key: cord-0069181-ut3q4r4z authors: Riedel, Priya-Lena; Kulcar, Vanesse; Kreh, Alexander; Reiter, Martin; Juen, Barbara title: Führen in der Krise – organisationales Krisenmanagement während der COVID-19-Pandemie („coronavirus disease 2019“) am Beispiel der Lebenshilfe Tirol date: 2021-11-01 journal: Präv Gesundheitsf DOI: 10.1007/s11553-021-00914-0 sha: d91fa9cd56c28c43b35df81c7256eed44229444c doc_id: 69181 cord_uid: ut3q4r4z BACKGROUND: The COVID-19 (coronavirus disease 2019) pandemic poses a challenge to health care providers. Knowledge of organizational protective and risk factors is central to maintaining staff psychosocial well-being and client care. OBJECTIVE: The aim of this qualitative study with caregivers and leadership personnel is to identify specific protective and stress factors of staff members accompanying people with disabilities. This allows conclusions to be drawn about necessary adjustments to leadership in crisis situations. METHODOLOGY: Between October and December 2020, online-based expert interviews (N = 11) were conducted with staff members of Lebenshilfe Tirol. By applying axial coding of grounded theory, a model was created to explain the experience of health care workers in disability care. RESULTS: Stressful experience during the COVID-19 pandemic was characterized by uncertainty and a feeling of being overwhelmed, which were caused by the novelty of the situation, an excess of information, and altered working conditions with reduced participation. Positive experience was associated with meaningfulness as well as flat hierarchies and identification with the organization. By adapting the leadership behavior of the organisation, which before the crisis was characterized by flat hierarchies, it was possible to respond successfully to the pandemic. DISCUSSION: The results of this study point to changed demands on leadership behavior and a need for increased directive leadership during crises. This change from participative to directive leadership has to be accompanied by dialogue with all stakeholders in order to be accepted. Als organisationale Stressoren werden stressverursachende oder verstärkende Faktoren der internen Strukturierung arbeitsgebender Organisationen bezeichnet. Die Pandemie kann insbesondere durch das geringe Maß an Kontrollierbarkeit in Kombination mit hohen Anforderungen negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der Mitarbeiter:innen haben [12, 23] . Im Zuge der COVID-19-Pandemie führte eine direktive Verteilung neuer Aufgaben zu einem Gefühl fehlender Wertschätzung [3] . Insbesondere in Organisationen mit geringem Maß an Unterstützung fürMitarbeiter:innenwardas Risiko für Burnout und Arbeitsunzufrie-denheit erhöht [1] . Arbeitszufriedenheit war dabei negativ mit psychischem Disstress assoziiert [7] . Auch in Bezug auf die Patient:innenversorgung zeigten sich negative Effekte [1] . Während der COVID-19-Krise stellten Unsicherheiten in Bezug auf die Informationsvermittlung und Handlungsstrategien Hauptstressoren dar, konkret ein gesteigertes Maß an Fachinformationen und neuartigen Hygieneregeln [6] bei gleichzeitig mangelndem pandemiebezogenem Wissen [8] . Zusätzliche Herausforderungen bestanden durch mangelnde Einarbeitung, Erfahrung und Unterstützung [6] . Desroches et al. (2021) berichteten von Konflikten zwischen Betreuungskräften und Administration, weil erstere nicht ausreichend in pandemiebezogene Planungsund Entscheidungsprozesse involviert wurden [6] . Zudem waren Organisationen häufig unvorbereitet bezüglich der Maßnahmen zur Abschirmung von Risikogruppen [20] . Personalmangel sowie eine erhöhte Arbeitsbelastung des Personals mit direktem Patient:innenkontakt verschärften diese Probleme [3] . Die organisationalen Stressoren sind eingebettet in gesellschaftliche und politische Strukturen, welche die Belastun-gen zusätzlich verschärfen können. So ist Pflegepersonal für Menschen mit Behinderung häufig in mehreren Einrichtungen tätig [6, 22] , was insbesondere während der COVID-19-Krise als Stressor wirken kann [6] . Die Mehrfachbeschäftigung erhöht zudem das Übertragungsrisiko des Virus und stellt ein Hindernis bei der Logistik von Testungen dar. Zusätzliche Herausforderungen stellen veränderte Vorschriften für Schutzmaßnahmendurchdie Politik [20] undeinrascher Wechsel an Handlungsempfehlungen dar [6] . Auch die fehlende gesellschaftliche Anerkennung von Mitarbeiter:innen in der sozialen Pflege wird als stressreich empfunden [8] . Dies spiegelt sich auch in der fehlenden finanziellen Unterstützung der Behindertenhilfe durch Krisenfonds wider [6] . In