key: cord-0074891-og1itrig authors: Herzog-Stein, Alexander title: Beim Übergang zum Bürgergeld mutig große Veränderungen wagen date: 2022-02-19 journal: Wirtschaftsdienst DOI: 10.1007/s10273-022-3109-4 sha: d4e3ce493ce4545937c1a1a355f3c7038fc88820 doc_id: 74891 cord_uid: og1itrig The new German federal government wants to replace the unemployment benefit II (Arbeitslosengeld II) with a so-called citizen’s income (“Bürgergeld”). In doing so, it needs to make major changes. Measures outlined in the coalition agreement indicate that the existing imbalance in the so called support and claim-approach (“Fördern und Fordern”) for the long-term unemployed will be finally readjusted towards supportive policy measures such as training. The reform of the in-work benefit element should aim at supporting sustainable employment subject to social security contributions. However, to live up to its name, the citizen’s income must ensure genuine social participation for those receiving the citizen’s income. Zeitgespräch gelds II entschieden: Sie beabsichtigt es durch ein neues Bürgergeld zu ersetzen. Anhand des Koalitionsvertrags (SPD et al., 2021) setzt sich dieser Beitrag kritisch mit diesem Vorhaben auseinander. Die Hartz-Reformen und das Arbeitslosengeld II waren Kinder ihrer Zeit. Mit der Einführung des Bürgergelds müssen deshalb die Prämissen des Arbeitslosengelds II kritisch hinterfragt werden. Die Erfahrungen und Erkenntnisse der letzten 17 Jahre können bei der Ausgestaltung des Bürgergelds helfen. Laut Bäcker (2019) war für das Arbeitslosengeld II eine Sichtweise handlungsleitend, die die Ursachen der hohen Arbeitslosigkeit nicht mehr auf gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage, sondern vor allem "… auf die Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Arbeitslosen" (S. 253) zurückführte. Entsprechend setzte man auf eine Angebotspolitik, die darauf abzielte, die Unternehmenskosten zu reduzieren und den Betrieben Anreize zu geben, mehr Beschäftigung zu schaffen. Ziel der Arbeitsmarktreformen war es insbesondere, die Löhne für Geringverdienende zu senken und so den Niedriglohnsektor auszuweiten (Herzog-Stein et al., 2013) . Nun, 17 Jahre später, wissen wir mehr oder doch nicht? Von 2005 bis 2019 -dem letzten Jahr vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie -ging die registrierte Arbeitslosigkeit in Deutschland um insgesamt 6,7 Prozentpunkte zurück. Wie groß der Beitrag der Hartz-IV-Reform am Rückgang der Arbeitslosigkeit war, ist umstritten. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Literatur zur Wirkung der Hartz-IV-Reform, die vor allem aus makroökonomischen Simulationsanalysen besteht, sind ernüchternd. Krebs (2019) Die Bundesregierung plant, das bestehende arbeitnehmerseitige Kombilohnelement weiterzuentwickeln und mit anderen steuerfi nanzierten Sozialleistungen abzustimmen, sodass "… die Transferentzugsraten die günstigsten Wirkungen hinsichtlich Beschäftigungseffekten und Arbeitsmarktpartizipation in sozialversicherungspfl ichtiger Beschäftigung erzielen, die Zuverdienstmöglichkeiten verbessert und Grenzbelastungen von 100 und mehr Prozent ausgeschlossen werden" (SPD et al., 2021, 77) . Dies ist generell zu begrüßen, denn im Arbeitslosengeld II ist die Zielsetzung des arbeitnehmerseitigen Kombilohnelements immer unklar geblieben. Zudem sind die Effekte auf das extensive und das intensive Arbeitsangebot, die vom derzeitigen Verlauf der Transferentzugsraten ausgehen, problematisch. Die großzügigste Förderung erfolgt im Eingangsbereich des Kombilohns, denn die ersten 100 Euro Erwerbseinkommen sind anrechnungsfrei, sodass Minijobs mit einem sehr geringen Stundenvolumen fi nanziell attraktiv sind. Danach sind die Transferentzugsraten mit 80 % bis 100 % sehr hoch, sodass das Nettoeinkommen bei zusätzlichem Arbeitseinkommen nur sehr wenig oder gar nicht steigt. Allerdings sollte die Bundesregierung die Transferentzugsraten des arbeitnehmerseitigen Kombilohnelements im Bürgergeld so ausrichten, dass insbesondere die Aufnahme einer sozialversicherungspfl ichtigen Beschäftigung von einem wöchentlichen Arbeitsumfang von mindestens 15 Arbeitsstunden gefördert und so die Arbeitslosigkeit beendet wird. 2 Es ist hierfür sinnvoll, den Verlauf der Transferentzugsraten zukünftig am Mindestlohn auszurichten und so zu gestalten, dass sie -bei Zugrunde legung eines Mindestlohns von 12 Euro -bis zu einem monatlichen Bruttoarbeitseinkommen von 783 dürften überschaubar bleiben. Eine gute wirtschaftliche Entwicklung mit einer dynamischen Entwicklung der Binnennachfrage hingegen schafft neue gute Arbeitsplätze und reduziert die Arbeitslosigkeit nachhaltig. Eine aktive Wirtschafts-und Fiskalpolitik, die in die Zukunft investiert, leistet hierzu einen wesentlichen Beitrag. In einem positiven wirtschaftlichen Umfeld, in dem viele neue Arbeitsplätze entstehen, kann dann ein effektiv ausgestaltetes Bürgergeld die Situation von Arbeitslosen und ihre Arbeitsmarktchancen verbessern. Die notwendige sozialökologische