key: cord-0074040-zfhjbbqb authors: Schlüter, Sandra; Lange, Karin title: Aus Sicht der Diabetespraxis: erwachsen werden mit Typ-1-Diabetes date: 2022-01-27 journal: Diabetologe DOI: 10.1007/s11428-022-00856-x sha: ac5bc51ba196c9f25eff4f00288482b57fa6a5bf doc_id: 74040 cord_uid: zfhjbbqb Young adults with type 1 diabetes largely bear the responsibility for their diabetes therapy themselves; at the same time, they enjoy newfound freedoms and are more open to take risks. Living alone, partnership, university, job and other developmental tasks place high demands on them. These are often difficult to reconcile with a qualified diabetes therapy. After many years of personal attachment to the team of a pediatric diabetes center, the transition to an internal diabetes specialist practice is not always smooth. Individual psychological stresses and inadequate diabetes management reinforce each other. At this stage of life, diabetes embodies exactly the opposite of everything that is age-appropriate. It demands a structured daily routine, disciplined nutrition, regular visits to the diabetologist, and forward thinking and action. The analysis of continuous glucose monitoring (CGM) data in the diabetes practice allows detailed insights into personal everyday life and can be associated with feelings of shame and guilt. The aim of long-term diabetes care is to consider all these aspects—current quality of life, personal goals, avoidance of acute diabetes complications and prevention of long-term cardiovascular complications—and to develop an individual treatment concept from this in a participatory manner. The most important task of the diabetes practice is to support young people on their individual path, to recognize their strengths and to motivate them through successes. Auch ohne eine chronische Erkrankung wie T1D sind die beruflichen und persönlichen Anforderungen in der dritten Lebensdekade erheblich. Entsprechend hoch ist der Anteil junger Erwachsener mit ca. 78 % in der 18-bis 29-jährigen Allgemeinbevölkerung, der sich in einer aktuellen Umfrage als gestresst bezeichnet [5] . Dabei stehen die schulischen und beruflichen Anforderungen, besonders unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie (COVID-19: "coronavirus disease 2019"), an erster Stelle, gefolgt von hohen Ansprüchen an die eigene Person, und an dritter Stelle stehen Belastungen durch schwere Erkrankungen. » Die Prävalenzen von Ängsten, Essstörungen und Abhängigkeiten sind unter jungen Erwachsenen hoch Auch die Prävalenzen von Depression, Ängsten, Essstörungen und auch Abhängigkeiten von Alkohol und illegalen Drogen sind unter jungen Erwachsenen hoch [6] . So liegen die 12-Monats-Prävalenzen für zumindest eine psychische Störung in der Altersgruppe zwischen 18 und 34 Jahren für Frauen bei 43 %, für Männern bei 30 %. Junge Erwachsene mit einem niedrigen sozioökonomischen Status sind dabei überproportional häufig betroffen [6] . Etwa 3/4 aller im späteren Leben diagnostizierten psychischen Erkrankungen haben dabei ihren Ursprung im Jugendbzw. jungen Erwachsenenalter. Dazu zeigen aktuelle Daten der KiGGS-Kohorte, dass sowohl internalisierende als auch externalisierende psychische Auffälligkeiten in Kindheit oder Jugend mit der späteren psychischen Gesundheit, Lebenszufriedenheit und Lebensqualität sowie der sexuellen und reproduktiven Gesundheit in engem Zusammenhang stehen. Externalisierende Auffälligkeiten sind danach mit einem geringeren Bildungserfolg und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, im Erwachsenenalter zu rauchen, verbunden [7] . In den beiden vorangehenden Beiträgen in diesem Heft [8, 9] wurde bereits die Bedeutung individueller und familiärer psychosozialer Faktoren in Kindheit und Jugend für eine erfolgreiche Therapie des T1D dargestellt. Laut Daten zu individuellen Verläufen des HbA1c-Werts (HbA1c: glykiertes Hämoglobin) von der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter besteht weiterhin eine große Heterogenität bezogen auf die Qualität der Stoffwechseleinstellung. Jungen Erwachsenen mit seit vielen Jahren stabilen Glukosewerten im Zielbereich mit einem HbA1c < 7,0 % stehen andere Gruppen gegenüber, deren HbA1c-Wert langjährig nicht unter 9 % gesenkt werden konnte [10] . Aus diversen Querschnittstudien lassen sich dazu auch für junge Erwachsene mit T1D typische Risikofaktoren ableiten, z. B. niedriges