key: cord-0071763-whu996c7 authors: Gestwa, Klaus title: Putin, der Cliotherapeut. Überdosis an Geschichte und politisierte Erinnerungskonflikte in Osteuropa date: 2021-12-17 journal: Neue Polit Lit DOI: 10.1007/s42520-021-00403-w sha: ddf7b2fb8592df9ad8fc7ebf768afba607739262 doc_id: 71763 cord_uid: whu996c7 This article discusses attempts to legitimise real political goals through historical reinterpretations or to divert attention from political crises, using the example of Russian President Putin’s historical policy. After briefly outlining the origins of civil society as well as the commercialisation and institutionalisation of historical interest in the post-Soviet countries, the article analyses the examples of the Russian-Estonian monument dispute as well as a dispute over the interpretation of the Second World War between Russia, Ukraine and Lithuania. The historical-political situation in Eastern Europe is characterised as a “battlefield of memories”. Leiderfahrung und problematische Seiten der Weltkriegsgeschichte ins Licht. Unter anderem problematisierte er die zweifelhafte Rolle der Parteiführung bei der Verteidigung Leningrads, die sich in Zeiten des omnipräsenten Hungertods fürstlich bewirten ließ. 6 In seiner Rolle als patriotischer Kriegsveteran, der als unerbittlicher Kämpfer gegen die Wehrmacht später seinen Frieden mit Deutschland schloss, ist Granin ein bewundernswerter Botschafter der erfolgreichen deutsch-russischen Versöhnungsarbeit. Auch der russische Präsident Vladimir Putin hielt zu Beginn seiner ersten Amtszeit am 25. September 2001 eine viel beachtete Rede vor dem Deutschen Bundestag, den Großteil davon sogar in einem ausgezeichneten Deutsch. Seine spärlichen Hinweise auf positive Aspekte der deutsch-russischen Beziehungsgeschichte dienten vor allem dazu, sein Hauptanliegen zu unterstreichen. Vor dem Hintergrund der kurz zuvor am 11. September 2001 in den USA verübten Terroranschläge bedürfe es einer neuen globalen Sicherheitsarchitektur, in der Russland und seine Interessen angemessene Berücksichtigung finden müssten, um die gegenwärtigen globalen Herausforderungen zu meistern. 7 Als in der Folgezeit die Sowjetnostalgie in Russland um sich griff, begann Putin, sich zunehmend für den politischen Nutzen der Geschichte zu interessieren. Dabei trat er zunächst weniger mit programmatischen Reden zur Geschichtspolitik in Erscheinung. Vielmehr griff er mit eingängigen Formulierungen die in der Gesellschaft verbreiteten historischen Sehnsüchte auf und bestärkte schon bestehende geschichtspolitische Konjunkturen. Mit Gorbatschows Glasnost hatte seit 1987 die schmerzhafte Auseinandersetzung mit historischen Tabuthemen begonnen. Diese in der postkommunistischen Dekade fortgesetzte schonungslose Aufarbeitung erschütterte zunehmend das kollektive Selbstwertgefühl in Russland. Gegen Ende der 1990er Jahre fanden Stimmen in der politischen Öffentlichkeit zunehmend Gehör, die von einem unerträglich gewordenen historischen Masochismus sprachen und einen neuen Erinnerungscode einforderten, um der vermeintlichen Pädagogik der Scham und Selbsterniedrigung ein Ende zu setzen. Statt weiter in den offenen Wunden der Vergangenheit herum zu bohren, galt es, zum Zwecke kollektiver Seelenwellness wieder stärker die Errungenschaften der Sowjetgeschichte in Erinnerung zu rufen. 8 Der Blick zurück sollte nicht mit Zorn, sondern mit Stolz erfüllt sein, um anstelle des kompromittierten Sozialismus fortan mit einem pathetischen Patriotismus eine positive Bindung der Russ_innen an ihren Staat zu schaffen. Diese positive Rückbesinnung wurde von den staatlichen Stellen vorangetrieben. Sie schlug sich im Jahr 2000 für alle hör-und sichtbar in der Wiedereinführung der alten sowjetischen Hymne (mit neuem Text) und in zahlreichen weiteren Rückgriffen auf die sowjetische Staatssymbolik nieder. 9 Besondere Aufmerksamkeit erhielt das von Putin in seiner Rede zur Lage der Nation im April 2005 verkündete Statement, der Zerfall der Sowjetunion 1991 sei "die größte geopolitische Katastrophe" des 20. Jahrhunderts gewesen. 10 Während der Kremlchef damit auf den Punkt brachte, was viele russische Bürger_innen beschäftigte, griff im Ausland die Furcht um sich, Moskau könne zur Linderung neoimperialer Phantomschmerzen eine expansive Sammlungspolitik der Länder der ehemaligen Sowjetunion oder sogar des Ostblocks anstreben. Diese Ängste wuchsen, als Russland im März 2014 die ukrainische Halbinsel Krim völkerrechtswidrig annektierte und kurz darauf fünf postsowjetische Nachfolgestaaten das Gründungsabkommen der von Moskau dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion unterschrieben. 11 Geschichtspolitisch fiel Putin ferner mit lobenden Äußerungen zur Arbeit des sowjetischen Geheimdienstapparats auf, der viele stalinistische Gräueltaten exekutiert hatte und damit während der kritischen Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte in den 1990er Jahren zum Inbegriff totalitärer Schreckensherrschaft geworden war. Der vom KGB-Spion zum Präsidenten aufgestiegene Putin leugnete die stalinistischen Gräueltaten zwar nicht. Aber er relativierte sie, indem er die Grausamkeiten der damaligen Machthaber als politische Notwendigkeit auslegte. Nur durch den brutal erzwungenen Gehorsam und seinen erbarmungslosen Industrialisierungsfeldzug habe Stalin mit seiner starken Führung dem Land den Weltkriegstriumph bringen können. Das müsse bei der historischen Bilanz des Stalinismus entsprechende Gewichtung finden. Ansonsten diene die "exzessive Dämonisierung Stalins" -so Putins Deutung -nur dazu, "die Sowjetunion und Russland anzugreifen". 12 trugen dazu bei, dass das zwischen 2009 und 2012 von Politik und Öffentlichkeit in Russland geforderte "Programm zur Entstalinisierung" scheiterte. Prostalinistische Gegenkampagnen erklärten, "Russophobie und Entstalinisierung sind zwei Seiten einer Medaille". Den Entstalinisierer_innen wurde ungeniert vorgeworfen, sie "tanzen nach der Pfeife der Provokateure aus dem Westen", wollten "Russland in einem uferlosen Minderwertigkeitskomplex ertränken" und mit einer historischen "Hexenjagd" einen "Bürgerkrieg" lostreten. 13 Zwar musste das von der Moskauer Staatsverwaltung 2010 gestartete Unterfangen gestoppt werden, anlässlich des 65. Jahrestags des Weltkriegstriumphs zahlreiche Werbeflächen und Stadtbusse mit den Bildnis Stalins zu versehen, um so an seinen "herausragenden Anteil an der Zerschlagung des Faschismus zu erinnern". 14 Dennoch setzte sich der Trend zur Rehabilitierung Stalins weiter fort. Heute gilt er einer Mehrheit der russischen Bevölkerung wieder als bedeutendste historische Figur Russlands und großartiger Staatsmann, nachdem er gegen Ende der 1980er Jahre in der sowjetischen Öffentlichkeit in tiefe Ungnade gefallen war. 15 Ein anschauliches Beispiel für das Bemühen, die stalinistische Schreckensherrschaft zu verharmlosen, ist das Schicksal des von zivilgesellschaftlichen Kräften getragenen GULag-Museums Perm-36. Diese auf dem Gelände eines vormaligen Arbeitslagers liegende Gedenkstätte geriet nach 2012 unter starken politischen Druck. Die Museumsleitung wurde komplett ausgetauscht und die Trägerschaft neu geregelt. Infolgedessen kam es zu einem grundlegenden Wandel des ursprünglichen Ausstellungskonzepts. Die Häftlinge erschienen nun nicht mehr als Opfer einer totalitären Diktatur, sondern als "Kriminelle" und "Volksverräter", die mit ihrer Zwangsarbeit gleichfalls einen Beitrag zum Weltkriegstriumph geleistet hätten. 16 Gegen diese zynische Sichtweise intervenierten russische sowie internationale Wissenschaftler_innen und Medien. Damit erreichten sie zumindest, dass neuerdings in etwas angemessenerer Weise an das Leid ehemaliger Lagerinsassen erin-13 Becker, Anna: Mythos Stalin. Stalinismus und staatliche Geschichtspolitik im postsowjetischen Russland der Ära Putin, be.bra, Berlin 2016, S. 117. 