key: cord-0073379-xmk8g28q authors: Bartol, Arne; Dreßler, Katrin; Kaskel, Peter; Landsberg, Christiane; Lechner, Cornelia; Petschulies, Marco title: Zehn Jahre AMNOG-Prozess aus Sicht der Onkologie: Neuland erschlossen, Bebauung geht weiter date: 2022-01-12 journal: Forum DOI: 10.1007/s12312-021-01031-x sha: 9dd98a5741057b1442ce10adf6682d484f6700dc doc_id: 73379 cord_uid: xmk8g28q nan Die COVID-19-Pandemie hat auch im Jahr 2021 vieles überschattet. Aber ein rundes Jubiläum einer tief greifenden gesundheitspolitischen Neuordnung sollte dennoch nicht einfach unbeachtet vorbeiziehen. Am 1. Januar 2021 jährte sich das Inkrafttreten des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) zum 10. Mal [1] . Das AMNOG steht insbesondere für die Einführung der "frühen Nutzenbewertung", der deutschen Spielart des Health Technology Assessment (HTA). Deutschland war nicht das erste Land, das HTA eingeführt hat, aber es wurde mit dem AMNOG-Prozess und seinen Instanzen, allen voran der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), rasch zu einem viel beachteten Vorreiter weltweit. Das AMNOG-Verfahren schließt zeitlich an die arzneimittelrechtliche Zulassung bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) an. Ziel ist die Bestimmung des Zusatznutzens eines neuen Medikaments im Vergleich zu einem Therapiestandard, der "zweckmäßigen Vergleichstherapie" (zVT). Der pharmazeutische Unternehmer (pU) reicht dazu mit Markteintritt ein Dossier ein, das vom IQWiG bewertet wird, wofür das Institut 3 Monate Zeit hat. ("Markteintritt" ist dabei definiert als Zeitpunkt der erstmaligen Inverkehrbringung eines Medikaments, alternativ als 1 Monat nach Zulassungserweiterung bei Medikamenten, die nach dem 1. Januar 2011 erstmals zugelassen wurden und bei denen bereits ein nutzenbewertetes Anwendungsgebiet existiert.) Auf Basis der IQWiG-Dossierempfehlung und eines Stellungnahmeverfahrens mit mündlicher Anhörung vergibt der G-BA einen Zusatznutzen in 6 Kategorien (. Abb. 1 und 2; . Tab. 1). Nutzen ist geringer als der der zVT zVT zweckmäßige Vergleichstherapie reichlich. Genannt sei die konsequent umgesetzte Einführung von Immunonkologika wie 2011 Ipilimumab sowie 2015 Nivolumab und Pembrolizumab -eine komplett neue Säule der Krebstherapie, die das System vorher nicht kannte. Zu nennen wären auch die Tyrosinkinaseinhibitoren sowie die "advanced therapy medicinal products" (ATMP), wobei bei Letzteren die "Einführungsphase" ins AMNOG-System noch läuft und sicher noch die eine oder andere Stellschraube zu betätigen ist. Dennoch: Dass auch erste onkologische CAR-T-Zelltherapien, wie Tisagenlecleucel und Axicabtagene Ciloleucel, zügig Einzug in die reguläre Versorgung und die GKV-Erstattung gehalten haben und dass damit gelungen ist, Maßnahmen zur Qualitätssicherung zu formulieren [6], all das spricht für die Leistungs-und Adaptionsfähigkeit des AMNOG-Prozesses. Die Adaptationsfähigkeit des AMNOG-Prozesses scheint uns rückblickend ohnehin der vielleicht entscheidende Faktor dafür gewesen zu sein, dass das deutsche HTA vergleichsweise erfolgreiche 10 Jahre hinter sich hat. Onkologische Fachgesellschaften in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) haben, genauso wie Vertreter aus Politik, Medizin, Wissenschaft und Wirtschaft, schon früh darauf gedrungen, den AMNOG-Prozess als ein lernendes System zu begreifen, das über die Jahre weiterentwickelt werden muss. Dies war anfangs durchaus nicht