Krisenzeiten sind Charakteristika des Arbeitsplatzes, die resilienzstärkend wirken können [9] , besonders entscheidend. Zentral sind dabei Gefühle von Sicherheit, Ruhe, Verbundenheit, Selbstund kollektiver Wirksamkeit, sowie positive Zukunftsorientierung [10, 26] . Dies kann mittels dezentraler Entscheidungsprozesse, Selbstadministration von Abteilungen, Weiterbildungsangeboten, Abb. 1 9 Organigramm der Lebenshilfe Tirol. (Quelle: [17] , Copyright durch Lebenshilfe Tirol gem GmbH) sowie der Einbindung von Pflege ins Management gefördert werden [16] . Berufserfahrung und adäquates Training sowie Unterstützung zeigten sich bei Lancee et al. (2008) 2 Jahre nach Ausbruch der SARS-Pandemie ("severe acute respiratory syndrome") als stressreduzierende Faktoren [16] . Zentral ist während Gesundheitskrisen eine rasche, proaktive Kommunikation, welche die Sorge bei Mitarbeitenden reduzieren kann [7] . Organisationale Resilienz besteht aus der Widerstandsfähigkeit, der Erholungsfähigkeit und der Lernfähigkeit einer Organisation in Krisen [21] . Objective. The aim of this qualitative study with caregivers and leadership personnel is to identify specific protective and stress factors of staff members accompanying people with disabilities. This allows conclusions to be drawn about necessary adjustments to leadership in crisis situations. Methodology. Between October and December 2020, online-based expert interviews (N = 11) were conducted with staff members of Lebenshilfe Tirol. By applying axial coding of grounded theory, a model was created to explain the experience of health care workers in disability care. Results. Stressful experience during the COVID-19 pandemic was characterized by uncertainty and a feeling of being overwhelmed, which were caused by the novelty of the situation, an excess of information, and altered working conditions with reduced participation. Positive experience was associated with meaningfulness as well as flat hierarchies and identification with the organization. By adapting the leadership behavior of the organisation, which before the crisis was characterized by flat hierarchies, it was possible to respond successfully to the pandemic. Discussion. The results of this study point to changed demands on leadership behavior and a need for increased directive leadership during crises. This change from participative to directive leadership has to be accompanied by dialogue with all stakeholders in order to be accepted. Im Folgenden werden die stresserzeugenden Kontextfaktoren näher erläutert. Eine Herausforderung bezeichnete die Neuartigkeit von Pandemiesituation und Maßnahmen. Der rasche Umsetzungsversuch der Maßnahmen sorgte zu Beginn der Pandemie für Stress. Auch die häufige Veränderung von Vorgaben und eine Flut an sich rasch verändernder oder auch fehlender Information waren stressinduzierend und führten zunächst zu einer Handlungsunsicherheit bei den Mitarbeiter:innen. Für die lokalen Leitungen stellte das Filtern von relevanten Informationen und die Weiterleitung von akzeptierten Handlungsanweisungen eine Herausforderung dar. Schwierig fand diese "das Thema Dosierung und Frequenz von Kommunikation, weil es sich so schnell verändert. Genauso wann ist man zu früh dran und wann ist man zu spät dran" (Interview 8). Die Vorbereitung auf die Pandemiesituation wurde als nicht ausreichend empfunden. Fehlende Handlungspläne bedeuteten zu Beginn der Pandemie die spontane Schließung von Einrichtungen bei Infektionsfällen. Interviewte benannten ein Fehlen von Krisenplänen und einen Mangel an Schutzausrüstung. Nicht in allen Einrichtungen der Tagesbetreuung wurde sofort ein Training zum Anlegen der Schutzausrüstung für Quarantänestationen angeboten. Sorge um die Güte des Schutzmaterials wurden ebenfalls als Herausforderung genannt: "Die Güte [der Schutzanzüge] war glaube ich nicht unbedingt gut. Und trotzdem hat man in den Wohnhäusern, wo es Fälle gegeben hat, genau mit dem auch gearbeitet" (Interview 9). Auch die Einführung von Quarantänestationen war mit Schwierigkeiten verbunden. Lokale Leitungen fürchteten eine Überforderung von Mitarbeiter:innen und es wurden Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Quarantänemaßnahmen für Klient:innen berichtet. Interviewte antizipierten zu Beginn der Pandemie den Ausfall der Betreuung der Klient:innen bei eigener Ansteckung. Mitarbeiter:innen beschrieben ein Umfeld, welches sich nicht an Hygieneregeln hielt und so Ansteckung der Klient:innen oder der Mitarbeiter:innen möglich machte, was mit der Sorge assoziiert war "dass es dort zusammenbrechen kann, durch