14 Ebd., S. 103 f. 15 Vgl. z K ne" bezieht, werden Gedenktafeln für die Opfer des stalinistischen Terrors an der Außenfront ihres letzten bekannten Wohnhauses angebracht. 27 Gegen das Vergessen der stalinistischen Repressionen arbeitet zugleich das Projekt "Topografie des Terrors". Dabei handelt es sich um einen interaktiven, digital verfügbaren Stadtplan, der Täter-sowie Opferorte verzeichnet und dazu wichtige Informationen vermittelt, um so das heutige Moskau und andere russische Städte mit einem Netz von alltäglichen Erinnerungsorten zu überziehen. 28 Die Wachsamkeit der Zivilgesellschaft führte 2019 in der Uralmetropole Jekaterinburg dazu, dass ein besonders massiver Vorstoß staatlicher Behörden und Ver-treter_innen der Sicherheitskräfte scheiterte, unbequeme Geschichte zu entsorgen. Dort sollte die auf dem Gelände eines stalinistischen Massengrabs errichtete Erinnerungsstätte den Schießständen eines zum Innenministerium gehörenden Sportvereins weichen. Dieser zynische Akt, an einem Ort früherer Massenerschießungen die Geheimpolizei wieder den Waffengebrauch trainieren zu lassen, löste monatelange Demonstrationen aufgebrachter Anwohner_innen aus. Diese verhinderten schließlich, dass auf den Überresten von 20.000 verscharrten Terroropfern Zielscheiben aufgestellt wurden. 29 Für einen veritablen Skandal sorgte zuletzt noch einmal im Januar 2021 die Eröffnung des Imbisses "Stalin Döner" im Norden Moskaus, dessen Personal in grünen Geheimdienstuniformen aus den 1930er Jahren bediente. Diese geschmacklose Marketing-Idee rief einen Sturm der Entrüstung hervor und führte zur Schließung der Dönerbude. Die Menschenrechtsorganisation "Memorial" kritisierte, derartig deplatzierte und abstoßende Initiativen seien nur möglich, weil der russische Staat es bislang vermieden habe, sich von den Verbrechen unter Stalin in aller Klarheit abzugrenzen. Deshalb habe sich die Rechtfertigung des massenhaften Staatsterrors zu einer Normalität entwickelt. Dazu trage maßgeblich bei, dass stalinistische Begriffe wie "Volksfeinde" und "ausländische Agenten" längst wieder Teil des Sprachgebrauchs der russischen Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit geworden seien. 30 Schon 1988 hatte der sowjetische Historiker Michail Gefter angesichts der enormen Gegenwartspräsenz des Stalinismus plakativ postuliert: "Stalin ist erst gestern gestorben". 32 Die bis heute "verzerrte Trauer" habe das postkommunistische Russland sodann immer mehr zu einem "Land der Unbeerdigten" werden lassen. Die zahlreichen Opfer der stalinistischen Terrorherrschaft verfolgen als "Untote" weiterhin die Nachgeborenen. Bei den Auseinandersetzungen mit der unverarbeiteten Gewaltgeschichte kehren traumatische Leiderfahrungen immer wieder aufs Neue auf die Bühne der Politik zurück, um dort neue, oftmals gespenstische Spektakel zur Aufführung zu bringen. 33 Als sich bei den Polittechnokrat_innen des Kremls die Meinung durchsetzte, dass eine "gelenkte Demokratie" ein intensiv betreutes historisches Gedenken benötige, gründeten sie 2009 die "Präsidentielle Kommission zur Verhinderung der Fälschung der Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands". Zwar verschwand diese Tage später aufgebrachte Gemüter der patriotischen Vereinigung Za pravdu (Für die Wahrheit) vor dem Gebäude, in dem Memorial seine Büros hat. Sie drängten auf Einlass und echauffierten sich lautstark über die ihrer Meinung ungebührliche Kritik der "ausländischen Agenten" an Stalin. Diese aggressionsgeladene Szene schien bangen Beobachter_innen einen ersten Vorgeschmack auf drohende Pogrome gegen diejenigen zu geben, die sich gegen die Apologie des Stalinismus stemmen. Vgl K Überwachungsagentur schon fünf Jahre später sang-und klanglos wieder von der politischen Bildfläche; aber ihre Gründung zeigte, dass die staatlich kontrollierte Institutionalisierung der Erinnerungskultur auf der politischen Agenda des Kremls stand. 34 Es kam zu vermehrten administrativen und juristischen Schikanen gegen kritische Historiker_innen. 35 Seit einem 2012 verabschiedeten Gesetz hat die Regierung die Möglichkeit, politisch tätige und international unterstützte zivilgesellschaftliche Organisationen als "ausländische Agenten" zu registrieren und so zu diskreditieren (betroffen davon sind mittlerweile 160 Einrichtungen und Vereinigungen). Mit diesen administrativen Mitteln gehen die russischen Behörden erbittert und unnachgiebig gegen erinnerungskulturell aktive Organisationen wie "Memorial" und das "Levada-Zentrum" vor. 36 Zugleich entstanden zahlreiche neue, explizit auf Geschichtsvermittlung ausgerichtete Gesellschaften und Vereine, die sich als NGOs bezeichnen, obwohl sie finanziell und personell eng mit Regierungsbehörden und staatsnahen Organisationen verbunden sind. Statt eine differenzierte Aufarbeitung voranzutreiben, ergehen sie sich meist in einer übermäßigen Glorifizierung der russischen und sowjetischen Vergangenheit, bei der problematische Aspekte verschwiegen, marginalisiert oder relativiert werden. 37 Des Weiteren begann die Arbeit an verbindlichen, staatlich vorgegebenen historischen Bildungsstandards. Dafür hat sich besonders die von 2016 bis 2020 amtierende, als eifrige Hüterin patriotisch-religiöser Werte auftretende Bildungsministerin Ol'ga Vasil'eva eingesetzt. 38 gramme zur patriotischen Erziehung. Viel diskutiert werden seit einigen Jahren die Vorgaben für den Geschichtsunterricht und die neuen Geschichtslehrbücher. 39 Zudem trägt die in Moskau und mittlerweile in weiteren 25 Städten organisierte Großausstellung "Russland -Meine Geschichte" dazu bei, ein politisch gewünschtes Bild von der russischen Vergangenheit zu vermitteln. Diese mit modernen immersivmultimedialen Mitteln gestaltete Exposition haben die Kurator_innen im Auftrag des russischen Kulturministeriums und der russisch-orthodoxen Kirche dank großzügiger finanzieller Förderung von Gazprom realisiert. 40 Damit einhergegangen ist eine Kommerzialisierung durch eine neue "Geschichtsindustrie". 41 Mit staatlichen Geldern produzierte, patriotisch eingefärbte Historienfilme haben im Format von Hollywood-Blockbustern mit flachen Dialogen, platten Genreklischees, lauten Spezialeffekten und übertriebenem Pathos Geschichte auf die Leinwand gebracht. Im russischen Fernsehen sind Serien und Sendungen beliebt, die bei ihrem Anspruch, angeblich unbekannte historische Wahrheiten aufzudecken, vom allgemein gesicherten Forschungsstand stark abweichende Behauptungen präsentieren. Das Ziel dieser kostümierten Geschichtspolitik ist es meist, mit ihrer überzeichneten Emotionalisierung und Effekthascherei Russland und die Sowjetunion von historischer Verantwortung reinzuwaschen. Deshalb wird mittels vermeintlich spektakulärer neuer Funde die Schuld ausländischen Akteuren zugewiesen. Nicht selten erfahren damit überlieferte Verschwörungsfantasien eine Aktualisierung. 42 Beim kinematografischen Bleichen der dunklen Seiten der russisch-sowjetischen Geschichte erscheinen die einfachen Menschen nur als reines Verschleißmaterial des großen Weltgeschehens, während die Staatsmacht sakralisiert und ihre in bestimmten Phasen besonders evidente autoritäre Härte relativiert wird. 43 Eine besondere Geschichtslektion in Form eines patriotischen Vergnügens erteilt ferner der als "militärisches Disneyland" bezeichnete, eine Autostunde westlich vom Moskau gelegene "Park Patriot". An seiner Eröffnung im Juni 2015 nahm Präsident Putin genauso teil wie führende Vertreter des russischen Rockerklubs "Nachtwölfe". Diese Vereinigung vertritt nationalistische, neostalinistische und christlich-orthodoxe Ansichten. Ihre Mitglieder bilden gern die Staffage, vor der sich der russische Präsident als cooler Biker in Szene setzt. Der vom russischen Verteidigungsministerium betriebene Park zeigt zahllose militärische Exponate und bietet einen verklärten Blick auf die bis heute fortdauernde russische Kriegsgeschichte (Teil der Ausstellung ist auch die russische Intervention im syrischen Bürgerkrieg). Die Geschichte Russlands erscheint hier als eine Abfolge großer militärischer Siege. Darüber hinaus kam es im April 2017 zur Einweihung eines Nachbaus des deutschen Reichstagsgebäudes, um in Form eines reenactment die Schlacht um Berlin und den Sturm auf den Reichstag nachspielen zu können. Der blutige Weltkrieg verkommt so zu einem harmlosen Spektakel, um die Erinnerung daran zu kommerzialisieren und sie auf dem Markt der Ideologien und Identitäten zur Ware zu machen. Zusätzlich zu den interaktiven Wissens-und Erlebnisräumen im patriotischen Jugendbildungszentrum "Avantgarde" dienen derartige Inszenierungen dazu, den überlieferten "Fanfarenheroismus" 44 auf die nachwachsende Generation zu übertragen und Kritik an der sowjetischen Kriegsführung zu unterbinden. 