Bildungsniveau, niedriger sozioökonomischer Status, Migrationshintergrund mit geringer sozialer Integration, mangelnde soziale Unterstützung, v. a. aber Verhaltensauffälligkeiten, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-und Hyperaktivitätssyndrom), Essstörungen, affektive Störungen, schädlicher Alkohol-sowie Drogenkonsum und -abhängigkeit [2, 11] . Die Folgen sind nicht nur ein langfristig deutlich erhöhter HbA1c-Wert, sondern auch wiederholte schwere Ketoazidosen und eine damit verbundene Mortalität unter jungen Erwachsenen mit T1D, wie in schwedischen, finnischen und englischen Registerstudien nachgewiesen wurde [2, 12] . In einer US-amerikanischen (US: "United States") Untersuchung ergaben sich Hinweise, dass v. a. junge Männer mit Typ-1-Diabetes häufiger Alkohol, Marihuana und Tabak konsumieren als Gleichaltrige ohne Diabetes [13] , entsprechende belastbare Daten für deutsche Populationen sind nicht bekannt. Insbesondere der zunehmend verbreitete Konsum von Cannabis ist mit einem Anstieg des HbA1c-Werts und vermehrtenKetoazidoseninFolge von Heißhungerattacken und unzureichendem Selbstmanagement verbunden [14] . Affektive Störungen und erhöhter diabetesbezogener Disstress gehören bei Menschen mit T1D zu den häufigsten psychischen Komorbiditäten. Epidemiologische Studien ergaben zudem, dass eine erhöhte Depressivität einen negativen Einfluss auf das Diabetesselbstmanagement hat und langfristig mit einer schlechteren Prognose einhergeht [15] . Der Eindruck, den eigenen Stoffwechsel nicht kontrollieren und steuern zu können, d. h. ein Gefühl der (erlernten) Hilflosigkeit, begünstigt dabei depressive Stimmungen, Antriebslosigkeit und Selbstzweifel. Vice versa geht das Engagement für die Diabetestherapie zurück [16] . » Psychische Störungen und Suizidalität sind eng mit unzureichender Stoffwechseleinstellung assoziiert Klinisch relevante Essstörungen, wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder "binge eating disorder", sind bei jungen Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes etwa ebenso so häufig wie in der gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung. Dagegen ist die Rate von subklinisch gestörtem Essverhalten v. a. bei jungen Frauen, aber auch jungen Männern mit T1D erhöht und bleibt ohne entsprechende Behandlung vom Jugendalter bis weit in das junge Erwachsenenalter bestehen [17] . Diese Komorbidität ist selbst bei subklinischer Ausprägung mit einer frü-hen mikrovaskulären Morbidität und erhöhter Mortalität bei Typ-1-Diabetes assoziiert [18] . Eine aktuelle norwegische Registerstudie unter jungen Erwachsenen mit T1D ergab, dass es insgesamt keine erhöhte Rate an psychischen Störungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung gibt. Allerdings war T1D signifikant mit einer geringeren Lebensqualität unter jungen Erwachsenen verbunden. Dabei erreichten diejenigen mit einer normnahen Stoffwechseleinstellung die gleiche Lebensqualität wie Gleichaltrige ohne T1D. Psychische Störungen und Suizidalität standen demgegenüber in enger Beziehung zu einer unzureichenden Stoffwechseleinstellung. Junge Frauen mit T1D wiesen ein höheres Maß an diabetesbedingten Problemen und Belastungen auf als Männer, wobei eine normnahe Stoffwechseleinstellung auch bei ihnen mit einem niedrigeren Diabetesbelastungsniveau verbunden war [19] . Schließlich wurde in einer aktuellen US-amerikanischen Studie dazu eine enge Assoziation zwischen emotionalem Wohlbefinden und der Zeit im Glukosezielbereich ("time in range" [TiR: 70-180 mg/dl]) belegt [20] . Selbst in einem gut entwickelten Gesundheitssystem wie dem in Deutschland, gelingt der Wechsel von der pädiatrischen zur internistischen Diabetesbehandlung bei weitem nicht immer reibungslos. Eine Längsschnittstudie auf der Datenbasis der deutsch-österreichischen DPV-Initiative (DPV: Diabetespatientenverlaufsdokumentation) zeigte dazu für eine ausgewählte Stichprobe, dass das mittlere HbA1c zwischen dem letzten Jahr in der pädiatrischen und dem ersten Jahr in der internistisch diabetologischen Betreuung bei hohem Ausgangsniveau nochmals anstieg; ebenso verdoppelten sich die Rate der Ketoazidosen mit der Notwendigkeit einer stationären Aufnahme und die Häufigkeit schwerer Hypoglykämien. Die Prävalenz mikrovaskulärer Komplikationen stieg ebenfalls in der Phase des Wechsels an, dabei war dieser Anstieg besonders dann ausgeprägt, wenn