Mitarbeiter, die ausfallen oder ganze Mitarbeiterketten oder Diensträder" (Interview 9). Als stressreich wurde auch die Unterbringung von Klient:innen bei Angehörigen beschrieben, welche selbst eine Risikogruppe darstellen. Während des Lockdowns belastete Mitarbeiter:innnen auch die Vereinsamung und der Mangel an Beschäftigung bei den Klient:innen: "Der Lockdown, den wir erlebt haben, ist um einiges kürzer als der, den die Menschen mit Beeinträchtigung erlebt haben, weil die gar nicht so schnell wieder zur Arbeit gehen durften. Die sind dann allein zuhause eingesperrt gewesen" (Interview 5). Der Fokus lag zu Beginn der Pandemie bei der Aufrechterhaltung der Versorgung. Dialoge und Gespräche auf informeller Beziehungsebene wurden zurückgefahren. Mangelnder Dialog zwischen den Standortleitungen des Wohnens und der Arbeit zum Ablauf der Zuteilung der Mitarbeiter:innen aus dem Arbeitsbereich in den Wohnbereich führte zu Konflikten und Unzufriedenheit. Mitarbeiter:innen wechselten von dem Arbeits-in den Wohnbereich. Die veränderten Arbeitsbedingungen wurde von den lokalen Leitungen als stressreich beschrieben: "Die Dynamik in einem Wohnbereich und die in einem Arbeitsbereich ist eine ganz andere. Das ist grundsätzlich eine Herausforderung" (Interview 9). Stress entstand durch den Mangel an Wissen und Übung in der neuartigen Arbeitsweise, veränderte Arbeitszeit und eine neuartige Arbeitsumgebung. Herausforderungen bestanden im Vertrauensaufbau zu den Klient:innen und innerhalb eines fremden Teams. Die Herausforderungen konnten durch die in der Organisation herrschenden positiven Kontextbedingungen rasch abgefedert werden. Als besonders resilienzstärkend erwiesen sich die in der Organisation herrschenden flachen Hierarchien sowie die organisationale Identität. So wurde eine flexible Anpassung an die neue Situation erleichtert und die Arbeitsmotivation erhalten. Die Organisation zeichnet sich durch flache Hierarchien aus, welche Entscheidungskompetenzen und Verantwor-tungsübernahme auf allen Hierarchieebenen garantieren. So wird nicht nur Führungspersonal sondern auch Mitarbeiter:innen ohne Führungsverantwortung in unterschiedliche Entscheidungen involviert: "[. . . ] wir sagen nicht nur die Leitungen sollen entscheiden, sondern auch die Mitarbeiter in der direkten Zusammenarbeit mit dem Klienten. Dass die Mitarbeiter das Gefühl haben, sie dürfen, können, sollen entscheiden" (Interview 1). Die "Identität" der Organisation wird als gesellschaftlicher Einsatz für die Menschenrechte gesehen. Diese organisationale "Haltung" trug die Mitarbeiter:innen und Leitungspersonen in der Krise. Sie stellten die Basis der organisationalen Resilienz und Krisenkompetenz sowie der Arbeitsmotivation dar. Auf allen Ebenen der Organisation wurde von Interviewpartner:innen über einen wertschätzenden Umgang unter allen Mitarbeiter:innen der Organisation, gegenüber Klient:innen und in Bezug auf das Verhältnis zu den Angehörigen berichtet. Es wird angestrebt, Ressourcen, Stressoren und Fähigkeiten der Mitarbeiter:innen zu erkennen und diese bei dem Umgang mit Herausforderungen zu unterstützen. Bei Verordnungen und Vereinbarungen besteht Verbindlichkeit. Außerhalb der Verordnungen sollen Mitarbeiter:innen Verantwortung für ihre Entscheidungen und Handeln innerhalb der Organisation übernehmen. Entscheidungen sollen nachvollziehbar auf der Basis der organisationalen Identität getroffen werden. In der Organisation wird eine klare Kommunikation propagiert. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wurde diese Form der Kommunikation auch in der Krise rasch wieder erreicht. Im Folgenden werden wir die Strategien der Führungskräfte beschreiben, die dazu führten, dass sich das System rasch anpassen konnte. Krisenbewältigung bedeutete für die Führungskräfte zunächst vor allem Schutz und gute Kommunikation. Eine frühe und stetige Kommunikation sorgte für die Informiertheit aller Mitarbeiter:innen der Organisation. Unter den Bedingungen von ständigen Veränderungen von Gesetzmäßigkeiten, Regelungen sowie dem dynamischen Infektionsgeschehen waren angepasste Informationsfrequenz und Dichte essenziell. Diese fand laut Interviewpartner:innen auch mithilfe des Aus-baus digitaler Angebote statt. Es wurden Videokonferenzen, E-Mails, Handlungsanweisungen im Intranet und ein FAQ-Katalog zum Thema COVID-19 zur Verfügung. Zudem bestanden Angebote für Schulungen in dem Bereich IT, die den Mitarbeiter:innen leichtere Nutzung von Onlinemedien für die Betreuung der Klient:innen ermöglichten. Dabei ist es "nicht immer nur um das Berufliche gegangen, sondern auch