key: cord-0723211-u58z429a authors: Richter-Kornweitz, Antje; Holz, Gerda title: Krisenbewältigung geht vor, oder?: Kinderrechte in der Pandemie date: 2022-03-07 journal: Sozial Extra DOI: 10.1007/s12054-022-00468-1 sha: 13b2d646538ef978cc3dc278e1c79fd691aa3547 doc_id: 723211 cord_uid: u58z429a Kinderrechte sind nicht verhandelbar, sondern von Gesellschaft und Staat jederzeit zu gewährleisten. Doch die COVID-19-Pandemie und deren bisherige Bewältigung haben junge Menschen weitreichend getroffen, ohne dass die Kinderrechte als Messlatte öffentlichen Handelns galten. Die öffentliche Diskussion um die Pandemiefolgen für Kinder und Jugendliche konzentrierte sich eher auf wenige Teilaspekte und auch die subjektive Perspektive junger Menschen auf das Geschehen wurde vernachlässigt. Im Beitrag wird dies skizziert und nicht nur ein Ausgleich pandemiebedingter Defizite gefordert, sondern eine an den Vorgaben der Kinderrechte ausgerichtete, klare Verbesserung ihrer Situation für ihr gelingendes Aufwachsen in Wohlergehen. I n der Debatte um Kinderrechte spielen diese Aspekte eine große Rolle. Grundlegende Elemente des kindlichen Wohlergehens werden in der UN-Kinderrechtskonvention ausgehend von Artikel 3 in weiteren Artikeln konkretisiert. Sie zielen auf unterschiedliche Lebenslagedimensionen, u. a. auf Gesundheit (Artikel 24), soziale Sicherheit (Artikel 26), auf das Recht jedes Kindes auf den seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittli-chen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard (Artikel 27), auf Bildung (Artikel 28) sowie auf Freizeit (Artikel 31). Hervorzuheben ist außerdem Artikel 19, der Schutz vor Gewaltanwendung thematisiert. Ergänzend wird dies unter Einbezug des familiären Kontexts betrachtet. Und auch wenn die in der UN-Kinderechtskonvention festgeschriebenen Kinderrechte mittlerweile den Status eines einfachen Bundesgesetzes haben, kommt deren Verwirklichung auf kommunaler Ebene bislang stark verzögert an (Bär et al. 2021) . Im Gegenteil, unter den Pandemie-Bedingungen der letzten beiden Jahre scheinen Kinderrechte kaum zu gelten, sie waren einfach "kein Thema". Kinder und Jugendliche waren (und sind) quasi unsichtbar und zurückgeworfen auf den engsten Familienkreis. Sie tauchten erst langsam und ein knappes Jahr nach Pandemiebeginn als eigenständige Akteure und Betroffene im Gesellschaftsbild auf. Die Thematisierung ihrer Bedürfnisse angesichts der pandemiebedingten Einschränkungen beschränkte sich allerdings auf die -unbestreitbar bedeutenden -Fragen des Kinderschutzes und ihre allgemeine, überwiegend körperliche Unversehrtheit; letzteres jedoch meist nicht ohne auf die von ihnen ausgehenden Risiken als potenzielle Pandemietreiber aufmerksam zu machen. Diese Entwicklung betrifft die jungen Menschen in allen Altersphasen und ganz besonders diejenigen in Armutslagen. So wird die Belastung für die Kinder in Familien mit niedrigem Haushaltseinkommen deutlich höher eingeschätzt als in jenen mit gesicherter Finanzlage. Psychische Auffälligkeiten berichten laut COPSY-Studie des Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) im ersten Jahr der Pandemie ein Drittel der 7-bis 17-Jährigen, während es vor der Krise lediglich zwei von zehn Kindern waren. Im zweiten Jahr haben Ängste und Sorgen bei den Kindern noch einmal deutlich zugenommen. Sie zeigen häufiger depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden wie Bauch-und Kopfschmerzen oder Schlafprobleme (Ravens-Sieberer und Kaman 2021). Insgesamt weisen die Studien, die es bislang zu diesem Themenkomplex in Deutschland gibt, deutlich wachsende psychische Belastungen und Einbußen bezüglich des Wohlbefindens und der Lebensqualität bei 7-bis 17-Jährigen nach. Sie betreffen vor allem Familien mit jüngeren Kindern, mit niedrigem Sozialstatus, mit Migrationshintergrund und mit beengten Wohnverhältnissen (Schlack 2021 Dieser einseitige Blick blieb aus "Kindperspektive" nicht unbemerkt. Besonders kritisch bewerteten es beispielsweise Jugendliche, immer nur auf die Funktion als Schüler_innen beschränkt zu werden, anstatt mit allen ihren Bedürfnissen und ihrem Lebensalltag gesehen zu werden. Ebenso ist in der Pandemie die Unzufriedenheit unter Jugendlichen mit den Beteiligungsmöglichkeiten gerade in der Schule und darüber hinaus gestiegen: Nicht gehört zu werden wird als Ohnmachtsgefühl wahrgenommen (Andresen et al. 2021; Bertelsmann Stiftung/JuCo -Expert:innenteam Jugend und Corona 2021) . Die Einbeziehung der subjektiven Perspektiven von Kindern und Jugendlichen auf das eigene Dasein, mit der sie als Akteur_innen mit ihrer