key: cord-0780572-aixwk3cx authors: nan title: Werbeverbot für Fernbehandlung und Ausnahmetatbestand des 9 S. 2 HWG: HWG 9; UWG 3, 3a; Arbeitsunfähigkeits-RL 4 date: 2022-05-03 journal: Medizinrecht DOI: 10.1007/s00350-022-6204-z sha: 515bb23ee8588d9694c65b21fe944c87a9bce50f doc_id: 780572 cord_uid: aixwk3cx 1. Die Bewerbung von (asynchroner) Fernbehandlung, bei der die Anamnese ausschließlich auf Antworten des Patienten zu vorformulierten Fragen beruht, ohne dass der Arzt die Möglichkeit hat, dem Patienten Rückfragen per Telefon oder Video-Chat zu stellen, verstößt gegen 9 S. 1 HWG. 2. Die Bewerbung einer solchen Form der Fernbehandlung ist auch nicht von 9 S. 2 HWG zugelassen, weil eine Einzelfallprüfung i.S.d. 7 Abs. 4 MBO-Ä nicht stattfinden kann und somit nicht den “allgemein anerkannten fachlichen Standards” i.S.d. 9 S. 2 HWG entspricht. 3. Nur wenn die in der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie des G-BA geregelten Voraussetzungen zur Feststellung von Arbeitsunfähigkeit im Wege von Fernbehandlung eingehalten werden, kann es allgemein anerkannten fachlichen Standards entsprechen, die Arbeitsunfähigkeit ohne eine unmittelbare ärztliche Untersuchung festzustellen. Fernbehandlung, bei der die Anamnese ausschließlich auf Antworten des Patienten zu vorformulierten Fragen beruht, ohne dass der Arzt die Möglichkeit hat, dem Patienten Rückfragen per Telefon oder Video-Chat zu stellen, verstößt gegen § 9 S. 1 HWG. 2. Die Bewerbung einer solchen Form der Fernbehandlung ist auch nicht von § 9 S. 2 HWG zugelassen, weil eine Einzelfallprüfung i. S. d. § 7 Abs. 4 MBO-Ä nicht stattfinden kann und somit nicht den "allgemein anerkannten fachlichen Standards" i. S. d. § 9 S. 2 HWG entspricht. 3. Nur wenn die in der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie des G-BA geregelten Voraussetzungen zur Feststellung von Arbeitsunfähigkeit im Wege von Fernbehandlung eingehalten werden, kann es allgemein anerkannten fachlichen Standards entsprechen, die Arbeitsunfähigkeit ohne eine unmittelbare ärztliche Untersuchung festzustellen. OLG Hamburg, Beschl. v. 29 (2) Für den auf Wiederholungsgefahr gestützten Unterlassungsanspruch muss das beanstandete Verhalten der Bekl. sowohl zum Zeitpunkt der Vornahme als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats rechtswidrig sein (st. Rspr; vgl. nur BGH, GRUR 2018, 438, Rdnr. 9 -Energieausweis, m. w. N.). § 9 HWG wurde mit Wirkung v. 19. 12. 2019 -also nach Verkündung des erstinstanzlichen Urt. v. 3. 9. 2019 -durch den neu angefügten S. 2 ergänzt, der das in S. 1 normierte generelle Werbungsverbot auf die Werbung für bestimmte Fernbehandlungen für nicht anwendbar erklärt. Danach ist hier maßgebend, ob das angegriffene Verhalten zum einen unter Geltung des § 9 HWG a. F. unzulässig war und zum anderen unter Geltung des § 9 HWG n. F. weiterhin unzulässig ist. (3) Das angegriffene Verhalten der Bekl. war nach § 9 HWG a. F. unzulässig und ist dies auch weiterhin unter Geltung des § 9 HWG n. F. Bei dieser gesetzlichen Regelung handelt es sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt (Pfohl, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 232. EL August 2020, § 9 HWG, Rdnr. 1), weshalb es unerheblich ist, ob die Durchführung der Fernbehandlung tatsächlich beabsichtigt oder erfolgt ist (KG, GRUR-RS 2019, 40959, Rdnr. 17 -Werbung für ärztliche Fernbehandlung). Dem-entsprechend ist auch die einzelne ärztliche Behandlung nicht zu bewerten, womöglich unter Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe. Es geht um die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen. (a) Nach § 9 HWG a. F. war eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden unzulässig, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung). Werbung i. S. d. Heilmittelwerberechts sind alle informationsvermittelnden und meinungsbildenden Aussagen, die darauf abzielen, die Aufmerksamkeit der Adressaten zu wecken und deren Entschlüsse mit dem Ziel der Förderung des Absatzes von Waren oder Leistungen i. S. d. § 1 HWG zu beeinflussen (BGH, NJW 1995, 3054 -Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie; Fritzsche, in: Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl., § 1 HWG, Rdnr. 5). So liegt es im vorliegenden Fall. Aus der Anlage K … lässt sich der werbende Charakter schon anhand der Formulierungen wie "Hier erhalten Sie Ihre AU-Bescheinigung einfach online per Handy nach Hause" oder "Symptome checken -Risiken ausschließen -Daten eingeben -Einfach bezahlen -Fertig" ohne weiteres erkennen. Die Aussagen der Bekl. zielen aus Sicht der angesprochenen Verkehrskreise, hier des allgemeinen Verkehrs, zu dem auch die Mitglieder des Senats zählen, konkret darauf ab, Aufmerksamkeit zu wecken und so den Absatz der Dienstleistung der Bekl. zu fördern. Die angegriffene Werbung bewirbt Fernbehandlungen, da der Arzt im konkreten Setting für den angesprochenen Verkehr erkennbar zu keinem Zeitpunkt in unmittelbaren Kontakt mit dem Patienten kommt und die Anamnese auf den Antworten des Patienten auf vorformulierte Fragen beruht. (b) An der Unzulässigkeit der hier angegriffenen Werbung der Bekl. hat sich auch ab dem 19. 12. 2019 durch die nach der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils ergänzte gesetzliche Regelung des § 9 S. 2 HWG nichts geändert. Nach § 9 S. 2 HWG ist S. (cc) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erfüllt die Werbung der Bekl. nicht die Voraussetzungen des § 9 S. 2 HWG. Im Rahmen des Geschäftsmodells der Bekl. muss der Interessent zunächst online verschiedene Fragen beantworten, die vor allem die Symptome und die Risikofaktoren des Nutzers betreffen. Wenn die Antworten zu der Diagnose einer Erkältung passen, werden sie an den "Tele-Arzt" gesendet, welcher die mitgeteilten Symptome überprüft und eine entsprechende AU-Bescheinigung ausstellt, sollten die mitgeteilten Symptome mit der vermuteten Diagnose einer Erkältung übereinstimmen. Wenn die Antworten auf die voreingestellten Fragen nicht zu der entsprechenden Diagnose führen, erscheint eine Meldung, wonach der Patient den Dienst nicht nutzen könne. Es steht dem Patienten dann allerdings offen, die Fragen erneut zu beantworten. Wenn der Arzt eine AU-Bescheinigung ausstellt, wird diese per WhatsApp und per Post an den Nutzer geschickt. Der Arzt kommt zu keinem Zeitpunkt in Kontakt mit dem Patienten, es sei denn er hält Rückfragen per Telefon oder Video-Chat für notwendig. Zu diesem Fall kommt es im streitgegenständlichen Setting aber voraussehbar nicht, da dem Arzt nur solche Antworten übermittelt werden, die zur Diagnose einer Erkältung passen. Fälle, in denen Rückfragen angezeigt wären, werden vom System vorzeitig aussortiert. Die Anamnese beruht in diesem Setting ausschließlich auf den Antworten des Patienten auf die vorformulierten Fragen. Eine Abwägung im Einzelfall kann auf diese Weise nicht stattfinden. Das würde vielmehr voraussetzen, dass sich der behandelnde Arzt einen umfassenden Eindruck vom Gesundheitszustand des Patienten verschafft. Dies ist durch das voreingestellte Setting im Rahmen des beworbenen Geschäftsmodells gerade nicht möglich. Anders als die Bekl. meint, führt dieses Ergebnis auch nicht zu einer generellen Unzulässigkeit telemedizinischer Behandlungen, was dem Willen des Gesetzgebers widerspräche. Dies liegt zunächst schon daran, dass § 9 HWG nur die Bewerbung der Fernbehandlung und nicht die Zulässigkeit der