key: cord-0707417-v48qmpif authors: Dross, Fritz title: Vergesellschaftung unter Ansteckenden – für eine Körpergeschichte der Seuche date: 2020-05-11 journal: NTM DOI: 10.1007/s00048-020-00253-9 sha: eb8ad60756a2a49167148a0e754b5c6d615a5171 doc_id: 707417 cord_uid: v48qmpif This paper is part of Forum COVID-19: Perspectives in the Humanities and Social Sciences. Being a “trauma of mankind” epidemics have been a major subject of historical research for a long time and regarding every historical period. Recurring to the concept of Rudolf Schlögl (“Vergesellschaftung unter Anwesenden”) my proposal is to research epidemics as a history of the communicating body and thus including the contagium as part of this communication. Die Differenzierung von Kommunikation zwischen Anwesenden und Abwesenden hat in diesen Ostertagen des Jahres  eine sehr alltägliche Plausibilität gewonnen. Der weitgehende Verlust von Interaktionsformen, in denen sich "Alter und Ego [. . . ] als Körper in einer Welt wahr [nehmen] , in der dieser Körper selbst und in seinem Bezug zu anderen Gegenständen und Körpern beobachtet werden kann" (Schlögl : ) , ist schmerzhaft. Wo der Mensch dem Menschen -quom qualis sit non novit - zum Wolf wird, stehen basale Formen der sozialen Interaktion auf dem Prüfstand. "Seuche" -das ist in mehrfacher Hinsicht ein Phänomen der Kommunikation: . Es liegt auf der Hand, dass Seuchen solche Erkrankungsphänomene sind, die übertragbar sind, die kommuniziert werden. Krankheiten werden von Körpermedien kommuniziert, werden von den Kommunizierenden ausgetauscht. . "Seuche", das ist gleichzeitig der Modus, in dem angesichts von massenhaftem Erkranken und der Furcht davor gesprochen, geschrieben und verordnet, komponiert und gesungen, gezeichnet, entworfen und gebaut wird. . Als Metakommunikation werden Vorstellungen und Theorien von der kommunizierbaren und kommunizierten Krankheitsmaterie entwickelt, modifiziert und verworfen. . Damit begründet wird die Reorganisation der Interaktion mit dem Ziel, das Kommunizieren der Erkrankung ("die Ansteckung") auszuschließen. . Der somit begründete Verzicht auf zentrale Sozialisationsinstanzen vom feierlichen Begräbnis bis zum samstäglichen Shopping, führt zu einer Krisenkommunikation. Am Anfang jeder Seuche steht das große Sterben. Dabei ist es unerheblich, ob sich post factum herausstellt, dass ganz andere Todesursachen in einem bestimmten Zeitabschnitt de facto häufiger waren. Zu unterscheiden sind langfristig hohe Sterberaten (etwa: Säuglingssterblichkeit) von katastrophisch auftauchendem und kommuniziertem Sterben. Die Seuchengeschichte ist bislang zu wenig als Teil der Geschichte der Katastrophen und ihrer Kommunikation betrachtet worden (Jankrift ) . Würden wir uns ernsthafter mit der Wahrnehmung und Kommunikation der Zeitgenossen befassen, käme auch mittelalterliches Seuchen-als kommunikatives Geschehen massenhaft wieder ins Bild. Gängige Überblickswerke verbreiten das falsche Bild, zwischen der "Justinianischen Pest" im . Jahrhundert, die auch als "Ende der Antike" gedeutet wurde, und dem "schwarzen Tod" in der Mitte des . Jahrhunderts, der seinerseits den Beginn eines Endes des Mittelalters markiert, hätten keine "Seuchen" stattgefunden, weil zu selten von der uns vermeintlich bekannten "Pest" die Rede ist (Jankrift ; Jankrift ). Massenhaftes Sterben war in der langen Vormoderne ein in allen Generationen bekanntes Phänomen. Übliche Todesursache: Hunger. Sowohl mit Seuchen als auch mit Hunger stets in einem Zug ist vor allem für die Frühe Neuzeit der Krieg zu nennen -drei apokalyptische Reiter (Cunningham & Grell ) . Tief in die kollektive Erinnerung eingedrungen ist der Zusammenhang insbesondere im Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg (Bähr ). Dass mangelernährte Menschen, untergebracht in erbärmlichen Behausungen, leicht Opfer von (Infektions-) Krankheiten werden, sich unter diesen Bedingungen schwerere Verläufe einstellen und erheblich höhere Todesraten, war bereits im . Jahrhundert geläufig und bedarf keiner weiteren Hinweise auf "mangelnde Hygiene". Bände spricht der Nürnberger Chronikeintrag für das Jahr  über einen "kleinen Sterb": "Sein aber nur viel arme Leut gestorben. " (Müllner : ) Nördlinger Ärzte unterschieden  zwei "genere pestis", von denen eine lediglich die nach Hungerkrisen geschwächten Armen betrafen, während die andere gefährlich war, weil sie leicht auch die Wohlhabenderen "anstecken" konnte (Kinzelbach ). Das Zählen macht den Unterschied als Wahrnehmungsund kommunikative Praxis der Kontingenzbeherrschung. Ein davon abweichendes Bild bietet die Influenza-Epidemie - in weiten Teilen Deutschlands (Rengeling ) , die erst in der historischen Betrachtung zur "skandalisierten" Seuche gemacht wurde. Das Geschehen lässt sich nur vor Ort studieren, und erneut wurde in Stadt und Land sehr unterschiedlich gezählt (Angerer et al. ; Witte ; Thießen ). Die Medizingeschichte ist weitgehend davon abgekommen, historisches Massensterben auf dem Wege der "retrospektiven Diagnose" unbekümmert modernen Krankheitsbegriffen zuzuordnen (Krischel ; Metzger ; Cohn ). Allerdings sind Vorgänge, für die sich keinerlei Analogien im zeitgenössischen terminologischen Apparat finden, größtenteils nicht untersucht, wie etwa der rätselhafte Nürnberger "portzel", dessen Todesopfer für das Jahr  mit über  in der Chronistik vermerkt wurden (Dross ). In der langen Geschichte der Vormoderne waren Menschen indes üblicherweise Überlebende von Seuchen -jede -jährige Person hatte wohl mindestens zwei schwere "Sterbsläufte" überlebt. Die Geschichtswissenschaft hat sich dem Aspekt des Überlebens von Seuchen bislang nicht hinreichend gewidmet (Henderson ) . Seuchen treffen uns im . Jahrhundert dagegen unvorbereitet, alle Strategien der (post-?) modernen "Risikogesellschaft" versagen (Contzen et al. ). "Infektionstheorien" unterlaufen herkömmliche Begriffe von "gesund" und "krank". Weder die betroffene Person noch ihr Gegenüber kann zuverlässig einschätzen, ob ihr oder der Körper ihres Gegenübers bereits "gefährlich" ist. Infektionstheorien erzeugen also soziale Unsicherheit, um sie anschließend zu erklären. Das Sprechen darüber im Duktus des Krieges und die exzeptionelle Dramatik eines "unsichtbaren Feindes" (Gradmann ; Berger Ziauddin ) kam mit der Bakteriologie zum Ende des . Jahrhunderts in die Medizin. Dort werden auch Visualisierungsstrategien deutlich, die dem unsichtbaren Feind einen Körper und ein Gesicht geben (Sarasin ). Vergesellschaftung unter Ansteckenden -für eine Körpergeschichte der Seuche Forum Die Vormoderne verfügte über den Begriff eines "Miasma" im Sinne einer Unreinheit, Befleckung oder auch Färbung, der fortwirkt. Aus dem individuellen Makel, der die Gemeinschaft, speziell die Gemeinschaft mit Gott schädigte, konnte abstrahierend eine ungünstige Eigenschaft der Luft gewonnen werden, die das gleichzeitige Erkranken mehrerer Personen innerhalb eines Bezirks gut erklärte (Potter ; Gudermann ) . Ergänzend konnte ein durch Berührung oder die Luft vermitteltes "Kontagium" im Sinne eines Ansteckungsgifts konkretisiert werden (Leven ) . Insbesondere von Exkrementen und den Pestleichen, aber auch aus den Körpern der Erkrankten konnte erneut eine Luftverunreinigung an die Umgebung kommuniziert werden. Kultisch-rituell begründete Berührungsverbote sind von einer "medizinischen" Ansteckungstheorie nicht trennscharf zu scheiden. Unabhängig von der jeweils zu Grunde gelegten Übertragungstheorie figuriert der Ansteckungsstoff vom Krankheitssamen der Vormoderne bis zu Bakterium und Virus der Moderne über die Jahrhunderte als das im fremden Körper versteckte Andere. Besonders deutlich wird dies in imperialen Kontexten (Zeheter ; Kreuder-Sonnen ). Der erste Versuch jeder Seuchenpolizei gilt dem Verhindern des Zuzugs von außen. In der kommunikativen Praxis wird Identität weiterhin und bis heute als die Gemeinschaft der Reinen kommuniziert (Douglas [] ). Das schafft Identität bis in die Papierform -die seit dem . Jahrhundert ausgestellten, geprüften (und bald auch gefälschten) Zeugnisse, aus einer "unverdächtigen" Gegend angereist zu kommen, können als maßgebliche Vorläufer moderner Identitätsausweise gelten (Groebner ) . Bemerkenswert ist die seit Jahrhunderten beobachtbare Fokussierung auf medizinische Spezialexpertise bei der Umgestaltung öffentlicher Ordnung. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Medizin kurativ immer schon vergleichsweise hilflos war (wenn auch nie untätig!). Deutlich wird dies erst werden, wenn Normsetzung als soziale Praxis der Autorisierung einerseits analysiert wird, vor allem aber deren Praxis in Akzeptanz, Resilienz und Renitenz präziser gezeichnet sind (Ulbricht : -; Dinges : -). Seuchenkommunikation erlaubt über die Jahrhunderte die Analyse eines Metaordnungsprinzips "Gesundheit", das andere, sonst als zentral geltende Ordnungskriterien wie "Gerechtigkeit" oder "Freiheit" situativ dominiert, ohne in den herrschenden Ordnungsdiskursen, der jeweiligen Gesellschaftstheorie expliziert zu sein. Prävention als Verhaltenssteuerung und sozialräumliche Organisation indes beginnt mit der antiken Diätetik und war als obrigkeitliche Politik auch vor dem "schwarzen Tod" bereits gängig (Geltner ) . Seuchenpolizei aber bedeutet noch immer auch deren Scheitern. Die Scheidung der "Reinen" von den "Unreinen" funktioniert nicht. In der Seuchenkommunikation werden aus "Gesunden" "Noch-nicht-Erkrankte", denen das Bestatten ihrer Angehörigen und der Besuch von Gottesdiensten wie von Volksfesten verboten wird, das Reisen erschwert oder untersagt, (nur) sie werden geimpft (Thießen ) , sie werden zu "Gefährdeten", "Verdächtigen" und "Gefährdern". So lässt sich nicht zusammen leben. Funding Open Access funding provided by Projekt DEAL. The Four Horsemen of the Apocalypse: Religion, War, Famine and Death in Reformation Europe Neue Wege in der Seuchengeschichte Purity and Danger. An Analysis of Concept of Pollution and Taboo der Nürnberger "portzel". In: Jörg Vögele, Stefanie Knöll und Thorsten Noack (Hg.). Epidemien und Pandemien in historischer Perspektive. Epidemics and Pandemics in Historical Perspective Urban Viarii and the Prosecution of Public Health Offenders in Late Medieval Italy Bakteriologie und politische Sprache im deutschen Kaiserreich Der Schein der Person: Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters Friedrich Jaeger (Hg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. : Manufaktur -Naturgeschichte. Stuttgart: Metzler: - Florence Under Siege: Surviving Plague in an Early Modern City Stürme, Hungersnöte. Katastrophen in der mittelalterlichen Lebenswelt Mischa Meier (Hg.). Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas. Stuttgart: Klett-Cotta: - Im Angesicht der "Pestilenz Infection, Contagion, and Public Health in Late Medieval and Early Modern German Imperial Towns Grenzen ziehen und überschreiten Potentiale und Kritik an der retrospektiven Diagnose in der Medizingeschichte Skandalisierte Krankheiten" und "echte Killer" -zur Wahrnehmung von Krankheiten in Presse und Öffentlichkeit Alf (Hg.) . Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien Railway Spine, Shell Shock and Psychological Trauma. The Limits of Retrospective Diagnosis Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von . Bd. :  bis  Fritz Dross Vom geduldigen Ausharren zur allumfassenden Prävention. Grippe-Pandemien im Spiegel von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit Über metaphorische Technologien der frühen Bakteriologie Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit Infizierte Gesellschaften: Sozial-und Kulturgeschichte von Seuchen Pandemics as a Problem of the Province. Urban and Rural Perceptions of the "Spanish Influenza Impfen in Deutschland im . und . Jahrhundert Die Allgegenwärtigkeit der Pest in der Frühen Neuzeit und ihre Vernachlässigung in der Geschichtswissenschaft Die Spanische Grippe  bis  in der Grafschaft Bentheim -Annäherungen an die Geschichte einer Seuche im ländlichen Raum Epidemien und Pandemien in historischer Perspektive. Epidemics and Pandemics in Historical Perspective Hinweis des Verlags Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstr.   Erlangen Deutschland fritz.dross@fau.de