45 Ähnliche, von Putin geforderte "lebendige Formen des Patriotismus" bilden auch die militärhistorischen Ferienlager und Festivals, die von der 2012 gegründeten "Russischen Gesellschaft für Militärgeschichte" (RVIO) organisiert werden. Diese Veranstaltungen werden von mehreren Zehntausenden Kindern und Jugendlichen besucht, um ihnen durch das aktive Nacherleben von Geschichte (durch militärische 43 49 Kolesnikov: Erinnerung (wie Anm. 21), S. 9; Esch, Christian: Putin, Stalin und die Gottesmutter, in: Der SPIEGEL, 9. Mai 2020, URL: [letzter Zugriff am 05.10.2020]. Bezogen auf die Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg" als das Allerheiligste der Sowjetgeschichte sprach schon der Schriftsteller Vasilij Grossmann von einem "stummen Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat". 50 Dieser Zwiespalt ist längst nicht mehr unausgesprochen, seit im Zuge einer forschen historischen Offenbarungslust unbequeme Fragen gestellt werden. Als einer der größten russischen Fernsehsender (NTV) 2012 den nach einer wahren Begebenheit gedrehten deutschen Anti-Kriegsfilm "Vier Tage im Mai" (Regie: Achim von Borreis) ausstrahlen wollte, kam es -angestiftet durch prostalinistisch-patriotische Organisationen -zu einem Medienskandal. Der Film, der das in Russland verdrängte Problem der massenhaften Übergriffe der Roten Armee auf die deutsche Zivilbevölkerung (auch die Massenvergewaltigungen) thematisierte, musste auf heftige Proteste patriotischer Gruppen hin aus dem Programm genommen werden. Er ziele angeblich nur darauf, die Kriegsveteranen zu verunglimpfen und die Ehre der Roten Armee in den Schmutz zu ziehen. 51 Für politischen Wirbel sorgte 2014 auch der unabhängige TV-Sender "Dožd'", als seine Redakteur_innen die schon 1989 vom russischen Schriftsteller Viktor Astaf'ev aufgeworfene provokante Frage, ob die Verteidigung Leningrads sinnvoll gewesen sei, zum Gegenstand einer Internet-Umfrage machten. 52 Einen landesweiten Sturm der Entrüstung lösten im Sommer 2015 ferner die vom "Zentralen Staatsarchiv Russlands" veröffentlichten Akten aus, die einen der bekanntesten sowjetischen Heldenmythen aus dem Zweiten Weltkrieg -die Panfilovcy -als fake history enthüllten. Drei Zeitungsjournalisten hatten noch während der Kriegshandlungen die Legende erfunden und erfolgreich verbreitet, Generalmajor Ivan Panfilov und 28 Infanteristen hätten im November 1941 vor Moskau trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit einem massiven deutschen Panzerangriff standgehalten und dabei ihr Leben gelassen. Obwohl die veröffentlichten Archivunterlagen zweifelsfrei zeigten, dass an dieser patriotischen Erzählung über Selbstaufopferung und Kriegsruhm nichts stimmt, richtete sich die Wut von Öffentlichkeit und Politik keineswegs gegen die längst verstorbenen Fälscher_innen und die unbeirrten Bewahrer_innen der stalinistischen Propagandalüge, sondern gegen die historischen Aufklärer_innen. Ihnen wurde der Vorwurf gemacht, mit der "unmoralischen Demaskierung und Entzauberung der Heldentat" an den Stützen der nationalen Identität zu rütteln. Die Botschaft war eindeutig: Die historische Wahrheit habe hinter geschichtspolitisch bedeutsamen Mythen zurückzustehen -Verklärung statt Enthüllung. 53 Neben diesen vehementen Debatten um das richtige kollektive Gedenken ergibt sich die in Russland zu beobachtende "zerrissene Erinnerung" 54 vor allem aus dem Zusammenwirken der gesellschaftlichen Verankerung der Kriegserfahrung mit der übergeordneten politischen Bedeutung der Kriegserinnerung für den Staat. Mit seinen 27 Millionen Toten und seinen enormen Entbehrungen ließ der "Große Vaterländische Krieg" kaum eine sowjetische Familie unberührt und verursachte damit tiefe Spuren im privaten Gedächtnis der Generationen. Das daraus resultierende selbstbestimmte individuelle Gedenken prägen Siegesstolz und Trauer genauso wie die Thematisierung glorreicher Helden-und blutiger Schandtaten. Zu einem Spezifikum der dynamischen russischen Erinnerungskultur hat sich darum in der Putin-Ära das Bestreben entwickelt, das individuelle Gedenken im politischen Gedächtnis aufgehen zu lassen und so gesellschaftliche Eigeninitiative zu vereinnahmen. 55 6 Die Verstaatlichung des individuellen Gedenkens: Das "Georgsband" und das "unsterbliche Regiment" Ein anschauliches Beispiel für die Verstaatlichungsstrategie privater und sozialer Erinnerungspraktiken stellt das "Georgsband" dar. K Krim und in der Ostukraine, um damit ihre Verbundenheit mit Russland sowie ihre militärische Kampfbereitschaft zum Ausdruck zu bringen. Die beiden auf der Krim gelegenen Städte Sevastopol und Simferopol lieferten sich sogar einen Wettstreit um das längste "Georgsband". 56 Seitdem ist aus dem russischen remembrance poppy ein omnipräsentes, politisch aufgeladenes Gedenkemblem geworden, das für ein selektives Geschichtsbild steht. In diesem werden historische Brüche wie Revolution und Bürgerkrieg sowie alle negativen Vergangenheitsaspekte ausgeblendet, um eine ununterbrochene russisch-sowjetische Siegestradition zu konstruieren und dabei die geschichtsprägende Kraft des Militärs zu betonen. 57 Aus dem verbreiteten Bedürfnis, jenseits großer Inszenierungen und bekannter Rituale eine eigenständige Erinnerungspraxis zu entwickeln, entstand die Initiative "unsterbliches Regiment". In der westsibirischen Großstadt Tomsk versammelten sich 2012 erstmals Menschen zu einem Gedenkmarsch, um Porträts ihrer Verwandten vor sich herzutragen, die am "Großen Vaterländischen Krieg" teilgenommen hatten. 58 Diese zivilgesellschaftliche Aktion traf vielerorts in Russland auf große Resonanz. In den sozialen Netzwerken teilten russische Familien Berichte über die Kriegserlebnisse ihrer Vorfahren, die in ihrer unzensierten Form auch immer wieder Erzählungen vermittelten, die nicht dem tradierten, heroischen Narrativ entsprachen. Ziel dieses privaten Gedenkens im öffentlichen Raum war es, zum einen die Zugehörigkeit zur Erinnerungsgemeinschaft zu demonstrieren, und zum anderen durch die verstärkte Kommunikation von familienbezogenen Kriegserfahrungen die Erinnerungskultur -im wahrsten Sinne des Wortes -zu beleben. Die Gedenkmärsche des "unsterblichen Regiments" erhielten nicht nur in russischen Städten schnell enormen Zulauf. Zu ähnlichen Aktionen kam es auch in sowjetischen Nachfolgestaaten sowie in Ländern mit zahlreichen russischsprachigen Zuwander_innen, vor allem in Deutschland, Österreich, Israel und in den USA. Dieser rasante Erfolg hielt den Kreml dazu an, die neue Gedenkpraxis als Mobilisierungsressource zu nutzen und mit der neuen Erinnerungsform die Verbundenheit von Regime und Bevölkerung zu demonstrieren. Putin selbst nahm 2015 am Aufmarsch des "unsterblichen Regiments" in vorderster Front teil und verlieh diesem damit höchste politische Weihen. Zudem erschienen seine Erinnerungen an die Kriegserzählung seiner Eltern in der Zeitschrift "Russkij Pioner", um mit dieser emotionalen Aufladung die Geschichtspolitik des Staates anschlussfähig für Formen individualisierten Gedenkens zu halten. Organisiert werden die Gedenkmärsche mittlerweile von regionalen historischpatriotischen Vereinigungen, die sich als zivilgesellschaftliche Initiativen ausgeben, aber eng mit staatlichen Behörden, Stiftungen und Unternehmen verbunden sind, um so einen Zugriff der Polittechnokrat_innen des Kremls auf die neue gesellschaftliche Erinnerungspraxis zu ermöglichen. 