key: cord-0070990-z1fe3o9q authors: Appel, Alexandra; Hardaker, Sina title: Einzelhandel als Katalysator für nachhaltige urbane Radlogistik? – WüLivery, ein Fallbeispiel aus Würzburg date: 2021-12-07 journal: Standort DOI: 10.1007/s00548-021-00758-y sha: 203559958d223e63c27a8612cf77c2868731c236 doc_id: 70990 cord_uid: z1fe3o9q The Covid-19 pandemic is seen in many parts of society as a catalyst for transformation processes. In the field of urban logistics organization and retail landscapes, too, new stakeholders and functions are becoming established. Logistics companies are integrating local online marketplaces into their profiles and brick-and-mortar retailers are generating the ability to compete against large online retailers using bicycle logistics networks, by which deliveries can be distributed on the day of ordering (same-day delivery). In this way, the stakeholders involved potentially also make a contribution to the transformation of sustainability in the field of urban logistics systems. The focus is on the example of WüLivery, a collaborative project of the city marketing association, the business development department, bicycle logistics specialists and retailers in Würzburg, that was implemented during the second coronavirus-related lockdown in November 2020. The existing dynamics and forms of organization are presented and analyzed based on 11 expert interviews. It can be shown that urban stakeholders are essential mediators for transformation processes and retailers and that local online marketplaces can act as catalysts. That is useful against a background of planning and political communications processes for the legitimation of new transport infrastructures, as the individual groups of stakeholders begin to communicate, bringing about an increased awareness of their respective needs. Abb. 1 Stationäre Einzelhändler*innen in Würzburg reagieren auf die coronabedingten Lockdowns, u. a. indem sie den Onlineshop bewerben. (Foto: Februar 2021, eigene Aufnahme) henden Zunahme des Onlinehandels (HDE 2021; Abb. 1) zurückgeführt werden, bildet aber gleichzeitig den bereits in den Vorjahren identifizierten Trend der Steigerung von kleinteiligen Belieferungen von Privathaushalten ab (BMU und UBA 2019) . Bei den coronabedingten Lockdowns kam es zu regional unterschiedlichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die in Bayern besonders strikt ausfielen. Empfänger*innen von KEP-Lieferungen sind vorwiegend der Handel (bis zu 8 Lieferungen täglich), die Gastronomie (bis zu 7 Lieferungen täglich) sowie private Endkund*innen (Agora Verkehrswende 2020, S. 16-17) . Zudem ist davon auszugehen, dass sich aufgrund von Urbanisierungstendenzen, vielfältigeren E-Commerce-Angeboten sowie veränderten Konsumgewohnheiten, der sich bereits abzeichnende Trend steigender B2C-Sendungen zukünftig weiter fortsetzt und die Verkehrsbelastung durch Lieferverkehre auch in Wohngebieten zunehmen wird (WEF 2020) . Um vor dem Hintergrund einer steigenden Anzahl an Sendungen das bereits im Jahr 2011 von der EU- Kommission (2011) WüLivery ist ein Same-Day-Lieferdienst, der vom Stadtmarketingverein Würzburg macht Spaß und der Wirtschaftsförderung der Stadt Würzburg initiiert wurde (Abb. 2). Der Lieferdienst startete im November 2020 im Zuge des zweiten coronabedingten Lockdowns. Die Idee zu WüLivery gab es bereits seit mehreren Jahren und war für die Umsetzung im Frühjahr 2020 geplant. Die coronabedingten Einschränkungen bremsten das Vorhaben im Frühjahr vorerst aus, wurden aber in der zweiten Jahreshälfte 2020 Anlass zur sofortigen Umsetzung des Konzepts (Interview XXXIV, KA). "... nachdem der erste Schock überstanden war, haben wir