um den Menschen, wie es der Person geht" (Interview 8). Seit Beginn der Pandemie fand aktive Kommunikation und Einbindung von Klient:innen und Angehörigen statt. Im Verlauf konnten die Menschen mit Behinde-rungendurchOnlinekonferenzenmitder Geschäftsführung aktiv ihre Bedürfnisse im Hinblick auf die Pandemie benennen. Die lokalen Leitungen dienten als Schnittstellen und waren im Verlauf der Pandemie sowohl mit der zweiten Führungsebene als auch mit den Mitarbeiter:innen vor Ort sowie Angehörigen vernetzt. Unter den Bedingungen von raschen Veränderungen von Gesetzmäßigkeiten Regelungen sowie dem dynamischen Infektionsgeschehen wurden Informationsfrequenz und Dichte angepasst. Für Mitarbeiter:innen und Angehörige waren lokale Leitungen der zentrale Ansprechpartner. In Fällen von herausfordernden Situationen für einzelne Mitarbeiter:innen, Betreuungsverpflichtungen, Risikogruppen, Überforderungen waren die Leitungen vor Ort für die Mitarbeiter:innen telefonisch oder digital verfügbar. Dabei wurden auch individuelle Lösungen erarbeitet. [7, 11, 18] . Wesentlich war es allerdings, vor diesem Hintergrund neue Strukturen des Dialogs und des Austausches mit allen Stakeholdern zu installieren. Auch das ist in der Literatur gut belegt [16] . Förderlich war zudem die offene Kommunikation des Stresserlebens unter den Mitarbeiter:innen. Auch dies bestätigt vorhergehende Untersuchungen, bei denen soziale Unterstützung zu einer Reduktion von Angst und Stress beiträgt [27] . Diese kann eine positive Einstellung und korrigierende oder kontextualisierende Erfahrungen vermitteln [4, 14] und das Gefühl der Selbstwirksamkeit verstärken [27] . Die Verwendete Literatur Hospital nurse staffing and patient mortality, nurse burnout, and job dissatisfaction Practising ethically during COVID-19: social work challenges and responses Wahrnehmungen von Pflegenden im Bereich der Intensivpflege während der COVID-19-Pandemie Psychological impact and coping strategies of frontline medical staff in Hunan between ImpactofCOVID-19:nursingchallengestomeeting the care needs of people with developmental disabilities General hospital staff worries, perceived sufficiency of information and associated psychological distress during the A/H1N1 influenzapandemic Die Situation von Menschen mit geistiger Behinderung in Zeiten der COVID-19-Pandemie aus Sicht der Betroffenen The quest for resilience Five essential elements of immediate and mid-term mass trauma intervention: empirical evidence Healthcare workers' attitudes to working during pandemic influenza: a qualitative study Job strain, work place social support, and cardiovascular disease: a cross-sectional study of a random sample of the Swedish working population PTSD symptoms among health workers and public service providers during the COVID-19 outbreak Impact on mental health and perceptions of psychological care among medical and nursing staff in Wuhan during the 2019 novel coronavirus disease outbreak: a cross-sectional study Improving health care for disabled people in COVID-19 and beyond: lessons from Prevalence of psychiatric disorders among Toronto hospital workers one to two years after the SARS outbreak The immediate psychological and occupational impact of the 2003 SARS outbreak in a teaching hospital Qualitative Inhaltsanalyse Exploring the challenges faced by frontline workers in health and social care amid the COVID-19 pandemic: experiences of frontline workers in the English Midlands region Community resilience as a metaphor, theory, set of capacities and strategy for disaster readiness Adverse health effects of higheffort/low-reward conditions Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung Mental health care for medical staff and affiliated healthcare workers during the COVID-19 pandemic Alongitudinalstudyonthementalhealthof general population during the COVID-19 epidemic in China The effects of social support on sleep quality of medical staff treating patients with coronavirus disease 2019 (COVID-19) in January and February 2020 in China COVID-19 in Wuhan: sociodemographic characteristics and hospital support measures associated with the immediate psychological impact on healthcare workers Weiterführende Literatur Ethical framework for health care institutions responding to novel coronavirus SARS-CoV-2 (COVID-19) guidelines for institutional ethics services responding to COVID-19 managing uncertainty, safeguarding communities, guiding practice The social psychological impact of the COVID-19 epidemic on medical staff in China: a cross-sectional study Moral injury in times of COVID-19