59 Auf die staatliche Vereinnahmung der gesellschaftlichen Aktion "unsterbliches Regiment" hin entstand bald die Initiative "unsterbliche Baracke", um zugleich an das Schicksal sowjetischer Lagerinsass_innen und Zwangsarbeiter_innen zu erinnern. Ihre Protagonist_innen mahnen, dass nicht nur der Zweite Weltkrieg, sondern auch die stalinistische Lagerwelt lange Schatten bis in die russische Gegenwart wirft und deshalb als unbewältigtes Erbe ernst zu nehmen ist. Diese Kampagne findet bei weitem keinen vergleichbaren Zulauf. Sie verdeutlicht aber noch einmal, dass es in Russland soziale Kräfte gibt, die sich dem geschichtspolitischen Mainstreaming der Polittechnokrat_innen des Kremls hartnäckig widersetzen. 60 Seit der Annexion der Krim ist Putin selbst verstärkt auf dem Schlachtfeld der Erinnerung mit geschichtspolitischen Salven in Erscheinung getreten. Er operiert auf dem Boden eines Halbwissens, um besser weglassen, beschönigen und umdeuten zu können. In seiner Rede anlässlich des "Beitritts" der Krim zur Russischen Föderation gab der sichtbar stolze Präsident am 18. März 2014 einen Deutungsrahmen vor, um der russischen Einverleibung der ukrainischen Halbinsel historischen Sinn und politische Legitimität zu geben. Dafür prägte er das Narrativ vom "Triumph der historischen Gerechtigkeit". 61 Als wenige Monate später der Jahrestagsrummel um den Beginn des Ersten Weltkriegs ausbrach, brachte sich Putin aktiv darin ein, dem in Russland lange Zeit "vergessenen Krieg" ein neues heroisches Narrativ zu geben. Er propagierte sein Konzept vom friedliebenden, aber von Feinden umzingelten Russland, das sich stets nur verteidigte und sich nicht scheute, für bedrohte Brüder und Schwestern in den Krieg zu ziehen. Wie vor 1914 sei Russland auch 100 Jahre später in Europa nicht gehört worden. Deshalb habe Moskau zum Schutz der auf der Krim lebenden russischen Menschen intervenieren und der Halbinsel als wichtigem Hort russischer Kultur den "Weg in die Heimat" bereiten müssen. 59 In einer merkwürdigen geschichtspolitischen Volte erklärte Putin zudem, Russland sei der Sieg im Ersten Weltkrieg durch diejenigen gestohlen worden, die politische Zwietracht gesät und damit aus Machtgier die nationalen Interessen verraten hätten. Gerade in Krisen-und Kriegszeiten bedürfe Russland einer starken und geeinten Führung, der das Volk uneingeschränktes Vertrauen entgegenzubringen habe. Dieses ganz auf die Gegenwart bezogene Geschichtsbild diente 2014 offensichtlich dazu, innere und äußere Aggressionen sowie autoritäre Ent-und Geschlossenheit zu rechtfertigen. 62 In derselben Weise deuteten Putin und sein Gefolge drei Jahre später die beiden Russischen Revolutionen des Jahres 1917. Diese wurden mit Erschütterung, Kontrollverlust und Chaos explizit negativ konnotiert. Die Februarrevolution galt sogar als "erste Farbenrevolution", um liberale Gesellschaftsentwürfe als "unrussisch" zu denunzieren und mit dieser historischen Chimäre den ukrainischen "Euro-Majdan" als existenzielle Bedrohung für Russland zu diskreditieren. 63 In den von Moskau aus geschürten Desinformationskampagnen und Propagandaschlachten erklärte der Kreml die heroische Tradition des "Großen Vaterländischen Krieges" zum historischen Eigentum der russischen Nation. Zugleich wiesen seine Polittechnokrat_innen immer wieder darauf hin, dass ukrainische nationalistische Kräfte während des Zweiten Weltkriegs im Windschatten der deutschen Invasion zahllose Gräueltaten gegen Juden und Polen begangen hätten. Unter dem Label "Geschichte und Gegenwart des ukrainischen Faschismus" brandmarkte der Kreml die im Frühjahr 2014 siegreichen Majdan-Protestierenden in Kiew pauschal als Horde von "Nationalisten" und "Faschisten". Diese plumpe Stigmatisierung der Ukrainer_innen als "faschistisches Tätervolk" zielte einerseits darauf, die Ukraine mit geschichtspolitischen Mitteln international zu diskreditieren, um das Land zu einer einfachen Beute der russischen Aggression zu machen. Andererseits diente die seit 2014 exzessive, unter Zuhilfenahme sowjetischer Propagandaklischees betriebene Russifizierung des Weltkriegstriumphs und die maßlose Ukrainisierung der NS-Kollaboration dazu, mit dem überlieferten Mythos vom makellosen sowjetischen Antifaschismus die russische Intervention in der Ukraine als Fortsetzung des Kampfes gegen die NS-Barbarei präsentieren und damit legitimieren zu können. 71 Im Sommer 2021 radikalisierte sich das Ukraine-Bild des Kremls noch einmal, als Putin die Geschichte bemühte, um eine Drohkulisse aufzubauen. Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 12. Juli 2021 auf Staatsbesuch in Berlin war und das russische Militär zuvor große Truppenverbände unweit der Grenze zur Ukraine zusammengezogen hatte, veröffentlichte der russische Präsident auf der Website des Kremls einen 5.000 Worte langen Grundsatzartikel zur "historischen Einheit von Russen und Ukrainern". Dieser Text, der unverzüglich Pflichtlektüre der russischen Streitkräfte wurde, schlug einen großen historischen Bogen von dem mittelalterlichen Staatengebilde der Kiewer Rus bis in die Gegenwart, um unter Missachtung geschichtswissenschaftlicher Methoden und Kategorien zu belegen, dass "Russen, Ukrainer und Belarussen" Teil einer "großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes" seien, das durch den Zerfall der Sowjetunion eine grobe, künstliche Trennung erlitten habe. Zudem ließ Putin verlauten, Russland sei bei der 1922 durch die erste Verfassung des sowjetischen Unionsstaat erfolgten Grün- K dung einer ukrainischen sozialistischen Teilrepublik zahlreicher Siedlungsgebiete und Menschen "beraubt" worden. 72 In seiner geopolitischen, ahistorischen und verschwörungstheoretischen Denkweise, deren Widersprüche, Falschbehauptungen und Manipulationen sofort in den sozialen Medien aufgedeckt wurden, dämonisierte Putin den "Euro-Majdan" 2014 zum Höhepunkt eines uralten westlichen Plans, mit einer unter "externer Verwaltung" stehenden, zu einem Vasallenstaat degradierten Ukraine ein "Anti-Russland" zu schaffen. Mittels dieser bizarren Geschichtsklitterung werden in der neuen Moskauer Ukraine-Doktrin nicht nur die Legitimität und Souveränität der Ukraine in Frage gestellt, sondern auch Gebietsansprüche erhoben und der Welt noch einmal klar gemacht, dass der Kreml nur einen ukrainischen Nachbarstaat akzeptieren werde, der bereit ist, sich seinem hegemonialen Willen zu fügen. 73 Auch das Beispiel Litauen zeigt, wie Russland auf dem "Schlachtfeld der Erinnerungen" 74 in letzter Zeit geschichtspolitische Waffen einsetzt. In Litauen findet seit einigen Jahren eine öffentliche Debatte um den Zweiten Weltkrieg statt, darunter auch um die litauische Beteiligung an NS-Verbrechen wie dem Holocaust. Diese engagierte, aber auch schmerzhafte Aufklärungsarbeit litauischer For-scher_innen löste zunächst eine innergesellschaftliche Diskussion aus, wie sich eine integrierte litauisch-jüdische Geschichte jenseits aller Opferkonkurrenzen schreiben lässt. Im Schatten der hybriden Kriegsführung Moskaus gegenüber der Ukraine häuften sich dann russischsprachige Texte, die Litauen wegen der Verwicklung eines Teils seiner Bevölkerung in den NS-Vernichtungskrieg pauschal eine bis heute andauernde Anfälligkeit für den Faschismus unterstellten. Jenseits des rechten und linken Rands des politischen Spektrums 76 entfaltete das geschichtspolitische Sperrfeuer aus Moskau auch in seriösen Teilen der westlichen Öffentlichkeit und Politik Wirkung. Bestes Beispiel dafür ist der Aufruf "Nie wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!" von "60 prominenten Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur", darunter Roman Herzog, Gerhard Schröder, Antje Vollmer, Klaus Maria Brandauer und Wim Wenders. Es hieß im Aufruf, Russland gehöre seit dem Wiener Kongress 1814 "zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas". Alle kriegerischen Vorstöße, die Machtposition Russlands in Europa zu verändern, seien "blutig gescheitert", so wie zuletzt 1941 das "größenwahnsinnige Hitler-Deutschland", das mit einem Vernichtungskrieg versuchte, "Russland zu unterwerfen". 