key: cord-0075757-2ff99ley authors: Cegla, Thomas; Benscheid, Holger title: Neuropathische Mechanismen bei Rückenschmerzen date: 2022-03-17 journal: Schmerzmed. DOI: 10.1007/s00940-022-3316-5 sha: 6ccd3cbbb91903253c04d7d9a329f7939f5b7712 doc_id: 75757 cord_uid: 2ff99ley nan auch schon bei jüngeren Leuten zu Rückenschmerzen. Dadurch nimmt die Häufigkeit von durch Rückenschmerz bedingter Arbeitsunfähigkeit zu. Die durch Rückenschmerzen verursachten Kosten sind aufgrund von Krankheitstagen und Berentungen beträchtlich [2, 3, 4] . Zudem ist es wahrscheinlich, dass die veränderten Lebensumstände unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie durch Stimmungsveränderungen und Bewegungsmangel sowie psychosoziale Faktoren wie Isolation eine Chronifizierung von Rückenschmerzen begünstigen [5] . Erstmalig akut auftretende Rückenschmerzen dauern bei bis zu 90 % der Patienten ohne Therapie bis zu vier Wochen an. Das wiederholte Auftreten der Rückenschmerzen ist ein Anzeichen für eine Schmerzchronifizierung und besteht bei circa einem Viertel der Patienten. Allerdings entwickeln davon nur 7-10 % einen chronischen Rückenschmerz, verursachen damit aber etwa 80 % aller Kosten. Dieser Vergleich zeigt, dass eine frühzeitige Behandlung enorm wichtig ist, insbesondere, wenn eine Kombination aus Rückenschmerzen und anderen Störungen vorliegt. Eine unzureichende Behandlung psychischer Erkrankungen, wie Depressionen und Angsterkrankungen, oft auch eine falsche Medikamenteneinnahme oder Selbsttherapie sind weitere Gefahren, die den Rückenschmerz zu einem ständigen Begleiter werden lassen können. Wenn eine Unzufriedenheit mit dem Arbeitsplatz hinzukommt, die Arbeitsbelastung als Stress empfunden wird, wenn man Angst um den Job oder seine Arbeits-stelle bereits verloren hat, ist dieses Risiko noch höher. Auch unnötig lange Krankschreibungen, Röntgenuntersuchungen oder Therapien, ebenso nicht notwendiges Schonverhalten können zur Chronifizierung beitragen. So nehmen Patienten häufig ihre Arbeit nicht mehr auf, wenn sie zwei Jahre mit Rückenschmerzen krankgeschrieben waren. Die frühzeitige und gezielte Behandlung ist die beste Präventionsmaßnahme. Wichtig ist, zu differenzieren und die Schmerzursache mit in den Therapieplan einzubeziehen. Besonders die neuropathischen Anteile von Rückenschmerzen dürfen nicht vernachlässigt werden und bedürfen einer besonderen Therapie. Radikuläre Schmerzen treten plötzlich auf und werden als messerstichartig und hell empfunden. Denn sie entstehen aufgrund eines mechanischen Drucks auf eine genau identifizierbare Nervenwurzel. Die Schmerzausbreitung entspricht der Hautregion, welche von der entsprechenden Nervenwurzel versorgt wird. Nervenwurzeln haben zum einen eine Verbindung zum Rückenmark, zum anderen gehen aus ihnen die unterschiedlichen Nerven hervor. Schmerzen aus Bandscheiben, Gelenken, Muskeln oder Bändern der Wirbelsäule entwickeln sich hingegen langsam und fühlen sich dumpf oder drückend an. Sie können von den Patienten, neben einer wirbelsäulennahen Lokalisation, ebenfalls als ausstrahlend beschrieben werden. Veränderungen im Spannungszustand der Muskulatur führen zu einem Teufelskreis aus Schmerz, Muskelverspannung und Inaktivität. Nervenschmerzen und die durch eine Entzündung hervorgerufenen Schmerzen sind oftmals gleichzeitig vorhanden. Ein eher brennender, kribbelnder oder einschießender Schmerz deutet auf einen Nervenschmerz hin, wohingegen ein in der Nacht als stark empfundener Rückenschmerz wahrscheinlich durch eine Entzündung verursacht wird. Sind die Schmerzen bewegungsabhängig, ist dafür eine räumliche Enge verantwortlich. Diese führt durch Druck auf eine