Transformation als Antwort auf die Herausforderungen des Klimawandels und die Auswirkungen des demografi schen Wandels auf dem Arbeitsmarkt verlangen in den nächsten Jahren große Anstrengungen und bringen Veränderungen mit sich. Verstärkt muss es deshalb darum gehen, ungenutzte Arbeitsmarktpotenziale zu heben, insbesondere unter den arbeitslosen Erwerbspersonen. Im Jahresdurchschnitt 2021 waren immer noch 2,61 Mio. Personen registriert arbeitslos; davon befanden sich 61,8 % in der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Arbeitslose Erwerbspersonen, insbesondere aus dem Bereich des SGB II, möglichst über dauerhafte sozialversicherungspfl ichtige Beschäftigung wieder nachhaltig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, verlangt besondere Anstrengungen. Bildung und Qualifi kation sind hierbei in der sich verändernden Arbeitswelt von zentraler Bedeutung. Deshalb muss mit dem Bürgergeld endlich die seit Einführung des Arbeitslosengelds II bestehende Unwucht zulasten des Förderns behoben werden. Durch eine stärkere Betonung des Förderns und eine umfassende und zielgenaue Betreuung im Bürgergeld kann es gelingen, die qualifi katorischen Voraussetzungen zu schaffen, dass arbeitslose Bürgergeldbeziehende, die häufi g multiple Vermittlungshemmnisse aufweisen, in der neuen Arbeitswelt besser bestehen können. Der Fokus auf niedrigqualifi zierte und schlecht bezahlte Tätigkeiten, der in der Vergangenheit die Arbeitswelt der Grundsicherung prägte, ist nicht mehr zeitgemäß und würde für die Zukunft die Gefahr eines verstärkten qualifi katorischen Mismatch zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage mit sich bringen. Es ist deshalb zu begrüßen, dass die Bundesregierung den Vermittlungsvorrang nach § 3 Abs. 1 Satz 3 SGB II beim Bürgergeld abschaffen will. Die angestrebte Stärkung der Förderung von Weiterbildung, insbesondere auch von vollqualifi zierenden Ausbildungen, und der Qualifi zierung der Arbeitssuchenden sowie verbesser-Zeitgespräch schaftssystem, in dem unfreiwillige Arbeitslosigkeit ein gesamtwirtschaftliches Massenphänomen ist, haben Bürger:innen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen und nicht arbeitslos sind, ihren Beitrag geleistet und können vonseiten der Gesellschaft Unterstützung ohne Schikanen und Stigmatisierungen erwarten. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, wie von den Koalitionsparteien angedacht, diese Personen zukünftig in der Arbeitslosenversicherung durch die Agenturen für Arbeit zu betreuen; sie könnten auch die Auszahlung des Bürgergelds an diese Personen übernehmen. Neben den fehlenden Aussagen zur angemessenen Höhe des neuen Bürgergelds, die notwendig wären, um das explizit genannte Ziel der Befähigung zur gesellschaftlichen Teilhabe sicherzustellen, wird leider im Koalitionsvertrag die aktuell bestehende Unwucht zwischen Arbeitslosenversicherung und Bürgergeld nicht angesprochen. Derzeit erhält der größte Teil der Arbeitslosen nicht die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld, sondern Arbeitslosengeld II. Die Arbeitslosenversicherung als Pfl ichtversicherung gegen das Risiko Arbeitslosigkeit sollte jedoch wieder den Vorrang erhalten und das Bürgergeld im Falle von Arbeitslosigkeit quantitativ nachrangig sein. Empfehlenswert wäre es deshalb, die Schutzwirkung der Arbeitslosenversicherung für Erwerbspersonen, die Beitragszahlungen geleistet haben, wieder zu erhöhen. Dies könnte durch eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds und niedrigere Zugangshürden zum Arbeitslosengeld für Erwerbstätige in kurzfristiger und unstetiger Beschäftigung erreicht werden (für konkrete Vorschläge siehe unter anderem Bäcker, 2021). Im Einklang mit der beabsichtigten verstärkten Förderung von Qualifi zierung und Weiterbildung sollte zudem über eine Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung hin zu einer Arbeitsversicherung nachgedacht werden (Schmid, 2008; Hans et al., 2017) . Eine Reform des Arbeitslosengelds II ist überfällig. Es ist begrüßenswert, dass die Bundesregierung das bisherige Arbeitslosengeld II durch ein Bürgergeld ersetzen will. Auch wenn die konkrete Ausgestaltung abgewartet werden muss, sollte die Ampelkoalition dazu ermutigt werden, den großen Schritt zu wagen und ein Bürgergeld zu schaffen, welches wirklich die gesellschaftliche Teilhabe der Bezieher:innen sicherstellt und ihnen gleichzeitig eine wirkliche Unterstützung hinsichtlich einer nachhaltigen Integration in gute Arbeit bietet. Nur das Angebot zählt -Wie eine einseitige deutsche Wirtschaftspolitik Chancen vergeben hat und Europa schadet Von der Arbeitslosen-zur Beschäftigungsversicherung: Wege zu einer neuen Balance individueller Verantwortung und Solidarität durch eine lebenslauforientierte Arbeitsmarktpolitik, WISO Diskurs Mehr Fortschritt Bündnis für Freiheit SVR -Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Arbeitslosenversicherung stärken! Sozialgesetzbuch III und II harmonisieren! 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