77 Hinter solchen Äußerungen schimmert die 1939 von Carl Schmitt veröffentlichte Schrift "Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte" durch, auf die sich gerade auch kremlfreundliche rechtspopulistische Parteien vielerorts in Europa beziehen. 78 Die Protagonist_innen des Aufrufs erinnerten an die deutsche Verantwortung für eine Friedenspolitik gegenüber Moskau, die sich allein schon aus dem hohen Blutzoll von 27 Millionen Kriegstoten ergebe, den die Sowjetunion für den Weltkriegstriumph hatte erbringen müssen. Zugleich war in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit eine überzogene Aufmerksamkeit für rechtsradikale Kreise in der Ukraine zu beobachten. Mit festem Blick auf Moskau reagierte die Berichterstattung damit offensichtlich auf den von russischen Geschichtskrieger_innen vermittelten irrigen Eindruck, die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung sei mit Nazideutschland im Bunde gewesen und fühle sich bis heute ihrem antisemitisch-nationalistischen Erbe verpflichtet. 79 Nur sechs Tage nach dem Aufruf "Nie wieder Krieg in Europa?" erschien ein Gegen-Aufruf. Darin bezogen Osteuropaexpert_innen unter der Überschrift "Friedenssicherung statt Expansionsbelohnung" politisch Position, um mit ihrer Fachexpertise und der Mahnung "Fakten statt Pathos" der dem Moskauer Sprachduktus aufsitzenden Politik-und Kulturprominenz deren historische Blindheit zu verdeutlichen. 80 Wer an die aus dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg erwachsende historische Verantwortung erinnert, sollte beachten, dass die Ukraine neben Belarus besonders unter der Terrorherrschaft der NS-Besatzer_innen gelitten hatte, wie Timothy Snyder in seinem vielbeachteten Buch "Bloodlands" eindrücklich darstellt. 81 Knapp ein Drittel aller sowjetischen Kriegstoten hatten auf dem verwüsteten Territorium der Ukraine gelebt. 1,5 Millionen ukrainische Jüd_innen verloren durch den Holocaust ihr Leben. Die große Mehrheit der sowjetischen Zwangsarbeiter_innen, die aus ihrer Heimat ins Deutsche Reich verschleppt worden waren, stammte aus der Ukraine. Den Hunderttausenden ukrainischen Kollaborateur_innen standen drei Millionen ukrainische Rotarmist_innen gegenüber, die in den Reihen der sowjetischen Streitkräfte bei der Befreiung Europas fielen. Zudem ist die Kollaboration eine historische Bürde, an der alle vom nationalsozialistischen Deutschland unterjochten Nationen in Ost und West schwer zu tragen haben, darunter auch Russland. Das schmerzhafte, vielfach noch nicht umfassend aufgearbeitete Thema der NS-Kollaboration eignet sich nicht als Diffamierungsinstrument, um aus Nachbarstaaten historische Übeltäter zu machen und eigene Vorherrschaftsansprüche zu legitimieren. 82 Die Ukraine selbst verhielt sich im Geschichtskrieg mit dem mächtigen Nachbarn Russland keineswegs passiv, sondern drehte ihrerseits an der Eskalationsspirale. Ziel war es das Leid der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs endlich in der europäischen Erinnerungskultur zu verankern und die grausamen Folgen sowohl der nationalsozialistischen als auch der stalinistischen Terrorherrschaft zu thematisieren. Einen Sturm der Entrüstung gab es in Russland, als die Sängerin Jamala beim "Eurovision Song Contest" 2016 den Sieg mit ihrem Lied "1944" errang. Darin thematisierte sie die von Stalin verfügte Deportation der Krimtataren und trug damit zur Politisierung des populären Musikwettbewerbs bei. 83 Ein Jahr zuvor hatte die ukrainische Regierung im Hauruck-Verfahren die umstrittenen "Dekommunisierungsgesetze" zur angeblichen "Wiederherstellung der nationalen Erinnerung" erlassen. Die von oben verordnete ethnonationale Meistererzählung schrieb der Geschichte der Sowjetukraine das Label einer kolonialen Fremdherrschaft zu. Die neuen Geschichtsgesetze verboten generell alle kommunistischen Symbole, legitimierten die bis dahin schon vollzogenen Denkmalstürze und regten weitere vorschnelle Umbenennungen an, die bei weitem nicht überall auf Verständnis stießen. Die staatliche Verordnung trat an die Stelle einer als Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen organisierten Aufarbeitung. Dieses Vorgehen brüskierte viele Ukrainer_innen, die sich statt einer säuberungsähnlichen Entsowjetisierung des öffentlichen Raums eine breite, unvoreingenommene Diskussion über die quälende Vergangenheit mit all ihren Komplexitäten und Ambivalenzen gewünscht hätten. Mit dem proklamierten "Abschied vom totalitären Erbe" sind zwar auch Symbole strikt untersagt, die sich direkt auf den deutschen Nationalsozialismus beziehen, dafür aber nicht die in der Ukraine verbreiteten völkisch-rechtsextremen Embleme wie Wolfsangel und Schwarze Sonne. Zusammen mit der umstrittenen Heldenverehrung der ukrainischen Nationalbewegung, die im Zweiten Weltkrieg zeitweise mit der Wehrmacht und der SS kollaboriert hatte, brachte das der Ukraine den Vorwurf einer akuten Sehschwäche auf dem rechten Auge ein und befeuerte damit den von Moskau geschürten "antifaschistischen" Diskurs. 84 Ein abermaliges historisches Säbelrasseln -dieses Mal zwischen Russland und Polen -kündigte sich im Spätsommer 2019 an. Es nahm seinen Anfang mit dem am 19. September 2019 vom Europäischen Parlament angenommenen Entschließungsantrag zur "Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas". 85 Diesen hatten Polen und die drei baltischen Staaten vorangebracht, um ihrem zentralen geschichtspolitischen Anliegen mehr Nachdruck zu verleihen, endlich der ostmitteleuropäischen Erfahrung mit den gleichzeitigen Massenverbrechen des Nationalsozialismus und Stalinismus im gesamteuropäischen Gedächtnis mehr Bedeutung zu geben. 86 Ziel war es, den Hitler-Stalin-Pakt als Ausgangspunkt des Zweiten Weltkriegs in den erinnerungskulturellen Fokus zu rücken. Durch die damit einhergehende Verschiebung der Koordinaten des europäischen Gedächtnisses jenseits aller nationalen und historischen Diversität sollte eine unifizierende EU-Erinnerungskultur hergestellt werden. 87 Trefflich streiten lässt sich über die damit verbundene Vorannahme, die EU könne als europäisches Projekt im 21. Jahrhundert nur gelingen, wenn von Brüssel die Durchsetzung eines allen Mitgliedsstaaten politisch genehmen Kollektivgedächtnisses verfügt werde, um mit geschichtspolitischem Einheitskitt auseinanderdriftende Kräfte zusammenzuhalten. Die Erinnerungskultur mutiert damit von einem offenen Selbstverständigungs-und Aushandlungsprozess zu einem in sich geschlos-84 Peters, Florian: Roter Mohn statt Rotem Stern. "Entkommunisierung" der Geschichtskultur in der Ukraine, in: Osteuropa 66 (2016) K senen, supranationalen Dekret. 88 Neben dieser bedenklichen Instrumentalisierung der Geschichte als Gloria der EU verweisen Kritiker_innen auf die Gefahr, dass die Thematisierung der Verstrickung von Nationalsozialismus und Stalinismus die Totalitarismustheorie aus dem Kalten Krieg neu beleben könne. Die damit konstatierte verbrecherische Gleichrangigkeit von Faschismus und Kommunismus könne einem Geschichtsrevisionismus den Weg bereiten. Allerdings hat die historische Forschung in den letzten Jahren demonstriert, dass die vergleichende Zusammenschau von Nationalsozialismus und Stalinismus keineswegs eine Gleichsetzung impliziert. Ungeachtet aller Verflechtungen und Analogien fallen stets auch Abgrenzungen und Differenzen ins Auge, um damit den Forschungsstand nicht zu revidieren, sondern besser zu profilieren. 