Nervenwurzel, zum Beispiel bei Bewegung, zu Schmerzen, die ins Bein ausstrahlen. Ist die Gehstrecke des Patienten verkürzt, ohne dass eine arterielle Verschlusskrankheit vorliegt, kann die Ursache eine Enge im Wirbelkanal, eine sogenannte spinale Stenose, sein [6, 8, 9] . Die Phase des Übergangs vom akuten zum chronischen Schmerz wird als Chronifizierung bezeichnet. Es handelt sich um keine genau festlegbare Zeit, sondern eher um einen Prozess, der beim akuten Schmerz anfängt und etwa drei bis sechs Monate dauert. Bestehen Rückenschmerzen länger als drei Monate, spricht man von chronischen Schmerzen. Hinweise auf eine Chronifizierungsgefahr geben sogenannte "yellow flags" (Abb. 2). Mehrere Faktoren können allein oder in Kombination Rückenschmerzen verursachen. Neben psychogenen Faktoren sind für akut auftretende Rückenschmerzen Engpasssyndrome mit Druck auf das Nervensystem ursächlich. Aber auch schwere Erkrankungen, wie eine rheumatische Erkrankung, Entzündung, Tumorerkrankung, neurologische Erkrankung oder eine Osteoporose, können mit Rückenschmerzen verbunden sein. Warnzeichen sind hier zum Beispiel: -nächtlicher Schmerz, -plötzlicher starker Rückenschmerz unter Langzeit-Kortisoneinnahme, -Gewichtsabnahme, -anhaltende starke Bewegungseinschränkung, -starke Schmerzen oder minimale Beweglichkeit, -Probleme beim Wasserlassen, -Stuhlinkontinenz oder -Lähmung. Wurden Warnsymptome auf eine akute Nervenschädigung mit Lähmungserscheinungen festgestellt oder hat ein Unfall stattgefunden, sind Röntgenuntersuchungen für die Diagnosefindung und -sicherung wichtig. Zuvor sollte aber eine genaue körperliche Untersuchung stattgefunden haben. Hier kann der Bewegungsapparat besser beurteilt und können Bewegungseinschränkungen ermittelt werden. Wiederholte radiologische Maßnahmen sind nicht angebracht, wenn der akute Rückenschmerz nicht von neurologischen Ausfällen und Warnsymptomen begleitet wird sowie bei chronifizierendem oder schon chronischem Rückenschmerz. Abgestufte Erfassung der Risikofaktoren nach "red", "yellow" und "blue" flags. © Springer Nature 2020 Es besteht eine nur geringe Übereinstimmung zwischen radiologischen Veränderungen und klinischem Beschwerdebild. Den Schmerz sieht man nicht. Degenerative nachweisbare Veränderungen sind häufig normal, klingen aber in medizinischen Fachbegriffen bedrohlich. Zu beachten ist, dass die radiologische Diagnostik bis auf wenige Ausnahmen eine statische Untersuchungsform ist. Deshalb lässt sich damit die Bewegungsfunktion der Wirbelsäule mit ihren Gelenken, Muskeln und Bändern nicht darstellen. Mithilfe der Computertomografie (CT) und der Magnetresonanztomografie (MRT) können Bandscheibenvorfälle identifiziert und Nervenkompressionen abgebildet werden. Zusätzlich werden knöcherne Veränderungen aufgrund von Tumorerkrankungen oder Entzündungen sichtbar. Zudem lassen sich anhand der MRT das Rückenmark und der Rückenmarkskanal beurteilen, und es werden akute oder chronische Schäden dargestellt [1, 9] . Entzündlicher Schmerzanteil Nozizeptoren finden sich in allen schmerzempfindlichen Geweben des Körpers. Deren Reizung durch mechanische, thermische oder chemische Noxen wird über die Nervenfasern zum zentralen Nervensystem weitergeleitet und als Schmerz wahrgenommen. Ein Bandscheibenvorfall hat eine nozizeptive entzündliche Komponente durch das sich vorwölbende Bandscheibengewebe (chemische Radikulitis). Ein Bandscheibenvorfall kann aber auch durch Druck auf die Nervenwurzel neuropathische, radikuläre Schmerzen hervorrufen. Wird das Myelon komprimiert, hat dies ebenfalls Funktionsverluste und Schmerzen zur Folge. Lähmungen sind als Warnsymptome ("red flags") zu verstehen (Abb. 2) und machen eine dringliche Diagnostik notwendig . Die Ursachen von akuten und chronischen Rückenschmerzen sind vielfältig, sodass ein sogenanntes Mixed-pain-Phänomen entsteht, das einen gleichzeitigen neuropathischen und nozizeptiven Schmerz beschreibt und das um die psychogenen und sozialen Faktoren erweitert werden sollte [1, 10] . In den meisten Fällen ist eine konservative Therapie möglich. Schwere Vorfälle mit neu aufgetretenen, ausgeprägten Lähmungserscheinungen müssen allerdings ohne zeitliche Verzögerung operiert werden. Das Postnukleotomiesyndrom ("failed back surgery") bezeichnet Schmerzen, die nach einer Rückenoperation weiterbestehen, bei denen die Besserung des Zustandes also fehlt oder unzureichend ist. Diese werden als eigenes Krankheitsbild angesehen. Psychische und soziale Belastungen beeinflussen das Operationsergebnis oft mehr als die Ausprägung der Narben-Schmerzmedizin 2022; 38 (2) bildung. Eine genaue körperliche Untersuchung sollte der Operation immer vorausgehen und die gesamte Problematik in die Indikationsstellung einbezogen werden. Nicht jeder radiologische Befund muss operiert werden. Je nach Schmerzursache können entzündungshemmende und die Muskelspannung normalisierende Medikamente wirksam eingesetzt werden. Sie haben jedoch Nebenwirkungen, die den Langzeitgebrauch einschränken. Darüber hinaus spricht der neuropathische Anteil von Rückenschmerzen nicht auf nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) oder COX-2-Hemmer an. Zur medikamentösen Therapie in Abhängigkeit vom Schweregrad können Novaminsulfon (unter Beachtung des Aggranulozytoderisikos), Opiate oder Cannabinoide eingesetzt werden. Adjuvant anzuwenden sind Antidepressiva oder Antiepileptika, also Medikamente, die den neuropathischen Schmerzanteil mitbehandeln. Topische Therapien mit Capsaicin können als Ultima-Ratio-Verfahren zum Einsatz kommen [1, 9] . Zehn bis 15 Akupunktursitzungen können die Beschwerdesymptomatik beim Rückenschmerz reduzieren. Eine eigenständige Methode ist hierbei die Ohrakupunktur, bei welcher von einer Projektion des gesamten Körpers auf die Ohrmuschel ausgegangen wird. Beide Methoden behandeln den nozizeptiven und neuropathischen Schmerzanteil. Bei der transkutanen elektrischen Nervenstimulation ("transcutaneous electrical nerve stimulation", TENS), einer Methode, die der Patient selbstständig anwenden soll, werden elektrische Impulse über Elektroden auf die Hautoberfläche übertragen. Die elektrisch verursachte Aktivierung von Nervenfasern führt zu einer Muskelentspannung und Schmerzhemmung. Bisher ist die Wirksamkeit dieser Therapieform beim Rückenschmerz nicht eindeutig belegt. Vorteilhaft ist die aktive Einbindung des Patienten in die Therapie. Die Indikation zu invasiven Therapien sollte sorgfältig gestellt werden. Periradikuläre Injektionen (PRT), also epidurale, intraforaminale und Facettentherapien mit Lokalanästhetika und Steroiden, können neuropathische Schmerzen beeinflussen. Bei Injektionen an die Nerven der Facettengelenke muss berücksichtigt werden, dass jedes Facettengelenk von Anteilen des Spinalnerven aus den zwei zugehörigen Etagen innerviert wird. Das bedeutet, dass jedes Gelenk Fasern aus dem Ramus dorsalis der gleichen Etage und der Etage darüber erhält. Bei einem hohen Chronifizierungsgrad sowie fehlenden Alternativen sind neuromodulative Verfahren (Rückenmarkstimulation ["spinal cord stimulation", SCS], intrathekale Pharmakotherapie über Pumpen) nach erfolgreicher Testung weitere Möglichkeiten. Bei der Rückenmarkstimulation (SCS) wird der Hinterstrang des Rückenmarks über eine Sonde mittels elektrischer Ströme stimuliert. Der Patient spürt ein