Fernbehandlung als solche betrifft. Darüber hinaus schließt dieses Ergebnis auch Fernbehandlungen als solche nicht aus, da lediglich eine Prüfung des konkreten Einzelfalls hinsichtlich der medizinischen Vertretbarkeit einer ausschließlichen Fernbehandlung vorgenommen werden muss. Eine telemedizinische Behandlung kann erhebliche Vorteile bieten, die dem Patienten nicht vorenthalten werden sollen. Dies gilt aber nur, soweit der behandelnde Arzt überprüfen kann, ob ein persönlicher Kontakt zum Patienten im konkreten Einzelfall tatsächlich nicht notwendig ist, wie z. B. im Rahmen einer Videosprechstunde. Auch der Einwand der Bekl., ihr seien nach über 70.000 Ferndiagnosen keinerlei Fehldiagnosen gemeldet worden, vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Unabhängig davon, ob bisher tatsächlich keine Fehldiagnosen gestellt wurden oder diese aus anderen Gründen nicht an die Bekl. herangetragen wurden, führt dieser Einwand nicht zu einem Wegfall der notwendigen Prüfung im konkreten Einzelfall. (dd) Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit den neuesten Entwicklungen während der derzeitigen COVID-19-Pandemie. Während der Pandemie besteht ein erhebliches Interesse daran, dass Patienten mit entsprechenden Symptomen eine AU-Bescheinigung erhalten, ohne durch einen physischen Besuch beim Arzt das Ansteckungsrisiko vor Ort zu vergrößern. § 8 Abs. 1 der einschlägigen Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie (AU-RL) sieht insoweit vor, dass der G-BA eine Ausnahme der grundsätzlichen Regel des § 4 AU-RL durch Beschl. insofern zulassen kann, dass die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bei Versicherten mit Erkrankungen der oberen Atemwege, die keine schwere Symptomatik vorweisen, für einen Zeitraum von bis zu 7 Kalendertagen auch nach telefonischer Anamnese und zwar im Wege der persönlichen ärztlichen Überzeugung vom Zustand der oder des Versicherten durch eingehende telefonische Befragung erfolgen darf. Das Fortdauern der Arbeitsunfähigkeit kann danach im Wege der telefonischen Anamnese einmalig für einen weiteren Zeitraum von bis zu 7 Kalendertagen festgestellt werden. Von diesen Möglichkeiten hat der G-BA im Frühjahr 2020 befristet Gebrauch gemacht. Die Möglichkeit der telefonischen Anamnese ist eine Maßnahme der Risikominimierung in einer Ausnahmesituation während der COVID-19-Pandemie. Daran (2) Soweit in der Entscheidung auf die Erhebung der Symptome von Erkältungskrankheiten abgestellt worden ist, sind die entsprechenden Ausführungen auch auf dievorliegend ebenfalls streitgegenständliche -Erhebung von Symptomen von Regelschmerzen übertragbar. (3) Die Ausnahmeregelung von § 9 S. 2 HWG setzt voraus, dass ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nach allgemein anerkannten fachlichen Standards nicht erforderlich ist. Dass die Voraussetzungen dieser Ausnahmeregelung nicht vorliegen, ergibt sich nicht nur -wie der 5. Zivilsenat des Hans. OLG mit Urt. v. 5. 11. 2020 zutreffend ausgeführt hat -aus dem Gesetzgebungsverfahren, den einschlägigen ärztlichen Berufsordnungen und der COVID-19-bedingten Sonderregelung in § 8 der AU-Richtlinie des GB-A, sondern darüber hinaus auch aus § 4 der AU-Richtlinie. Denn nach § 4 Abs. 1 S. 1 der AU-Richtlinie sind bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit der körperliche, geistige und seelische Gesundheitszustand der oder des Versicherten gleichermaßen zu berücksichtigen, weshalb die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nur auf Grund einer unmittelbar persönlichen ärztlichen Untersuchung erfolgen darf. Nach § 4 Abs. 5 der AU-Richtlinie kann die Arbeitsunfähigkeit zwar auch mittelbar persönlich im Rahmen von Videosprechstunden festgestellt