89 Die Erkenntnis, dass viele Menschen in den Weltkriegs-und Nachkriegsjahren sowohl Täter als auch Opfer zweier Diktaturen waren, schärft den Blick für die Tragik der Umstände, in denen die Menschen ihr (Über-)Leben einzurichten hatten und sich dabei in fatale Handlungskonstellationen verstrickten. Diese problematischen Erfahrungen lassen sich weder mit verklärenden Helden-sowie vereinfachender Leid-und Triumphgeschichten noch mit einem Gut-Böse-Raster fassen. 90 Während der EU-Entschließungsantrag weitgehend unterhalb des Aufmerksamkeitsradars der deutschen Öffentlichkeit und Politik blieb, sah der Kreml darin einen geschichtspolitischen Fehdehandschuh. Seine Polittechnokrat_innen gingen aber geflissentlich darüber hinweg, dass Moskau an der offen aufflammenden Konfrontation nicht ganz unbeteiligt war. Am 22. und 23. August 2019 hatten Sergej Naryškin als Vorsitzender der "Russländischen Historischen Gesellschaft" und Vladimir Medinskij als russischer Kulturminister den Hitler-Stalin-Pakt als eine "ausweglose Entscheidung" und sogar als "diplomatischen Triumph" Moskaus gefeiert. Dass im Zuge von Gorbatschows Glasnost die Moskauer Politik 1989 das Abkommen und die Zusammenarbeit der beiden Diktatoren entschieden verurteilt hatte, galt nun wieder als vorschnelle und "hysterische Verteufelung". 91 Auf diese Äußerungen hin lud Polens Staatsführung Putin nicht zur Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs nach Warschau ein und 88 provozierte mit diesem Affront in Russland eine Welle antipolnischer Stimmungen. Das spielte den Befürworter_innen einer aggressiven Geschichtspolitik in die Hände, die aufgebracht darüber waren, dass die stärkere Akzentuierung des Hitler-Stalin-Pakts als Wegbereiter des Weltkriegs die Sowjetunion weniger als Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs und Befreier Europas, sondern mehr als Komplize Hitlers und als totalitären Unheilbringer ins historische Rampenlicht rückte. Damit stand der Weltkriegstriumph als zweiter Gründungsmythos der Sowjetunion unmittelbar infrage. Das rüttelte an den identitätspolitischen Grundfesten des Putin-Regimes und widersprach dem historischen Empfinden der russischen Bevölkerungsmehrheit. Im Dezember 2019 holte Putin zum geschichtspolitischen Gegenschlag aus, um Polen als zuvor ausgemachten Hauptgegner so schmerzhaft wie möglich zu treffen. Innerhalb von zwei Wochen thematisierte Putin zu öffentlichen Anlässen sechsmal kritisch den EU-Entschließungsantrag vom 19. September. Auf einem Treffen mit seinen Amtskollegen sowjetischer Nachfolgestaaten verstieg er sich sogar dazu, den verdutzten Staatschefs eine einstündige Geschichtsvorlesung zu halten und dazu aufzurufen, mittels einer gemeinsamen Historikerkommission für den postsowjetischen Raum ein einheitliches Geschichtsbild zu schaffen. 92 Einige Tage später kam es dann zum Skandal, als Putin bei einer Sitzung des Verteidigungsministeriums Józef Lipski, den von 1933 bis 1939 amtierenden polnischen Botschafter in Berlin, mit Bezug auf dessen damalige diskriminierende Äußerungen als "Drecksack" und "antisemitisches Schwein" bezeichnete. 93 Stalin, 1939 -1941 , Basic Books, New York, NY 2014 Weber, Claudia: Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939 -1941 , Beck, München 2019 Diese Sicht geht darüber hinweg, dass sich auch Moskau bemühte, die schon zuvor während der 1920er Jahre praktizierte Zusammenarbeit mit Deutschland weiter fortzusetzen und deshalb dem nationalsozialistischen Berlin immer wieder Offerten unterbreitete. K peasement längst zu einem Kampfbegriff geworden ist, um eine entgegenkommende Politik gegenüber machtgierigen Autokrat_innen zu brandmarken. 103 Den Hinweis auf das Münchener Abkommen missbraucht Putin zugleich für eine Polemik gegenüber Warschau. Ebenso wie Ungarn habe auch Polen vom "Münchener Komplott" profitiert, weil es nach der militärischen Besetzung des Sudetenlands durch Deutschland die tschechoslowakischen Teile des Teschener Olsa-Gebiets okkupierte und damit den Grenzkonflikt um das kleine Territorium in Ostschlesien zunächst für sich entscheiden konnte. Die diskreditierende Präsentation Polens als Besatzungsmacht an der Seite Hitlers überzieht jedoch und wirkt als leicht durchschaubares Manöver, um davon abzulenken, wie die Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt daran mitwirkte, Polen zu zerschlagen. So verliert Putin kein Wort darüber, dass Stalin und seine Vertrauten Polen in revanchistischer Weise als "hässlichen Bastard des Versailler Vertrages" bezeichnet und darauf gehofft hatten, die nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg im Vertrag von Riga 1921 abgetretenen Gebiete wiederzuerlangen. 104 Neben dem Münchener Abkommen sieht Putin im gleichfalls ohne Beteiligung Moskaus ausgehandelten Vertrag von Versailles ein "Symbol tiefer Ungerechtigkeit" und damit einen wichtigen Wegbereiter des Zweiten Weltkriegs. Die 1919 geschaffene "Versailler Weltordnung" beschwor -so Putin -mit ihren "willkürlich gestalteten Grenzen" gegenseitige Ansprüche herauf, "die sich in Zeitminen verwandelten". Das "Erbe von Versailles" bildete gerade in Deutschland mit seiner "nationalen Demütigung [...] den Nährboden für radikale und revanchistische Stimmungen", sodass es den Nazis gelang das "deutsche Volk in einen neuen Krieg" zu führen. Bei seinem Schlenker zurück ins Jahr 1919 nutzte Putin gezielt den heute in der aktuellen politisch-publizistischen Rhetorik des Kremls vielbemühten Schlüsselbegriff der "Demütigung". Er impliziert den Vorwurf, dass die westlichen Großmächte seit langem die internationalen Beziehungen und Grenzen allein nach ihren Wünschen gestalten, ohne auf die Interessen anderer Staaten Rücksicht zu nehmen. 105 Deshalb komme es ständig zu "nationalen Demütigungen", die in den davon betroffenen Gesellschaften Prozesse politischer Radikalisierung sowie aggressive Gegenschläge auslösen würden. Das Bild des durch den Vertrag von Versailles entwürdigten Deutschlands setzte Putin damit als Projektionsfläche für den heute in Russland populären "Erniedrigungsdiskurs". Dieser wiederum dient dazu, die Annexion der Krim, die Aggression in der Ostukraine und die Intervention in Syrien als Reaktion eines sich endlich "von seinen Knien" erhebenden Russlands zu verstehen. Versailles wird darum zum bloßen historischen Klischee, um damit die geopolitischen Chimären des Kremls stärker herauszustellen und dabei aber gänzlich aus dem Blick zu verlieren, dass eine solche Sichtweise auf Versailles den deutschen Angriffs-und Vernichtungskrieg als gerechtfertigt erscheinen lässt. Zudem weist Putin mit diesem Brückenschlag zwischen Geschichte und Zeitgeschehen darauf hin, dass nur seine fortgesetzte Präsidentschaft verhindere, dass radikale Kräfte in Russland die Überhand gewännen, um sich damit gegenüber der Weltöffentlichkeit als alternativloser präsidialer Fels in der tobenden politischen Brandung zu inszenieren. Abenteuerlich wird Putins Geschichtslektion, wenn er sich daran macht, die sowjetischen Annexionen durch den Hitler-Stalin-Pakt und die damit verbundenen Kriegshandlungen schon vor 1941 zu rechtfertigen. Während das militärische Argument, sich durch Truppenverlagerungen Richtung Westen in eine bessere strategische Position zu bringen, noch halbwegs nachvollziehbar wirkt, verblüffte Putin mit der im Baltikum für heftigen Protest sorgenden Aussage, die "Inkorporation Lettlands, Litauens und Estlands" und "ihr Beitritt zur UdSSR" seien "auf vertraglicher Basis unter Zustimmung der gewählten Obrigkeit" und unter Beachtung der "Normen des Völker-und Staatsrechts der damaligen Zeit" erfolgt. Tatsächlich Statt die Heimsuchung der von der Roten Armee im September 1939 annektierten polnischen Territorien durch den stalinistischen Massenterror und den erbitterten polnischen Widerstand zu thematisieren, 108 erklärt Putin, die vorrückenden sowjetischen Streitkräfte hätten die "verschiedenen Nationalitäten, darunter Juden" vor der Vernichtung durch die "Nazis und ihre örtlichen Schergen" gerettet. 