Konsens, aber hat sich als richtig und wichtig herausgestellt. Ablesbar ist der kon-tinuierliche Lernprozess nicht zuletzt an der langen Liste von Gesetzen mit Bezug zur frühen Nutzenbewertung, die auf das AMNOG folgten. Genannt seien hier beispielhaft das Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (GKV-AMVSG) aus dem Jahr 2017, das die Bündelung mehrerer Bewertungsverfahren zu einem Wirkstoff und die Abbildung von Nutzenbewertungsbeschlüssen in der Praxissoftware brachte oder das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) aus dem Jahr 2019, das die anwendungsbegleitende Datenerhebung und eine stärkere Beteiligung der Fachgesellschaften einführte. Außerhalb der Onkologie hat das Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FKG) aus dem Jahr 2020 klargestellt, dass für freigestellte Reserveantibiotika ein Zusatznutzen als belegt gilt. Die Vielzahl an G-BA-Entscheidungen eines Jahrzehnts zu würdigen, sprengt auch dann den Rahmen dieses Beitrags, wenn wir uns auf die Onkologie fokussieren. Ein Blick in den Geschäftsbericht 2020 des G-BA genügt, um zu illustrieren, wie aussichtslos ein solches Unterfangen wäre. Allein in diesem einen (Corona-)Jahr haben die pU beim G-BA 116 Nutzendossiers eingereicht, mehr als je zuvor. Allein 42 davon kamen aus dem Bereich Onkologie [7] . Auch in den 9 Jahren davor war die Onkologie bei den Nutzenbewertungen mit Abstand Spitzenreiter (. Tab. 2). Vor diesem Hintergrund sollen im Rahmen dieses Beitrags weniger einzelne Entscheidungen als einige der "strukturellen Neuerungen" hervorgehoben werden, die den AMNOG-Prozess in den letzten 10 Jah- Was die vom G-BA anerkannte Evidenz angeht, gibt es in der Onkologie die das gesamte erste AMNOG-Jahrzehnt begleitende Diskussion um das progressionsfreie Überleben (PFS), dem das IQWiG weiterhin nicht die Bedeutung als patientenrelevanter Endpunkt zuschreibt und über dessen Patientenrelevanz innerhalb des G-BA Uneinigkeit besteht. In diesem Punkt gibt es einen Dissens zwischen der Mehrheit der pU, den Fachgesellschaften und vielen Patientenvertretern einerseits sowie den bundesdeutschen HTA-Instanzen andererseits. Insgesamt erscheint es uns wichtig zu betonen, dass eine Nutzenbewertung nicht übersimplifizieren darf. Vielmehr sollten patientenrelevante Endpunkte tumorentitäts-und stadienabhängig ausgewählt werden, um der Komplexität der Krebstherapie Rechnung zu tragen [3] . Ein in diese Richtung gehender Lernprozess des AMNOG bei der Evidenzbewertung ist -bei allem Dissens in puncto PFS -in der Gesamtschau klar zu erkennen. Zu nennen ist hier die Anerkennung bildgebender intermediärer Endpunkte in bestimmten Therapiekonstellationen. Besonders wichtig ist das in der adjuvanten Krebstherapie, wo der G-BA bei tumorfreien Patienten das Tumorrezidiv auch dann als patientenrelevant anerkennt, wenn es ausschließlich über Biomarker bzw. Bildgebung diagnostiziert wird und noch nicht klinisch manifest ist. So wurden in der jüngeren Vergangenheit sowohl bei Tyrosinkinaseinhibitoren (BRAF/MEK) als auch bei Immuntherapeutika (PD-1) radiologisch manifest gewordene Rezidive anerkannt [11, 12] . Aber auch in hämatologisch-onkologischen Indikationen wurde mit dem ereignisfreien Überleben ein solcher Endpunkt vom G-BA anerkannt, erstmalig konkret im Nutzenbewertungsverfahren zu Brentuximab-Vedotin beim anaplastischen, großzelligen Lymphom [13]. Daneben sind im Zusammenhang mit Evidenz und Evidenzbewertung einige nur