sich nach der pädiatrischen Behandlung eine längere Periode ohne eine spezialisier-te und qualifizierte Diabetesversorgung angeschlossen hatte [21] . Trotz engagierter Initiativen zur Unterstützung der Transition [2, 22] gibt es erhebliche Unterschiede, wann, auf welchem Weg und in welcher somatischen und psychischen Verfassung junge Erwachsene zum ersten Mal eine internistisch geleitete Diabetesschwerpunktpraxis aufsuchen. In ungünstigen Fällen sind Diabetesschwerpunktpraxen mit jungen Erwachsenen konfrontiert, die nach einer längeren Phase mit unzureichender Therapie bereits unter fortgeschrittenen mikrovaskulären und neurologischen Folgeerkrankungen leiden. Meist betrifft das junge Menschen mit einer Diabetesmanifestation in der frühen Kindheit, mangelnder familiärer Unterstützung in der Jugend und oft mehreren psychosozialen Belastungen, die einer konsequenten Diabetestherapie entgegenstehen. Eine Optimierung der Stoffwechselsituation setzt in solchen Fällen eine multiprofessionelle Betreuung voraus, bei welcher nicht nur die Glukosewerte beachtet werden, sondern auch die Stabilisierung der Lebenssituation angestrebt werden muss. Zunächst aber geht es darum, eine tragfähige und vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufzubauen und aufrechtzuerhalten, die nicht nur auf Defizite fokussiert, sondern auch die Stärken und Chancen dieser jungen Menschen mit T1D adressiert [22] . Der Idealfall einer gut abgestimmten Transition, an der neben dem jungen Erwachsenen dessen pädiatrische und internistische Diabetologen beteiligt sind, ist in Deutschland eher die Ausnahme als die Regel. Die Gründe dafür sind vielfältig, sowohl individuell als auch strukturell bedingt. Einige junge Erwachsene entziehen sich den zu hohen Anforderungen der Diabetestherapie durch Passivität und Leugnen der Risiken. Sie konzentrieren sich auf das Jetzt, andere sind kognitiv und psychisch nicht in der Lage, die Behandlung konsequent umzusetzen. Aufgabe des Diabetesteams ist es, die oben beschriebenen unterschiedlichen Ausgangssituationen zusammenzuführen, nicht nur bezogen auf die differenzierte Analyse der Glukose-und Therapiedaten, sondern auch emotional. Junge Erwachsene sollten dort abgeholt werden, wo sie aktuell im Leben und fachlich bezogen auf ihre Diabeteskenntnisse und praktischen Kompetenzen stehen. Das übergeordnete Ziel ist es dabei, Menschen mit T1D zu unterstützen, ein langes, gesundes und selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Strategien zur Erreichung des obigen Ziels umfassen im Wesentlichen die wirksame Verabreichung von exogenem Insulin, um den Glukosespiegel so gut wie möglich an den individuellen Zielbereich anzunähern. Gleichzeitig sollen schwere Hypoglykämien, v. a. solche mit Fremdhilfebedarf, und diabetische Ketoazidosen (DKA) verhindert werden. Eine intensivierte Insulintherapie mit schnell wirkenden Analoginsulinen und die bedarfsgerechte Nutzung aller zur Verfügung stehenden Technologien zur Glukosemessung und In-sulinsubstitution sind dabei unverzichtbare Standards [14, 24, 25] . Dabei sollte jedoch auch darauf geachtet werden, den erforderlichen Therapieaufwand zu senken. Zum Beispiel kann eine 2-malige basale Insulininjektion auf eine 1-malige Injektion reduziert werden oder es werden technische Hilfsmittel wie die kontinuierliche Glukosemessung (CGM) und eine Insulinpumpe mit Algorithmussteuerung genutzt. Es sollte dabei auch deutlich werden, dass durch neue Technologien allein, ohne das Zutun der Nutzer, wenig Erfolge bei der Diabetestherapie zu erwarten sind [26] . Young adults with type 1 diabetes largely bear the responsibility for their diabetes therapy themselves; at the same time, they enjoy newfound freedoms and are more open to take risks. Living alone, partnership, university, job and other developmental tasks place high demands on them. These are often difficult to reconcile with a qualified diabetes therapy. After many years of personal attachment to the team of a pediatric diabetes center, the transition to an internal diabetes specialist practice is not always smooth. Individual psychological stresses and inadequate diabetes management reinforce each other. At this stage of life, diabetes embodies exactly the opposite of everything that is age-appropriate. It demands a structured daily routine, disciplined nutrition, regular visits to the diabetologist, and forward