versucht Vollgas zu geben und das dieses Jahr noch umzusetzen" (Interview XXIX, FL). Die Idee orientierte sich ursprünglich an Shop-and-Drop-Modellen, wie beispielsweise in Augsburg, bei denen Kund*innen stationärer Einzelhandelsgeschäfte, ihre Adressdaten an der Kasse hinterlegen, ohne Einkaufstüten weiter durch die Stadt bummeln und die Einkäufe am gleichen Tag nach Hause geliefert bekommen. Da ist die Idee gewesen, dass das ein Teil der Mobilitätswende in Augsburg war. Man wollte zu den Leuten sagen, kommt nicht mit den Pkws in die Stadt, kommt mit dem Fahrrad oder zu Fuß, kauft in der Innenstadt ein und lasst eure Pakete kostenlos nach Hause liefern (Interview XXXII, LOM). In der Praxis weit häufiger genutzt wird allerdings die Option des "lokal online shoppen" (WüLivery 2020), bei dem Würzburger Einzelhändler*innen, Kund*innen Same-Day-Lieferungen bis 19 Uhr im Würzburger Stadtgebiet anbieten können (Abb. 3). Mitkonzipiert und durchgeführt werden die Lieferungen von dem Würzburger Radlogistikunternehmen Radboten, aus deren Sicht ein stimmiges und funktionierendes Lieferkonzept für den stationären Einzelhandel in Würzburg vor allem unkompliziert und gut vermittelbar sein muss (Interview XXIX, FL). Demnach wurden die Lieferpreise für das gesamte Stadtgebiet mit 4,50 C pro Lieferung vereinheitlicht. Fahrer*innen sollten keine Zahlvorgänge abwickeln müssen, da diese zeitaufwendig und fehleranfällig seien (Interview XXIX, FL). Zudem wurde die gesamte Organisation und Verwaltung digitalisiert, was als wichtiger Faktor benannt wird: "Bei uns läuft seit Anfang an wirklich fast alles digital. ... Also ähnlich wie bei DHL, nur dass wir eben viel kleiner sind, noch" (Interview XXIX, FL). Aufträge werden demnach online übermittelt und sind direkt einseh-und bearbeitbar, sodass auch die Kund*innen jederzeit wissen, wo sich ihre Lieferung befindet. Die Kund*innen von WüLivery sind die Einzelhändler*innen, nicht die Endkund*innen: "Bei uns zahlen immer die Einzelhändler, weil die Einzelhändler auch entscheiden, wie viel [der Liefergebühren] sie an den Kunden weitergeben und wie viel sie selbst übernehmen" (Interview XXIX, FL). Während der Pilotphase von WüLivery im November 2020 förderten die Wirtschaftsförderung und der Stadtmarketingverein der Stadt Würzburg die kompletten Lieferkosten von 4,50 C je Lieferung, sodass diese für die Einzelhändler*innen und Endkund*innen in den ersten Monaten entfielen. Seit Januar 2021 werden die Lieferkosten nur noch anteilig übernommen. Insgesamt übernahmen Stadtmarketing und Wirtschaftsförderung Kosten in Höhe von ca. 40.000,-C für umfassende Bewerbung des Projekts in Online-und Lokalmedien sowie Liefergebühren (Interview XXXIV, KA). WüLivery wird seit dem ersten Tag stark genutzt, was auch auf den Zeitraum im Lockdown und vor Weihnachten zurückgeführt werden kann. Am Tag vor Weihnachten wurden 800 Sendungen im Würzburger Stadtgebiet ausgefahren. Das Unternehmen Radboten hatte zeitweise bis zu 9 Fahrer*innen gleichzeitig auf der Straße, während sie normalerweise mit 2-3 Fahrer*innen und 200 Sendungen pro Tag arbeiten. Bei einer Gesamtzahl von 583 Einzelhandelsunternehmen (Stand: 2020), nutzen im Oktober 2021 98 Händler*innen WüLivery nach wie vor regelmäßig (Interview XXXIV, KA). Eine Repräsentantin des Unternehmens Radboten weist darauf hin, dass WüLivery allein nicht profitabel wäre, sondern nur ein ergänzendes Produkt zu ihrem bereits bestehenden Logistikportfolio darstelle: "WüLivery würde alleine nicht funktionieren. ... Das ist auch das Problem was viele andere Städte haben" (Interview XXIX, FL). Auch 2 andere Logistiker*innen und Betreiber*innen von lokalen Onlineplattformen in mittelgroßen