scheinbar nebensächliche Prozessinnovationen hervorzuheben, die den AMNOG-Alltag aus Sicht der pU zum Positiven verändert haben. So brachte das GKV-AMVSG im Jahr 2017 die Möglichkeit, eine erneute Nutzenbewertung aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnissebereits vor Ablauf eines Jahres beim G-BA zu beantragen. Das führt zu einer gewissen Beschleunigung in Konstellationen mit sich dynamisch verändernder Evidenzsituation, wobei das Wiederbewertungsverfahren dann trotzdem erst nach Ablauf des Jahres startet. Hilfreich ist die ebenfalls mit dem GKV-AMVSG geschaffene Möglichkeit der Bündelung von mehreren Nutzenbewertungsverfahren zu einem Arzneimittel mit neuem Wirkstoff. Die Bündelungsoption ermöglicht es dem pU, Dossiers bei der Einreichung "zusammenzulegen", wenn innerhalb von 6 Monaten nach Markteintritt die Zulassung weiterer Anwendungsgebiete zu erwarten ist. Auf diese Weise kann der pU im Einzelfall von gesetzlichen Fristvorgaben abweichen und erforderliche Nachweise zur Nutzenbewertung "gebündelt" einreichen. Auch das führt letztlich zu einer Steigerung der Verfah-renseffizienz aufseiten von G-BA, GKV-SV und pU. Positiv hervorgehoben werden sollte an dieser Stelle auch, dass der G-BAbisher allerdings nur in Ausnahmefäl- Anzuerkennen, dass das AMNOG-Verfahren ein lernendes System ist, beinhaltet auch, dass der Lernprozess ein kontinuierlicher ist und nicht im 2. Lebensjahrzehnt oder mit Ablauf einer Legislatur endet. An dieser Stelle sollen deswegen einige aktuell offene Punkte genannt werden, die aus Sicht der in der Onkologie tätigen pU an eine neue Bundesregierung adressiert werden. Die bisherigen Strukturen des AMNOG-Prozesses sind in weiten Teilen entwickelt worden, als noch niemand Immunonkologika mit ihrer Vielzahl von Indikationserweiterungen auf der einen sowie Genund Zelltherapien auf der anderen Seite kommen sah, als es noch keine tumorübergreifenden Arzneimittelzulassungen gab und als sich noch kaum jemand vorstellen konnte, in welchem Umfang etablierte Tumorentitäten durch molekulargenetische Marker innerhalb weniger Jahre in teils Dutzende Subentitäten aufgespaltet würden. Es wäre allerdings nicht fair, so zu tun, als ob einfach nur die HTA-Instanzen ihre Hausaufgaben machen müssten. Tatsächlich entwickeln sich Medizin und Wissenschaft insgesamt weiter. Die eigentliche Botschaft, die von diesem Beitrag ausgehen sollte, ist daher eine breitere: Ein Gesundheitswesen, das den Anspruch erhebt, eines der besten weltweit zu sein, und dies auch bleiben möchte, muss den medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritt insgesamt im Blick behalten und, wenn nötig, seine Strukturen und seine Bewertungssystematiken kontinuierlich anpassen. Bundesgesetzblatt Teil I Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) Zusatznutzen neuer Arzneimittel Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) (2021) Deutschland ist schnell. Pressemeldung 25 Gemeinsamer Bundesausschuss Geschäftsbericht 2020 Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften Bundesgesetzblatt Teil I; 2012; Nr. 50 vom 25 Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) Nutzenbewertungsbeschluss vom 20 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) (2020) Allgemeine Methoden. Version 6.0 vom 05 Manual für Methoden und Nutzung versorgungsnaher Daten zur Wissensgenerierung Verfahren zur Forderung einer anwendungsbegleitenden Datenerhebung. Beschluss vom 16.07.2020