angenehmes Kribbeln, das den Schmerz überlagert. Der Strom wird durch einen unter der Bauchdecke oder gluteal implantierten Impulsgenerator appliziert. Die SCS scheint bei Patienten nach einer erfolglosen Rückenoperation vorteilhafter zu sein als ein erneuter operativer Eingriff. Besonders der neuropathische Schmerzanteil wird behandelt. Eine therapeutische Lokalanästhesie unterbindet die Weiterleitung des Schmerzes, was beim Rückenschmerz eine erleichternde Therapieergänzung sein kann. Zur Therapie chronischer Rückenschmerzen können Spritzen als Blockadeserien sinnvoll sein. Hierbei blockiert ein eingespritztes lokales Betäubungsmittel die Schmerzweiterleitung im Nerv. Sogenannte Facettengelenkschmerzen an den Gelenken der Wirbelsäule können durch Zerstörung der den Schmerz weiterleitenden Nerven behandelt werden. Hierzu wird eine Sonde unter Röntgenkontrolle gezielt in die unmittelbare Nähe des betroffenen Nervs eingeführt. Mittels Hitze oder Kälte an der Sondenspitze wird der Facettengelenksnerv inaktiviert. Auch hier gilt: Jedes Facettengelenk wird von Anteilen des Spinalnerven aus den zwei zugehörigen Etagen innerviert. Der Zeitraum der Schmerzlinderung kann und sollte für die Bewegungstherapie und Stärkung der Muskulatur zur Entlastung der Facettengelenke genutzt werden, denn der Nerv heilt in einem Zeitraum von drei Monaten bis zu einem Jahr und kann danach wieder Schmerzen melden. Blockierungen im Bereich der Wirbelsäule können durch spezielle Handgriffe, die sich an der anatomischen Form der Gelenke der Wirbelsäule orientieren, behandelt werden. Mit diesen Manipulationen wird versucht, Blockierungen eines Gelenks mittels eines kurzen gezielten Bewegungsimpulses zu beheben. Alle chronischen Wirbelsäulenleiden machen eine Kombination spezieller Verfahren notwendig. Diese müssen langfristig ausgerichtet sein und die Aktivität stufenweise wiederherstellen. Unterstützung finden Patienten und deren behandelnde Ärzte in Schmerzkonferenzen. Hier können Problemfälle vorgestellt und im Schmerzexpertengremium diskutiert werden. Universitäre Einrichtungen arbeiten zusätzlich in sogenannten "spine boards" zusammen [10] . Nationale VersorgungsLeitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz Standl T et al (Hrsg.) Schmerztherapie. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme-Verlag Der Chronische Schmerz -Epidemiologie und Versorgung in Deutschland Epidemiologie des unspezifischen Rückenschmerzes Einfluss der Coronapandemie auf Schmerzpatienten -Welche Auswirkungen der Pandemie auf ihre Versorgung nehmen Patienten mit chronischen Schmerzen wahr? Schmerzhafter Rücken -Welche Rolle spielen die Muskeln in der zeitgemäßen Therapie? Hausarzt Rückenschmerzen in der Hausarztpraxis -Der nichtspezifische Rückenschmerz Wie neuropathisch ist die Lumboischialgie? Das Mixed-pain-Konzept Akuter lumbaler Rückenschmerz Standl T et al (Hrsg.) Schmerztherapie. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme-Verlag Die Autoren erklären, dass sie sich bei der Erstellung des Beitrages von keinen wirtschaftlichen Interessen leiten ließen, und dass keine potenziellen Interessenkonflikte vorliegen. Der Verlag erklärt, dass die inhaltliche Qualität des Beitrags durch zwei unabhängige Gutachten bestätigt wurde. Werbung in dieser Zeitschriftenausgabe hat keinen Bezug zur CME-Fortbildung. Der Verlag garantiert, dass die CME-Fortbildung sowie die CME-Fragen frei sind von werblichen Aussagen und keinerlei Produktempfehlungen enthalten. Dies gilt insbesondere für Präparate, die zur Therapie des dargestellten Krankheitsbildes geeignet sind. Aktuelle CME-Kurse aus der Schmerzmedizin Schmerzmedizin 2022; 38 (2)