bayerischen Städten bestätigen, dass Sendungen aus dem lokalen Einzelhandel i. d. R. nicht ausreichend sind, um Radlogistikdienstleistungen anzubieten. "Sich nur auf den stationären Einzelhandel zu konzentrieren, zu sagen ich bilde einfach die Fußgängerzone ab und nehme alle Händler auf die Plattform, das funktioniert nicht" (Interview XXXIII, LOM). Während die Radboten neben WüLivery stark im Produktbereich klassischer Kurierdienste aufgestellt sind und bis Ende des Jahres 2019 95 % B2B (Business-to-Business)-Lieferungen im Bereich Büromaterial, Arzneimittel und Apothekenservice durchführten (Interview XXIX, FL), betreibt ein in Augsburg und Nürnberg operierendes Unternehmen, zusätzlich einen Onlinemarktplatz und ist stark fokussiert im Bereich der Essens-und Getränkelieferungen. Für WüLivery gibt es keinen gemeinsamen digitalen Marktplatz, sondern nur den Verweis auf die Kooperationspartner*innen im Einzelhandel in Würzburg auf der WüLivery-Homepage (WüLivery 2020). Ob die Lieferung durch WüLivery durchgeführt wird, entscheidet dann der/die Einzelhändler*in. Die Einzelhändler*innen nehmen im Rahmen von WüLivery fast schon eine paradoxe Position ein. Einerseits befürworten viele der interviewten Einzelhändler*innen Sendungen mittels der Radboten stark und stellen insbesondere den Aspekt der Nachhaltigkeit und Luftreinhaltung in den Vordergrund (z. B. Interviews XVIII, XXIII, EZH); andererseits sind es viele Einzelhändler*innen, die sich massiv gegen den Rückbau von Parkflächen und gegen Zufahrtsbeschränkungen der Innenstädte aussprechen, da sie von einem damit einhergehenden Rückgang der Kund*innenfrequenzen ausgehen. Ein Einzelhändler berichtet: "Wir haben im letzten Jahr immer wieder gehört, dass die Kunden aus dem Umland sagen "wir sind nicht mehr erwünscht". ... Es wurden über 500 Parkplätze vernichtet in den letzten ein bis zwei Jahren in Würzburg" (Interview IV, EZH). Eine andere Händlerin sagt: "Autofrei ist irgendwie ganz schön, aber nur von schön kann der Einzelhandel nicht leben" (Interview VIII, EZH). Zeitgleich kooperieren sie aber mit Radlogistiker*innen, die ganz andere Bedarfe im Hinblick auf eine Verkehrsinfrastruktur haben, nämlich u. a. ein durch-gängiges gut befahrbares Radwegenetz mit wenig Konfliktpotenzial zwischen Rad-, Fuß-und Autoverkehr. In stark verdichteten Städten, wie Würzburg, kann eine Radinfrastruktur aber nur auf Kosten von Park-und Straßenraum ausgebaut werden und bedarf der Legitimation durch Bevölkerung, ansässige Gewerbe und Handelsunternehmen sowie der kommunalen Politik (Interview XXXIV, KA). WüLivery trägt dazu bei, die Sichtbarkeit und damit das Wissen über emissionsfreie Lieferverkehre in Würzburg zu erhöhen und wird vorwiegend positiv bewertet, sowohl von Einzelhändler*innen als auch von Kund*innen: "Die Kunden haben gesagt, wenn das damit auch funktioniert, ist das gut. Die musste man gar nicht überreden" (Interview XVIII, EZH). Obwohl es keine konkret negativen Bewertungen von WüLivery vonseiten der Interviewpartner*innen gab, gibt es trotzdem Einzelhändler*innen, die auch im Stadtgebiet Würzburg Sendungen aus organisatorischen Gründen selbst ausliefern oder per Post versenden (Interview XXV, EZH): "Dann waren es vielleicht einmal zwei Kunden für die ich das hätte nutzen können. Aber für die anderen zehn musste ich eh zur Post gehen, weil sie außerhalb von Würzburg leben. ... Mir war das zu kompliziert." Insgesamt stellen Konzepte wie WüLivery und lokale Onlinemarktplätze Schnittstellenprojekte dar, in denen bisher wenig vernetzte Akteur*innen miteinander kooperieren und Veränderungen antreiben. Die durch Stadtmarketing und Wirtschaftsförderung initiierte Kooperation zwischen