werden. Dies ist jedoch nur zulässig, wenn die oder der Versicherte der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt oder einer anderen Vertragsärztin oder einem anderen Vertragsarzt derselben Berufsausübungsgemeinschaft aufgrund früherer Behandlung unmittelbar persönlich bekannt ist und die Erkrankung dies nicht ausschließt. Nur wenn diese Voraussetzungen eingehalten werden, kann es allgemein anerkannten fachlichen Standards entsprechen, die Arbeitsunfähigkeit ohne eine unmittelbare ärztliche Untersuchung festzustellen. Dies kann der Senat -ebenso wie das LG -entscheiden, ohne ein ärztliches Sachverständigengutachten einzuholen. Vorliegend fehlt es nach dem Setting der Bekl. zum einen daran, dass schon keine Videosprechstunde in Rede steht. Zum anderen ist nicht ersichtlich, dass die Kunden der Bekl. dem "Tele-Arzt" bereits bekannt gewesen wären. (4) Entgegen der Ansicht der Bekl. liegt auch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Insbesondere ergibt sich ein solcher Verstoß nicht daraus, dass das LG den bestrittenen Beklagtenvortrag, wonach der Bekl. bei über 70.000 Ferndiagnosen bisher keine Fehldiagnose gemeldet worden sei, unberücksichtigt gelassen hätte. Denn dieses Vorbringen führt -unabhängig davon, ob dieser Vortrag zutreffend ist -im Hinblick auf die entscheidende Frage, ob die beworbene Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit unter Einhaltung der maßgeblichen rechtlichen Regelungen erfolgt, nicht zu einer anderen rechtlichen Bewertung. Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch ist somit nach § § 8 Abs. Die in der streitgegenständlichen Werbung erfolgten Angaben "100 % gültiger AU-Schein" und "100 % Akzeptanz bei Arbeitgebern und Krankenkassen" sind irreführend i. S. von § 5 UWG. a) Die beworbene Dienstleistung "Krankschreibung ohne Arztbesuch" wendet sich ausweislich des Inhalts der streitgegenständlichen Werbung und des Inhalts der ausgestellten Bescheinigungen an Kunden, die eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, insbesondere zur Vorlage beim Arbeitgeber oder bei der Krankenkasse, benötigen. Der angesprochene Verkehr versteht die Angaben -wie die Kl. zutreffend vorgetragen hat -dahin, dass die beworbenen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ohne Wenn und Aber sowohl von den Arbeitgebern als auch von den Krankenversicherungen akzeptiert werden. b) Diese Annahme des Verkehrs ist jedoch falsch und damit irreführend. ' Die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit schafft in der Regel die Voraussetzung für den Anspruch der Versicherten auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle oder Krankengeld. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gemäß § 3 EFZG und die Zahlung von Krankengeld gemäß § 44 SGB V setzt jedoch voraus, dass eine ordnungsgemäße Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gemäß § 5 EFZG bzw. § 46 SGB V vorgelegt wird. Daran fehlt es hier, denn die von der Bekl. beworbene Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erfolgt -wie oben ausgeführt -unter Verstoß gegen die maßgeblichen rechtlichen Anforderungen. Es ist daher davon auszugehen, dass der Arbeitgeber bzw. die Krankenkasse -bei Kenntnis von diesem Umstand -die von der Bekl. beworbenen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zurückweisen werden. Dass dies -nach dem bestrittenen Beklagtenvorbringenbisher noch nicht der Fall gewesen sein soll, steht dem nicht entgegen. Denn aus den übersandten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ergibt sich nicht unmittelbar, dass die Tatsachengrundlage, auf der die Bescheinigung erstellt worden ist, unzureichend war. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Arbeitgeber und Krankenkassen die streitgegenständlichen Bescheinigungen zurückweisen werden, wenn sie von diesen Umständen Kenntnis erlangen. Entgegen der werblichen Angabe besteht somit nicht die 100 %-ige Sicherheit, dass die von der Bekl. ausgestellten AU-Bescheinigungen akzeptiert werden. Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch ist mithin sowohl nach § § 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 2, 3, 3a UWG i. V. mit § 9 HWG als auch nach § § 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 2, 3, 5 UWG begründet. […] Mithin dürfte die Verurteilung der Bekl. -im Ergebnis -zu Recht erfolgt sein, so dass die Berufung der Bekl. zurückzuweisen sein dürfte. II. […] MedR 2021, 912, m. Anm. Schmidt-Murra Anmerkung zu OLG Hamburg, Beschl. v. 29. 9. 2021 -3 U 148/20 (LG Hamburg) Nachdem der Gesetzgeber im Rahmen des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) mit § 9 S. 2 HWG eine neue Regelung zur Liberalisierung und Lockerung des bis dato strengen Werbeverbots für Fernbehandlung geschaffen hat, steht in letzter Zeit vermehrt die Bewerbung von neuen Geschäftsmodellen, die auf synchroner oder asynchroner Fernbehandlung basieren, auf dem gerichtlichen Prüfstand.Zuletzt hat der BGH geurteilt, dass eine Werbung für eine umfassende, nicht auf bestimmte Krankheiten oder Beschwerden beschränkte ärztliche Primärversorgung (Diagnose, Therapieempfehlung, Krankschreibung) im Wege der Fernbehandlung unzulässig ist, wenn nicht festgestellt werden kann, dass eine solche umfassende Fernbehandlung den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemeinen fachlichen Standards entspricht 1 .Leider nehmen die Gerichte bei ihren Entscheidungen zu § 9 S. 2 HWG überwiegend eine konservative Haltung ein und verschließen mit z. T. allgemeingültigen Aussagen zur (angeblichen) Insuffizienz von Fernbehandlungen regelmäßig die Augen vor den Möglichkeiten einer modernen digitalen Medizin. Auf der Basis dieser althergebrachten Sichtweise lässt die Rechtsprechung -soweit ersichtlich -nur einen sehr eingeschränkten Spielraum für die Bewerbung von Fernbehandlung (z. B. im Wege von Videosprechstunden o. ä.) zu.Der hier abgedruckte Hinweisbeschluss des OLG Hamburg spricht eine ähnliche Sprache. Im Wesentlichen schließt sich der hier entscheidende 3. Zivilsenat den Ausführungen des 5. Zivilsenats in der Entscheidung v. 5. 11. 2020 2 an und ergänzt nur noch durch wenige weiterführende Aspekte. Die folgenden Punkte verdienen eine besondere Betrachtung und Kommentierung: 1. § 9 S. 2 HWG als "Ausnahmeregelung"?Das OLG Hamburg geht -wie selbstverständlich und ohne weitere Erläuterungen -davon aus, dass es sich bei § 9 S. 2 HWG um eine "Ausnahmeregelung" zur grundsätzlichen Verbotsvorschrift des § 9 S. 1 HWG handelt.Diese Annahme ist weder selbstverständlich noch richtig. Bei näherer Betrachtung ist festzustellen, dass § 9 S. 2 HWG richtigerweise nicht als Ausnahmevorschrift zu § 9 S. 2 HWG zu qualifizieren ist, sondern als Regelung, die den Anwendungsbereich des Werbeverbots in § 9 S. 1 HWG definiert. Dies ist auch der Gesetzesbegründung zum DVG zu entnehmen. Dort heißt es, dass durch die Einführung des § 9 S. 2 HWG die "Reichweite des Werbeverbots", d. h. der Verbotsumfang definiert bzw. eingegrenzt werden sollte 3 . Entsprechend wird § 9 S. 2 HWG eingeleitet mit den Worten "Satz 1 ist nicht anzuwenden auf […]".Diese Rechtsauffassung hat das LG München I 4 in einem (bislang) unveröffentlichten Urteil ebenfalls vertreten und festgestellt, dass es sich bei § 9 S. 1 und S. 2 HWG nicht um Regel-Ausnahmevorschriften handelt, sondern durch § 9 S. 2 HWG lediglich der Rahmen des in § 9 S. 1 HWG enthaltenen Verbots näher beschrieben wird.