bank. Macroeconomic coordination among monetary and fi scal policy is necessary to fend off such large crises. Insuffi cient wage increases that lead to defl ation need to be avoided. Last, but not least, a mechanism is needed to stabilise the fi nancial system and quickly deal with non-performing loans. Except in the fi eld of monetary policy, the EMU lacks institutions that support quick and suffi cient economic policies. There is the danger that policy mistakes will lead to long-term stagnation in the EMU or possibly even a great recession. JEL Classifi cation: E6, H12, J3