109 Unerwähnt bleibt dabei, dass die Sowjets bei den ethnischen und politischen "Flurbereinigungen" der vormals polnischen Gebiete mit den Nazis gemeinsame Sache machten. Sie beteiligten sich aktiv an Umsiedlungen und Deportationen; zugleich nahmen sie Auslieferungen und Massenerschießungen (etwa in Katyn) vor, um die polnische Bevölkerung ihres Bürgertums sowie ihrer militärisch-politischen Elite zu berauben. Die sowjetischen Besatzer_innen agierten weniger als Retter_innen, sondern vielmehr als Vollstrecker_innen. Deren große Verbrechen sollen im Lichte der noch größeren Verbrechen Nazi-Deutschlands offensichtlich zum Zwecke der Relativierung in den Schatten gestellt werden. In Putins Traktat fällt eine merkwürdige historische Leerstelle auf: dass nämlich die Eskalationsdynamik des Vernichtungskriegs und die gesamte sich daraus entwickelnde Zerstörung ihren Ursprung allein im rassistisch motivierten Eroberungswillen des nationalsozialistischen Regimes hatte. Putin geht es vor allem darum, Polen als Mitverursacher und nicht als Opfer des Zweiten Weltkriegs erscheinen zu lassen. Deshalb erwähnt er mit keiner Silbe, dass das Land in Hitlers menschenverachtenden Kriegs-und Großraumplänen von Beginn an zur brutalen Ausplünderung vorgesehen war und deshalb proportional mit dem Verlust eines Drittels seiner vormaligen Bevölkerung durch Tod und Vertreibung am meisten unter dem blutigen Weltkriegsgeschehen zu leiden hatte. 110 Wie sehr Putin die Weltkriegsgeschichte missbraucht, um die aktuelle internationale Lage in seinem Sinne gestalten zu können, zeigt sich darin, dass er sein langes historisches Pamphlet mit einem seltsamen Appell ausklingen lässt. Es sei Zeit für ein neues Jalta, damit die fünf Vetomächte des UN-Sicherheitsrats -also die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs plus China -gemeinsam die Weltordnung des 21. Jahrhunderts schaffen können. Diese befremdliche Nostalgie für eine Zeit, während der die Großmächte bei Gipfeltreffen Europa noch in Einflusszonen aufteilten und damit anderen Ländern eine nur "eingeschränkte Souveränität" zubilligten, verdeutlicht ein rückwärtsgewandtes Verständnis von internationalen Beziehungen und zugleich eine äußerst selektive Deutung des Kalten Krieges. Völlig übergangen wird, dass die mit nuklearen overkill-Kapazitäten aufgeladene Blockrivalität, die perma-nente innergesellschaftliche Bedrohungskommunikation und die zahllosen blutigen Stellvertreterkriege den Kalten Krieg zum "radikalen Zeitalter" werden ließen. 111 Zudem ist kaum vorstellbar, dass sich die globalisierte, multilateral organisierte Welt des 21. Jahrhunderts in einem internationalen System organisieren ließe, dessen Gestaltung vor allem einigen wenigen Großmächten obliegt. Wirkmächtige supranationale Institutionen wie die EU, die neue Formen länderübergreifender Kooperation und Integration ermöglicht haben, sowie selbstbewusst agierende Staaten mit starken Eigeninteressen machen den Rückfall in die längst vergangene Welt der Großmächte unmöglich. Zudem lassen sich aktuelle Herausforderungen wie Klimawandel und Pandemien sowie die Organisation der weltumspannenden Zirkulation von Menschen, Waren und Ideen nur durch die Interaktion der gesamten Weltgemeinschaft sinnvoll lösen. Der sonderbare, unzeitgemäße Traum von einem neuen Jalta dient Putin offensichtlich dazu, Russlands Anspruch als Weltordnungsmacht mit Nachdruck zu unterstreichen und die vormalige Moskauer Vormachtstellung in Osteuropa nicht in der Mottenkiste der Geschichte verschwinden zu lassen. 112 Mit seiner auf Versöhnung, Kriegsprävention und technologisch-wirtschaftliche Zusammenarbeit zielenden Rhetorik rief Putin erneut zu einem Neuanfang in den Beziehungen zwischen Russland und Europa auf. Dieses Mal richtete er seinen Appell nicht an die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, sondern allein an Deutschland. Das Dialogangebot war jedoch vergiftet, weil Putin die in konservativen sowie linken Milieus beliebte Vorstellung einer Berlin-Moskau-Achse als geopolitisches Gegengewicht zu den USA und China beschwor. In dieser Weltsicht erschienen die ostmitteleuropäischen Staaten wieder nur als bloße Verfügungsmasse der deutschen und russischen Politik. Deshalb konstruierte Putin ausgehend vom leidvollen Triumph des "sowjetischen Volks" im Zweiten Weltkrieg ein imaginiertes "Wir", dessen "untrennbaren kulturellen und geschichtlichen Bande zu Europa" er rezitierte und damit den Anspruch erhob, nicht nur für Russland, sondern vielmehr für den gesamten vormaligen sowjetischen Raum zu sprechen. Dieser Bezug auf das historische "Wir" von 1945 vermittelte die Vorstellung, dass Moskau im 21. Jahrhundert weiterhin das Recht auf eine eigene Einflusszone im östlichen Europa habe. Mit seinem historisch hergeleiteten Mantra eines deutsch-russischen Bilateralismus bediente Putin geschickt die Gemütslage der deutschen Öffentlichkeit. Als Grundursache für den "desolaten Zustand" der europäischen Sicherheitsordnung machte er allein das Vorrücken der NATO und der EU nach Osteuropa aus. Der damit verbundene Wandel der politischen Landkarte entsprach laut Putin nicht dem politischen Willen der ostmitteleuropäischen Staaten, sondern sei allein Folge der Machinationen und Interventionen westlicher Politik gewesen. In Rahmen seiner zeithistorischen Mythenbildung warf der Kremlchef den USA unverblümt vor, 2014 in der Ukraine einen "Staatsstreich" organisiert zu haben, den die EU-Staaten "willenlos unterstützten und somit die Spaltung innerhalb der Ukraine und den Austritt der Krim aus dem ukrainischen Staat provozierten". Bei völliger Missachtung der Prinzipien von Demokratie und nationaler Selbstbestimmung zeigte Putin keinerlei Verständnis dafür, dass souveräne Staaten frei über die Wahl ihrer Bündnispartner entscheiden und die Majdan-Revolution 2014, die zu einem politischen Neuanfang in der Ukraine führte, Ausdruck des Volkswillens war. In seiner antiwestlichen Weltsicht ignorierte der russische Präsident völlig, dass sich 114 Vladimir Putin: Überfall auf die Sowjetunion. Offen sein, trotz der Vergangenheit, in: ZEIT-Online, 22.06.2021, URL: [letzter Zugriff am 12.11.2021]. die ostmitteleuropäischen Staaten von ihrer Zugehörigkeit zur NATO und EU mehr Sicherheit vor den imperialen Ambitionen im Kreml versprachen und es beim Sturz der Regierung von Wiktor Janukowytsch darum ging, die ukrainische Demokratie gegen ein zunehmend autoritär agierendes Regime zu verteidigen. 115 Als der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 seine berühmte Rede zum Jahrestag des Weltkriegsendes hielt, erkannte er an, dass die europäische Erinnerungskultur von Geschichtskonflikten geprägt war, die sich aus den unterschiedlichen Erfahrungen der einzelnen Gesellschaften und Gruppen ergaben. Sein Anliegen war es, aus dem unversöhnlichen Gegeneinander ein produktives Miteinander zu machen. Differenzen sollten nicht zu einem einheitlichen, identitätspolitisch instrumentalisierbaren Geschichtsbild eingeschmolzen werden, so wie es einigen EU-Bürokrat_innen heute vorschwebt. Es gelte vielmehr, mit einem humanitären Begriff der rettenden Befreiung und dem eindringlichen Blick auf die Verwerfungen des Kriegsendes das vielseitige Ringen um die Geschichte aushaltbar zu machen, um über divergierende kollektive Gedächtnisse in einen verständnisvollen Dialog zu kommen. 