thinking and action. The analysis of continuous glucose monitoring (CGM) data in the diabetes practice allows detailed insights into personal everyday life and can be associated with feelings of shame and guilt. The aim of long-term diabetes care is to consider all these aspects-current quality of life, personal goals, avoidance of acute diabetes complications and prevention of long-term cardiovascular complications-and to develop an individual treatment concept from this in a participatory manner. The most important task of the diabetes practice is to support young people on their individual path, to recognize their strengths and to motivate them through successes. Autoimmune diabetes · Adults · Risk factors · Self-management · Technology Gemeinsamer Bundesausschuss (2021) Richtlinie desGemeinsamenBundesausschusseszurZusammenführung der Anforderungen an strukturierte Behandlungsprogrammenach §137fAbsatz 2SGB zuletzt geändert am 18. März 2021 veröffentlicht im Bundesanzeiger (BAnz AT 4 Transition von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin Type 1 diabetes in young adulthood Techniker Krankenkasse (Hrsg) (2021) Entspann dich, Deutschland! -TK-Stressstudie 2021 Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH) Effekte psychischer Auffälligkeiten in Kindheit und Jugend im jungen Erwachsenenalter: Ergebnisse der KiGGS-Kohorte Typ-1-Diabetes im Jugendalter: Verantwortung übernehmen Diabetes bei Kindern -die richtigen Weichen stellen Hemoglobin A1c patterns of youth with type 1 diabetes 10 years post diagnosis from 3 continents The impact of racial and ethnic health disparities in diabetes management on clinical outcomes: a reinforcement learning analysis of health inequity among youth and young adults in the SEARCH for diabetes in youth study Time trends in mortality in patients with type 1 diabetes: nationwide population based cohort study Risk of substance use disorders among adolescents and emerging adults with type 1 diabetes: a population-based cohort study Effects of cannabis use in youth and young adults with type 1 diabetes: the highs, the lows, the don't knows Depressive symptoms and diabetes management from late adolescence to emerging adulthood Disturbed eating behaviors in adolescents and emerging adults with type 1 diabetes: a one-year prospectivestudy Diabetic Ketoacidosis and mortality in people with type1diabetesandeatingdisorders Mental and somatic health in university students with type 1 diabetes: new results from DiaSHoT18, a cross sectional national health and well-being survey The influence of time in range on daily mood in adults with type 1 diabetes DPV initiative and the Competence Network Diabetes Mellitus. Transition to adult diabetes care in Germany-High risk for acute complications and declining metabolic control during the transition phase The 3i conceptual framework for recognizing patient perspectives of type 1 diabetes during emerging adulthood Use and perception of telemedicine in people with type 1 diabetes during the COVID-19 pandemic-results of a global survey The management of type 1 diabetes in adults. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Digital health technology and mobile devices for the management of diabetes mellitus: state of the art State of type 1 diabetes management and outcomes from the T1D exchange in 2016 Schulungs-und Behandlungsprogramm zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) für Menschen mit Diabetes, 2 Evaluation of the SPECTRUM training programme for real-time continuous glucose monitoring: a real-world multicentre prospective study in 120 adults with type 1 diabetes Lived experience of advanced hybrid closedloop versus hybrid closed-loop: patient-reported outcomes and perspectives A comparison of two hybrid closed-loop systems in adolescents and young adults with type 1 diabetes (FLAIR): a multicentre, randomised, crossover trial Glucose management for exercise using continuous glucose monitoring (CGM) and intermittently scanned CGM (isCGM) systems in type 1 diabetes: position statement of the European Association for the Study of Diabetes (EASD) and of the International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes (ISPAD) endorsed by JDRF and supported by the Obesity in people living with type 1 diabetes Diabetes burnout among emerging adults with type 1 diabetes: a mixed methods investigation