key: cord-0077233-zrwuyo27 authors: Hoppen, Thomas title: Moralismus - Gesinnung schlägt Argumente date: 2022-04-19 journal: Pädiatrie DOI: 10.1007/s15014-022-4009-1 sha: 2857e14483731fd54ce5b90a95ac61d8ed727f53 doc_id: 77233 cord_uid: zrwuyo27 nan M oralen enthalten Handlungsregeln, die Menschen entwickelt haben, weil sie an ders als Tiere eben nicht rein instinktiv handeln. Damit offeriert Moral eine gewisse Frei heit, sie kann sozialen Frieden herstellen, Hier archien oder Machtverhältnisse regeln und Konflik te verhindern. Moral wurde meistens durch die Re ligion legitimiert -aber auch durch andere Nor mensysteme wie die Nationalität, Kultur oder die Tradition als Wertansicht. Das alles waren Kon struktionen, aus denen Normen übernommen wur den, weil es eben so war. Allerdings funktioniert das aus soziologischen Gründen in modernen Gesell schaften so nicht mehr [1, 2] . Was in einer Gemein schaft als "herrschende" Moral anerkannt ist, kann sich von dem, was in kulturell, religiös oder sozial anders geprägten Gemeinschaften als richtig emp funden wird, erheblich unterscheiden [3]. "Erst kommt das Fressen, dann die Moral", schrieb einst Berthold Brecht. Sind die Grundbedürfnisse erst einmal befriedigt, wird das Fressen selbst -also die Art und Weise, wie wir konsumieren, uns er nähren und welche Ressourcen wir verbrauchenzu einer moralischen Frage. Moral sei wichtig, schreiben die Herausgeber Christian Neuhäuser und Christian Seidel im Vorwort ihrer "Kritik des Moralismus", aber man könne sie auch zu wichtig nehmen [4] Seit Geburt des ersten Kindes betreuen wir die Familie A. Beim ältesten Kind wurden alle von der STIKO empfohlenen Impfungen durchgeführt. Während der zweiten Welle der COVID-19-Pandemie wurde das zweite Kind geboren. Auch dieses Kind erhielt zeitgerecht die erste Rotavirenimpfung. Jedoch wurden dann alle weiteren Impfungen abgelehnt und auch das ältere Kind durfte keine Auffrischimpfungen erhalten. Innerhalb weniger Wochen hatte die Mutter eine völlig andere Einstellung zum Impfen gewonnen. Plötzlich hatte sie Sorge vor "gefährlichen" Inhaltsstoffen. Sie glaubte, dass Impfungen keinen nachgewiesenen Nutzen hätten und viele Risiken bestehen würden. Ihr Nachbar -in keinem medizinischen Beruf tätig -hätte sie aufgeklärt und würde sehr viele Personen mit Impfschäden kennen. Die Mutter bereue auch, die Einwilligung zu den vorangegangenen Impfungen gegeben zu haben und hoffe, dass ihre Kinder dadurch keinen Schaden nehmen werden. Im Rahmen der "J1" klärte ich eine 13-jährige Patienten über die Impfung gegen humane Papilloma-Viren (HPV) auf, um das Risiko von Gebärmutterhalskrebs zu reduzieren. Die Jugendliche lehnte die Impfung vehement ab, da sie von ihrer Biologielehrerin, einer Ordensschwester in einer privaten katholischen Mädchenschule, Schlechtes über die Impfung erzählt bekommen habe. Es gebe zudem "gehäuft" Todesfälle nach der HPV-Impfung. In beiden Fällen konnte ich weder durch das Aufklären über mögliche Risiken und Nutzen der Impfungen mittels allgemein bekannter und wissenschaftlich anerkannter Fakten noch durch das Berichten von meinen persönlichen Erfahrungen erreichen, dass meinem fachlichen Rat mehr Glauben geschenkt wurde als den medizinischen Laien, durch die meine Patienten oder ihre Eltern beeinflusst worden waren. Machen wir nun einen gedanklichen Sprung und wenden uns dem Team als einem Mikrokosmos der Gesellschaft zu. Eine gute Teamperformance benö tigt und profitiert von gelebten Regeln und Abspra chen. Diese müssen allgemein akzeptiert, verinner licht und regelmäßig trainiert werden, denn "ange boren" oder einfach so von überzeugenden Vorge setzten kopierbar sind diese eben nicht. Täglich sitze ich in Klinikbesprechungen mit über 20 Teil nehmern oder nehme an Stationsvisiten teil. Diese verlaufen zuweilen ineffektiv, weil sich mal wieder nicht an die Vorgaben vernünftiger Kommunikati on gehalten wird. Die Themen werden teilweise unstrukturiert und emotional besetzt diskutiert. Auch hier finden sich einige Elemente von Moralismus wieder, wenn sub jektive Befindlichkeiten und Bewertungen über An gehörige oder jugendliche Patienten die Falldarstel lung raumfüllend