Radlogistik und Einzelhandel hat einen Kommunikationsprozess zwischen unterschiedlichen innenstadtrelevanten Akteur*innen in Gang gesetzt, bei dem das praktische Handeln in Form der Kooperation zwischen Einzelhandel und Fahrradlogistik bei der Warenlieferung am Anfang steht und durch die positive Erfahrung miteinander das Potenzial hat, mehr Verständnis für die unterschiedlichen Bedarfe zu generieren. Eine verstärkte Integration von Radlogistik für die Verteilung von Waren auf lokaler Ebene sowie geleichzeitige Digitalisierungsprozesse im stationären Einzelhandel können zumindest auf lokaler Ebene ein gesteigertes Bewusstsein für alternative Logistikmodi erzeugen (Interview XXIX, FL): "Ich denke bei manchen hat es dann schon Klick gemacht und man hat gesehen was möglich ist, wenn man das möchte, oder welchen Vorteil man dadurch haben kann." Die Ergebnisse zeigen, dass (1) die coronabedingten Lockdowns ein Möglichkeitsfenster zur Etablierung alternativer Strukturen in Teilbereichen der städtischen Logistik darstellen, (2) Einzelhändler*innen und lokale Onlinemarktplätze zu potenziellen Katalysator*innen im Prozess der Legitimation und Akzeptanz alternativer Liefermodi werden und (3) kommunale/städtische Akteur*innen eine grundlegende Rolle als Mediator*innen für die Etablierung nachhaltiger urbaner Verkehrssysteme einnehmen. Sie können durch die Unterstützung kooperativer Projekte Austausch und Kommunikation, die für Planung und Politik relevant sind, vorantreiben. Die Erkenntnisse der vorliegenden Studie sind dahingehend begrenzt, dass der Fokus vorwiegend auf einem Fallbeispiel liegt und die Bewertung der längerfristigen und zukünftigen Ausgestaltung der während der Coronapandemie umgesetzten Kooperationen weitere Erhebungen bedarf. Übergeordnet kann dennoch gesagt werden, dass Kooperationen von Akteur*innen aus unterschiedlichen Teilbereichen der städtischen Gesellschaft Bewusstsein schaffen für gegenseitige Bedarfe. Die coronabedingten Lockdowns stellen Gelegenheitsfenster dar, geplante Projekte zügiger umzusetzen, da viele Akteur*innen nach (neuen) Lösungen für einen konstruktiven Umgang mit der Pandemie und ihren Auswirkungen auf Städte und Einzelhandel suchen. WüLivery ist sowohl für das Unternehmen Radboten als auch für die Einzelhändler*innen eine Ergänzung und Diversifizierung des bereits bestehenden Produktportfolios. Für Planung und Politik ergeben sich daraus Ansatzpunkte zur Legitimation einer Veränderung und Transformation von urbanen Verkehrs-und Mobilitätssystemen, bei der autozentrierte Infrastrukturelemente zurückgebaut werden und Platz machen für nachhaltigere Systembausteine wie Fahrrad-und Fußgängerverkehr. Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL. Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de. Strategies in Times of Pandemic Crisis-Retailers and Regional Resilience in Würzburg Bundesumweltamt (UBA) (Hrsg) (2019) Nachhaltige urbane Logistik Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum -hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem Das E-Lastenrad als Alternative im städtischen Wirtschaftsverkehr. Determinanten der Nutzung eines "neuen alten Reject or embrace? Messenger and electric cargo bikes Einzelhandel erlebt 2020 Jahr der Extreme: Coronakrise bringt viele Händler an den Rand der Insolvenz Bikes for Urban Freight? Hrsg) (2021) Radlogistik Branchenreport -Mit Optimismus und Wachstum durch die Krise Liefern ohne Lasten: Wie Kommunen und Logistikwirtschaft den städtischen Güterverkehr zukunftsfähig gestalten können. www.agora-verkehrswende.de. Zugegriffen: 14 2020) The future of the last-Mile ecosystem. Transition roadmaps for public-and private-sector players