eigenen Verortung in der Welt und ihren Anstrengungen zur Identitätsbildung in den Fokus rücken sollten, kommt regelmäßig zu kurz, nicht nur in der Pandemie. Anders gesagt, ihr Recht auf Gehör und Mitbestimmung (Artikel 12) wird verletzt. Die öffentliche Verantwortung neben der elterlichen wurde bereits im 11. Kinder-und Jugendbericht (2002) definiert und ist als gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen zu verstehen. Entsprechend übernehmen alle Ebenen -allerdings meist mit höchst unterschiedlichen Zielvorstellungen, Themensetzungen und Maßnahmenplänen -wichtige Aufgaben -gerade jetzt. Während Bund und Länder vorrangig finanzielle und gesetzliche Regelungen sowie unterstützende Förder-programme zu verantworten haben, ist es Aufgabe der Kommunen durch Vorhaltung lokaler Infrastruktur und Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens ein gelingendes Aufwachsen in Wohlergehen zu fördern, umfassende Teilhabechancen zu eröffnen und dazu die Perspektive von Kindern und Jugendlichen auf Bedarf und Bedürfnisse zu beachten. In der Pandemie sind die Schwachstellen jeder Ebene sowie ihres Zusammenwirkens mehr als deutlich geworden (Klundt und Müller 2020; Holz und Kornweitz 2020) . Anzahl und Ausrichtung der Aktivitäten sind mittlerweile zwar beachtlich, was aber nichts über deren Bedarfsgerechtigkeit, Passgenauigkeit und zielgerichtete Wirkungen aussagt. Die von den Fachministerien aufgelegten Bundesprogramme wie "Digitalpakt Schule" (https://www.digitalpaktschule.de/) oder das Aktionsprogramm "Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche" (https://www. bmfsfj.de/bmfsfj/themen/corona-pandemie/aufholennach-corona) gehen auf in Landesprogrammen mit jeweils eigenen Akzenten, eigenen Verwaltungsregularien, auf jeweils eigenen Onlineportalen. Dies führt zu verlangsamter Umsetzung vor Ort, zu neuer Intransparenz und Unübersichtlichkeit, zu einem immensen Rechercheaufwand für Einzelpersonen, Fachkräfte und Institutionen. Eine sichtbare Folge ist, dass endlich bereitgestellte Bundes-/Landesgelder nicht beantragt werden, weil Personal fehlt oder mit anderen Formen der Krisenbewältigung ausgefüllt ist (Frenzel 2021). Die berechtigten und wiederkehrenden Forderungen aus Wissenschaft, Praxis und Interessenverbänden an Bund, Länder und Kommunen, Wohlbefinden und Rechte der Kinder zum Maßstab der politischen Entscheidungen zu machen, werden so konterkariert, statt gemeinsam vor Ort entsprechende Bedingungen des Aufwachsens zu schaffen. Aufgabe von Kommunen ist, gelingendes Aufwachsen in Wohlergehen zu fördern und fehlende Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen aktiv auszugleichen. Dabei werden sie -wie zuvor skizziert -mit der ungleichen Verteilung von Teilhabe-und Entwicklungschancen konfrontiert, mit ungleichen Chancen auf Gesundheit, Bildung und soziale Teilhabe, welche in engem, wechselseitigem Zusammenhang zur materiellen Lage der Familie stehen. Kommunen müssen sich ebenfalls mit dem Phänomen auseinandersetzen, dass Menschen mit besonders hohem Belastungsgrad durch präventive Angebote häufig weniger gut erreicht werden als andere ("Präventionsdilemma"; vgl. Bauer 2005) . Vor der Herausforderung, den Folgen dieser Ungleichheit -auch je-ner, die durch Entwicklungen jenseits der direkten kommunalen Einflussmöglichkeiten bedingt sind -aktiv zu begegnen und umfassende Teilhabe bedarfs-und bedürfnisgerecht zu realisieren, stehen alle Kommunen in Deutschland. Jedoch nicht alle greifen die Aufgaben im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Ausgangsbedingungen aktiv und umfassend genug auf. Tatsächlich zeigen sich sehr diverse kommunale Landschaften, regionale Ungleichheiten und Trends zunehmender räumlicher, regionaler und quartiersbezogener Ungleichheit, die den Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen prägen und dem Ziel entgegenstehen, ihnen bestmögliche Bedingungen des Aufwachsens zu gewährleisten. In der Pandemie wurden und werden die Schwachstellen im kommunalen Organisationsgefüge besonders deutlich. Personalmangel und Arbeitsüberlastung, fehlende technische Ausstattung, fehlende Qualifikation, schwergängige Routinen und Probleme, schnell und flexibel reagieren zu können sowie das immer noch weit verbreitete Denken in Zuständigkeiten kommen nicht in jeder Kommune, aber immer noch zu häufig, vor. Im Gegensatz zu den Pflichtaufgaben steckt die Entwicklung nachhaltiger präventiver Strukturen vor Ort noch in den Kinderschuhen, abgesehen von Leuchtturmprojekten und einzelnen Ansätzen auf Bundeslandebene. Das Aufwachsen im Wohlergehen für alle zu sichern, ist dagegen aktuell und künftig ein bedeutendes kinder-und jugendpolitisches Ziel, das soziale, entwicklungspsychologische und politische sowie planerische Elemente vereint und das Zusammenwirken der verschiedenen politischen Ebenen erfordert (Kruse und Richter-Kornweitz 2022) . Es beinhaltet die aktive, strategisch ausgerichtete Gestaltung der Rahmenbedingungen über die Bereitstellung multipler Ressourcen und die Förderung integrativer Prozesse. Dabei handelt sich um einen mittel-bis langfristigen, strategiegeleiteten Prozess, der zu einer nachhaltig verankerten (Infra-)Struktur führt, als entscheidender Beitrag zur Vermeidung von Armutsfolgen bei jungen Menschen. Ausgangspunkt für eine verlässliche kommunale Präventionsstruktur in diesem Sinne ist die Überzeugung, dass präventive Leistungen für Kinder und ihre Familien kommunale Pflichtaufgabe sind und ausgehend von Bedarf und Bedürfnissen bereitgestellt werden -nicht aus der Handlungslogik einzelner Ressorts. Eine solche Veränderung des kommunalen Systems erfordert einen Paradigmenwechsel und eine programmatisch ausgerichtete Politik, die die Belange armer Kinder oben auf die Agenda setzt -und damit aktive Prävention verfolgt, anstatt auf Defizite zu reagieren. Zuvorderst muss dazu der kommunale Wille vor Ort da sein und politisch ab-Sozial Extra gesichert werden. Politik und Verwaltung dürfen sich selbst nicht aus der Pflicht nehmen. Kinderrechte sind nicht verhandelbar, sondern von Gesellschaft und Staat jederzeit zu gewährleisten. Die Pandemie und deren bisherige Bewältigung zeigen, wie weitreichend junge Menschen von den Auswirkungen betroffen sind und wie wenig dies zur zentralen Messlatte öffentlichen Handelns wird. Vorgabe für die Zukunft ist, schnellstens eine umfassende Neuausrichtung vorzunehmen, bei der es nicht allein um den Ausgleich pandemiebedingter Defizite geht, sondern um eine an den Vorgaben der Kinderrechte ausgerichtete, klare Verbesserung ihrer Situation . s ∑ Eingegangen. 31. Januar 2022 Literatur Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pandemie Kinder bewegen sich weniger, essen schlechter und konsumieren mehr Medien Diskussionspapier. Digitale Kompetenzen in Deutschland -eine Bestandsaufnahme. RWI Materialien Heft 15. Essen: RWI -Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Handbuch kinderfreundliche Kommunen. Kinderrechte kommunal verwirklichen Fragt uns 2.0" -Corona-Edition. Anmerkungen von jugendlichen Expert:innen zum Leben von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie Elfter Kinder-und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder-und Jugendhilfe in Deutschland Kleine Kinder, kleine Sorgen? Folgen der Pandemie für Vorschulkinder. Folienvortrag auf dem 2. Düsseldorfer Symposium zu Kinderrechten und Kinderschutz -Kinder und Jugendliche in der Pandemie Bildungsund Gesundheitschancen von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie. Antwort der Bundesregierung auf die Learning loss due to school closures during the COVID-19 pandemic Weniger Erziehungshilfen -Eine Folge von Corona Nachgefragt: Mehr Gesundheitsförderung und Prävention für Kinder und Jugendliche -ein Baustein zur Überwindung der Pandemie? Mainz Häusliches Umfeld in der Krise: Ein Teil der Kinder braucht mehr Unterstützung -Ergebnisse einer Auswertung des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) Lerneinbußen und Bildungsbenachteiligung durch Schulschließungen während der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 Corona-Chronik. Gruppenbild ohne (arme) Kinder Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement? Positionen. Präventionsketten verankern. Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e Kinder und Jugendliche in der Coronavirus-Pandemie: psychosoziale und edukative Herausforderungen und Chancen Fact sheet: Studie "Soziale Arbeit Macht Gesellschaft Starke Kinder -chancenreich" -Arbeitspapier Seelische Gesundheit und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie Corona-Chronik -Gruppenbild ohne (arme) Kinder. Eine Streitschrift Sozialpädiatrie aktuell Schlaglicht: Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der COVID-19-Pandemie Zur Situation der körperlich-sportlichen Aktivität von Kindern und Jugendlichen während der CO-VID-19 Pandemie in Deutschland 93.100 Schülerinnen und Schüler wiederholten im Corona-Schuljahr 2020/2021 die Klassenstufe". Pressemitteilung Nr. N 002 vom 21 Bildung erneut im Lockdown: Wie verbrachten Schulkinder die Schulschließungen Anfang 2021? DIW Berlin: Schule in der Pandemie: Lernzeiten der Kinder hängen auch von der Bildung der Eltern ab