einleiten. Die eigentliche medizi nische Analyse der Diagnose und das Abwägen sinnvoller therapeutischer Interventionsoptionen treten dagegen in den Hintergrund der Diskussion. Mehr als bedauerlich ist dabei, dass die übrigen Be sprechungsteilnehmer passiv zum Zuhören ver dammt sind. Kaum vorzustellen, wie viel bezahlte Arbeitszeit hier kollektiv "vergeudet" und Verhalten "gelehrt" wird. Inhaltlich zwar andere, vom Ablauf jedoch sehr ähnliche Erfahrungen machen wir fast alle, zu un serem Leidwesen manchmal täglich -etwa im Schulelternbeirat, Sportverein oder in der eigenen Familie. [11] . Eine einfache und rasch erlernbare Methode ist "talk" (Tab. 1). Das Akronym steht für die vier Sta dien des klinischen Debriefings: -Thema: Konkret umreißen, was besprochen wer den soll. -Analyse: Betrachten, was gut lief oder bei Kom munikation, Entscheidungsfindung, Situations bewusstsein und Effizienz störte. -Lernpunkte: Werden aus der Analyse konkret ab geleitet und benannt, und führen zu zukünftig anzuwendenden -Kernmaßnahmen: Im Hinblick auf Verbesserun gen von Patientenversorgung, Sicherheit und Ver antwortlichkeit. In der Praxis bewährt hat sich zu Beginn eine kur ze Frage nach der unmittelbaren persönlichen Be findlichkeit der Teilnehmer im Anschluss an eine Simulation. So kann etwa die Frage "Wie geht es dir jetzt" wertvolle "golden nuggets" liefern, die an schließend entscheidend für die Bearbeitung von Lernpunkten sind. Soweit ein Modell, das für eine spezifische Auf gabenstellung gut funktioniert. Aus meiner Sicht kann es modifiziert auch in anderen Situationen und in einem größeren Rahmen genutzt werdensogar bei alltäglichen Vorgängen mit Konflikt potenzial, etwa die Aufgabenverteilung im Haus halt oder Absprachen in einer Partnerschaft zur nächtlichen Betreuung von nicht schlafwilligen jungen Kindern. Die Struktur, implizierte Werte und Sprache wirken verlockend. Die These in Frageform, die jeder selbst prüfen sollte, lautet also: "Steckt hierin nicht auch ein ‚Gegenmittel' zum Moralismus?" Hypermoral -Die neue Lust an der Empörung Kritik des Moralismus Spielarten des Moralismus Medizinethik in Zeiten des Moralismus Twelve tips for integrating team reflexivity into your simulation-based team training Spannen wir abschließend den Bogen vom Simula tionstraining zur Ethik. Großartig ist, wenn Spra che und Inhalt des Debriefings im Notfalltraining auf der Basis guter ethischer Praxis stehen. Kern punkt des Debriefings ist die Erkennung und Ver besserung von kognitiven Konzepten der Teilneh mer und der praktischen Performance am Simula tor mit dem Ziel, diese Erkenntnisse in der Hand lungsrealität am kranken Menschen und im Behandlungsteam umzusetzen -gleich morgen am eigenen Arbeitsplatz. So hat Ethik als Wissenschaft, die sich mit dem richtigen menschlichen Handeln befasst, im Gegensatz zum Moralisieren einen auf klärenden und transparenten Charakter und achtet dabei wesentlich auf die Wertschätzung aller Perso nen. In der Zusammenschau bieten Ethik und als konkrete Facette "talk" ein wohltuendes lebens praktisches Kontrastprogramm und eine Lösung gegen den schädlichen Mainstream des Moralismus, der tagtäglich und allgegenwärtig Präsenz zeigtsowohl auf der Mikroebene zwischen einzelnen Menschen als auch auf der Makroebene in der brei ten öffentlichen Diskussion.Jeder Einzelne von uns kann etwas tun -nicht nur irgendwelche Institutionen. Jeder Einzelne kann in den Debatten im Alltag durch sein Reden oder Verhalten etwas bewirken: "Muss ich jetzt wie der so emotional reagieren?", "Hat der andere mit seinem Standpunkt vielleicht doch recht?", "Bin ich immer in der moralisch überlegenen Situation?" Wir sollten uns häufiger mal hinterfragen -dabei dürfen wir keinesfalls den Humor vergessen, denn es kann sehr wohltuend sein, sich selbst auf den Arm zu nehmen. Humor erweitert die Sichtweise und ist meines Erachtens ein gutes Antidot gegen Moralismus! Außerdem sollten wir unbedingt wie der lernen, mehr Dissens zuzulassen. Wir müssen nicht immer zu einem Konsens kommen [2] . Welt anschauungen differieren eben. Wir müssen wieder lernen, dass es einen wirklichen Pluralismus gibt und unterschiedliche Meinungen existieren.