116 Als Geschichtspolitiker, der die Rolle des gesellschaftlichen Cliotherapeuten 117 an sich gerissen hat, wandelt Putin weder auf Weizsäckers Spuren der Aussöhnung noch folgt er Daniil Granins Bemühungen, der platten Heroisierung durch die Aufarbeitung individueller Leiderfahrung und durch die kritische Thematisierung problematischer historischer Aspekte zu entkommen. Der russische Präsident übersieht geflissentlich, dass der Triumph im Zweiten Weltkrieg auf komplizierte, konfliktträchtige Weise gemeinsame europäische Geschichte und Erinnerung geworden ist. Stattdessen setzt er mit seinem polarisierenden Geschichtstraktat alles daran, im Gestus der Unerschütterlichkeit den Sieg am 9. Mai 1945 zum historischen Eigentum Russlands zu erklären und ihn in eine uneinnehmbare Festung der Erinnerungskultur und Identitätspolitik zu verwandeln. Das heroische Pathos von Größe, Mut und Aufopferung bestimmt darum seit einiger Zeit die Tonlage, in der die offiziellen Medien und die russische Regierung über den Krieg sprechen. Äußerst bedenklich stimmt, dass der Kampf gegen vermeintliche "Geschichtsfälschung" in Russland mittlerweile Verfassungsrang erhalten hat und dafür im Ermittlungskomitee der Generalstaatsanwalt im Sommer 2020 eine entsprechende Abteilung eingerichtet worden ist. Deren Aufgabe besteht allein darin, politisch missliebige Geschichtsdeutungen strafrechtlich zu verfolgen. Es bleibt abzuwarten, ob diese politische Droh-und Sanktionsmaßnahme zu einer weiteren Demontage der seriösen Forschung in Russland führt. 118 Grund zur Sorge gibt zudem, dass die russischen Behörden im Vorfeld der Duma-Wahlen im September 2021 durch repressive Maßnahmen ihren Zugriff auf die Medienlandschaft und das Internet noch einmal massiv verstärkt haben. Der Druck des Kremls auf Internet-Provider, die Blockade von "GoogleDoc" und die Sperrung kritischer Portale weisen genauso wie die heftigen Cyberattacken auf politisch engagierte Presseorgane daraufhin, dass der in Russland tobende "Informationskrieg" gegen unliebsame Meinungen weiter verschärft wird. Dadurch dürfte es in Russland immer schwieriger werden, differenzierte und unvoreingenommene Geschichtsdiskussionen anzustoßen. 119 Neben der innergesellschaftlichen Eintracht hat Putin die Spaltung Europas längst zum Lebenselixier seines autoritären Populismus und Nationalismus erhoben. Bei seiner Thematisierung der Kriegsschuldfrage im Juni 2020 folgt er darum dem Modus eines aggressiven blame game, um mit einem atemberaubenden Gespür für historische Bösartigkeiten andere Regierungen zu provozieren und auf geschichtspolitische Minenfelder zu locken. Die verstärkten verbalen Angriffe und Diffamierungen des Kremls lassen bereits abgekühlte Beziehungen noch kälter werden. Die teils infam verzerrende historische Propagandashow führt zur Verhärtung der Fronten und zur fortschreitenden Selbstisolierung Russlands. Im Juni 2021 schlug Putin mit seinen zeithistorischen Mythen gegenüber der deutschen Öffentlichkeit dann einen versöhnlichen Ton an, aber nur um mit seiner Idee von einem deutsch-russischen Bilateralismus und einem offensichtlichen Antiamerikanismus die moskaufreundlichen Stimmungen zu stärken. Angesichts der 2020 vollzogenen Verfassungsänderungen, die dem russischen Staatsoberhaupt den weiteren Verbleib im Kreml garantieren, inszeniert sich Putin mit seinem neuen "history fetish" 120 als tapfer kämpfender Retter der sowjetischen Weltkriegsgeschichte. Damit versucht er, in einer turbulenten Zeit davon abzulenken, dass die Corona-Pandemie die Gesellschaft tief erschüttert und die sich kaum mehr verbessernde sozioökonomische Situation Anlass zu wachsender Sorge gibt. 121 Im Rahmen eines verbissenen "patriotism of despair" 122 dient Geschichte keineswegs nur als politisches Dekor. Putins Appell, das heroische Erbe der Vorfahren zu wahren, erhöht seinen selbstherrlichen Kurs vielmehr zu einer historischen Mission. In einer Gesellschaft, deren wirtschaftliche Gegenwart und politische Zukunft ohne erfolgversprechendes Innovationsmodell nicht rosig erscheinen, stellt die Vergangenheit eine der wenigen nicht-mineralischen Ressourcen dar, über die Russland im Übermaß verfügt und die seine Polittechnokrat_innen in Zeiten wachsender Orientierungslosigkeit umso intensiver ausbeuten. 123 Ein näherer Blick auf das osteuropäische Schlachtfeld der Erinnerungen zeigt, dass der geschichtspolitische Aktionismus mit seinen gezielten Salven nach innen und außen die wichtige Funktion hat, politischen Krisen und gesellschaftlichen Stillstand zu übertünchen. Neben Russland gilt auch für die vom Kreml geschichtspolitisch unter Beschuss genommenen Nachbarländer, dass Regierungen das historische Gedenken überschwänglich bemühen, wenn politische Erfolge ausbleiben und längst überfällige Reformprozesse nicht gelingen. Aggressive Geschichtspolitik dient dann als Surrogat für konstruktive Modernisierung. Dabei ist zu beobachten, dass je mehr erinnerungskulturelle Konflikte die Gesellschaft mobilisieren und Politik legitimieren, es umso weniger Anreize und Notwendigkeiten dafür zu geben scheint, die eigentlichen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft anzugehen. Angesichts der aktuell in Osteuropa allerorten verabreichten Überdosis an Geschichte erweist sich eine erinnerungskulturelle Entziehungskur als unumgänglich, um sich durch Gespenster der Vergangenheit nicht davon ablenken zu lassen, die wirklichen gesellschaftlichen Probleme anzugehen. Antiamerikanismus in Aktion. Linke, Rechte und "Querfront" zur Ukraine Wie Russland den Westen vor sich hertreibt Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen! Zuletzt noch einmal mit ähnlicher Argumentation Bahr Neue Rechte Russia's New Authoritarianism. Putin and the Politics of Order World War II Memory Politics in Russia and Ukraine and their Uses during the Conflict in the Donbass Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive Appeasing Hitler. Chamberlain, Churchill and the Road to War Ironischerweise mussten sich die selbsternannten "Russland-Versteher" nach der Annexion der Krim den Vorwurf gefallen lassen, eine von Naivität und Ignoranz geprägte Appeasement-Politik zu betreiben Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919/20 und die Entstehung des modernen Osteuropas Russland, die Nato-Osterweiterung und das Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung First to Fight. The Polish War Markus: Dem Holocaust entkommen. Polnische Juden in der Sowjetunion Brewing, Daniel: Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten Ends of War. Interdisciplinary Perspectives on Past and New Polish Regions after Geschichte eines radikalen Zeitalters Ende von Jalta, das Finale für das Stalin'sche Erbe" begrüßt hatten. Ihnen galt Jalta als Synonym für die gespaltene europäische Nachkriegsordnung, die sie als historischen Irrtum verstanden und deshalb mit ihrer konstruktiven Friedenspolitik überwinden wollten Die Sowjetunion und Osteuropa The Price of Peace Putin vergiftetes Angebot Einzug ins verheißene Land müssen die Vergangenheit annehmen". Richard von Weizsäckers Rede zum Kriegsende Für anregende Gespräche zum Thema, wichtige Korrektur-sowie Literaturhinweise und für den Titelbegriff "Cliotherapeut" danke ich Daniel Weinmann Bastrykin sozdal special'nyj otdel dlja bor'by s fal'sifikaciej istorii Informationskriege, Oppositionskoordination und die Dumawahl im Jahr Zu den neuen Zensurmaßnahmen findet sich auf der Internetplattform "Dekoder" auch ein anschauliches Dossier: Alles Propaganda? Russlands Medienlandschaft Vladimir Putin's history fetish, in: The Spectator Cultural and Political Imaginaries in Putin's Russia, 276 S Virus in the System. Russia and the Corona Crisis Tatjana: Covid-19: Augen zu und durch 123Ė pple: Neudobnoe prošloe, (wie Anm. 15), S. 19. Den Konnex zwischen "losing the present" und "nationalizing the past" sowie das damit einhergehende "inflating ,memory' over ,history'" kommt, thematisiert bes Vergessen. Stalins Gulag in Putins Russland, 160 S., dtv Erinnerung als Waffe. Die Geschichtspolitik des Putin-Regimes Sowjetische Verbrechen und russische Erinnerung. Orte -Akteure -Deutungen, 318 S Nikolay: Memory Laws, Memory Wars. The Politics of the Past in Europe and Official History in Eastern Europe, 362 S., Fibre, Osnabrück 2021. Gabowitsch, Mischa/Gdaniec, Cordula/Makhotina, Ekaterina (Hrsg.): Kriegsgedenken als Event. Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa, 345 S., Schöningh Geschichte als Instrument der Innen-und Außenpolitik am Beispiel Russlands Hrsg:): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, 566 S., Wallstein Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation