key: cord-0069168-vxuy6xz9 authors: Bindt, Carola title: Frühgeburt: Risiko für die psychische Gesundheit?: Wie elterliche Belastungen und frühkindliche Entwicklungsbedingungen zusammenwirken date: 2021-10-31 journal: Psychotherapeut (Berl) DOI: 10.1007/s00278-021-00552-z sha: 707981cc146f9e775548ebafdf530c9090a38127 doc_id: 69168 cord_uid: vxuy6xz9 One in 12 children is born before 37 completed weeks of gestation and during the last decades survival rates and developmental outcomes of even very premature children have significantly improved. As a result, mental health sequelae of preterm birth are more frequently addressed. The manifestation of a distinct psychopathological profile with co-occurrence of symptoms associated with attention deficit/hyperactivity, autism spectrum and anxiety disorders has been recognized and discussed as “preterm behavioral phenotype”, mainly affecting high-risk children with very low birth weights. Current research findings on parental psychological distress and early childhood developmental conditions after preterm birth indicate contextual factors that are of relevance, also for clinicians in psychotherapeutic practice. Jedes zwölfte Kind kommt vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche zur Welt, und in den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Überlebens-und Entwicklungschancen selbst sehr unreifer Kinder deutlich verbessert. Damit sind auch die psychischen Folgen einer Frühgeburt in den Fokus getreten. Die Manifestation eines psychopathologischen Profils mit Symptomen von Angst-, Aufmerksamkeits-und Autismus-Spektrum-Störungen betrifft insbesondere die Hochrisikogruppe von Kindern mit sehr niedrigem Geburtsgewicht und wird derzeit als "Frühgeborenenverhaltensphänotyp" diskutiert. Ausgehend vom aktuellen Forschungsstand zu den elterlichen psychischen Belastungen und frühkindlichen Entwicklungsbedingungen im Kontext einer Frühgeburt finden sich potenzielle Wirkfaktoren, die auch für die psychotherapeutische Praxis relevant sind. Trauma · Neonatologische Behandlung · Neurologische Entwicklungsstörungen · Eltern-Kind-Beziehung · Psychotherapie "Ich wurde viel zu früh geboren". In der Psychotherapie löst diese Angabe oft Assoziationen zu einem fragilen, verlassenen, im Inkubator deprivierten Kind aus, für das Leben traumatisiert wie die Mutter, die ihr Kind nicht halten konnte und gleichfalls eine verfrühte Trennung verkraften musste. Inwieweit solche Vorstellungen die Realität abbilden, ist nicht leicht zu beantworten. Belegt ist, dass eine frühkindliche Stressbelastung vielfältige Gesundheitsprobleme vorhersagt. Im Kontext einer Frühgeburt wirken perinatale Risiken mit psychischen Folgen für Eltern und ihre Kinder ein. Die Frühgeburt ist definiert als Geburt vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche (SSW), wobei die Grenze der Überlebensfähigkeit in Westeuropa bei 23-24 SSW liegt (Smith et al. 2017) . Gebräuchlich sind zudem Definitionen und Abkürzungen, die sich auf das Geburtsgewicht ("birth weight", BW) als Indikator des Ausmaßes der Frühgeburtlichkeit beziehen: <2500 g ("low birth weight", LBW), <1500 g ("very low birth weight", VLBW), <1000 g ("extremely low birth weight", ELBW). Auf der Grundlage dieser Definitionen lag der Anteil Frühgeborener in Deutschland 2017 bei 8,6 % aller Neugeborenen; knapp 20 % davon waren Mehrlingskinder (Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen 2018). Somit kam jedes zwölfte Kind zu früh zur Welt. Von allen Geborenen eines Jahrgangs sind etwas mehr als 1 % Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht <1500 g und damit auf eine mehrmonatige, hochspezialisierte Behandlung angewiesen. Trotz vielfältiger Anstrengungen, die Frühgeburtenrate zu senken, ist diese bis zum Ausbruch der durch die "coronavirus disease2019" (COVID-19) ausgelöstenPandemie tendenziell angestiegen. Vermut-lich spielt das höhere Durchschnittsalter Schwangerer dabei ebenso eine Rolle wie die Zunahme von Maßnahmen der assistierten Reproduktion und komplizierten Mehrlingsschwangerschaften. Die Frühgeburtlichkeit gilt als Risikofaktor für diverse psychopathologische Auffälligkeiten im Kindes-und Jugendalter. Auch das Risiko, im weiteren Lebensverlauf an einer Psychose, Depression oder bipolaren Störung zu erkranken, ist um das 1,3-bis 7-Fache der Norm erhöht (Nosarti et al. 2012) . Dabei besteht eine inverse Relation zwischen dem Gestationsalter bei der Geburt und der Häufigkeit von psychischen Störungen (Woythaler 2019 Obgleich die Ursachen für eine verkürzte Schwangerschaftsdauer vielschichtig sind, prägt das Bild vom seelischen "Schock", der eine Frühgeburt auslöst, die gängige Sicht. Die bisher erschlossenen Risiken sind komplex: Neben Faktoren wie uteroplazentaren Gefäßläsionen, Umwelt-und Genussgiften spielen genetische Prädispositionen und Gen-Umwelt-Interaktionen eine Rolle (Strauss et al. 2018 Ein Frühgeborenes gerät rasch in einen Zustand physiologischer Dysregulation, wenn es Pflegemaßnahmen, Schmerzen, Störungen seines Schlafes, Temperaturschwankungen und Hunger bewältigen muss. Die vielfältigen Anforderungen der Intensivtherapiezeit können als kumulative Stressexposition aufgefasst werden, der das Kind naturgemäß nicht entkommen kann. In der Neonatologie ist das Neugeborene einer Vielzahl von Prozeduren ausgesetzt. Untersucher (Simons et al. 2003) zählten durchschnittlich 14 Eingriffe/Tag während der ersten beiden Therapiewochen, im Extrem bis zu 50. Solcherart Exposition und auch die häufige Unterbrechung des Schlafes werden derzeit als potenziell "toxischer Stress" für das Kind und sein sich entwickelnde Gehirn diskutiert. Es ist anzunehmen, dass aversive Erfahrungen nicht spurlos bleiben, auch wenn die Langzeitfolgen noch kaum erfasst sind (Weber und Harrison 2019 Wie sich solch atypische Konditionen langzeitig auswirken, ist weitgehend unklar. Einzelne Studien belegen, dass helles Licht negativ auf die zirkadiane Regulation und den Visus einwirkt (Watanabe et al. 2013) . Nach Rekonfrontation mit der Geräuschkulisse der Intensivstation zeigen Kleinkinder in einigen Studien einen Anstieg der Herzfrequenz, der als Ausdruck einer belastenden Erinnerung gedeutet wird, in anderen nicht (Barreto et al. 2006 Das Frühgeborene als "schwieriger Sozialpartner" Seit den 1980er-Jahren werden videografierte Mutter-Kind-Interaktionen analysiert. Einvernehmlich werden Frühgeborene im Vergleich mit termingeborenen Babys als "schwierige Sozialpartner" charakterisiert. Sie suchen seltener und kürzer den Blickkontakt, zeigen weniger Mimik, Lächeln und Vokalisationen in der Beantwortung mütterlicher Zuwendung und imponieren in den ersten Lebensmonaten als weniger reagibel und dabei schneller überlastet. Ein oft abruptes Einschlafen im Sinne einer "protektiven Apathie" bietet Reizschutz, bevor die Fähigkeit entwickelt ist, an externe Stimuli zu habituieren, was entwicklungspsychologisch als Reifezeichen gilt. Daneben zeigen sich Verhaltensweisen, die sich Eltern nicht intuitiv erschließen: Gähnen beispielsweise deutet eher Stress an als Müdigkeit, ebenso ein Strecken der Gliedmaßen und Finger sowie ein Schluckauf (Givrad et al. 2021) . Daneben scheinen sich Frühgeborene in grundlegenden Temperamentseigenschaften von Reifgeborenen zu unterscheiden. Es finden sich eine vermehrte motorische Aktivität, sensorische Empfindlichkeit und Intensität im Affekt, hingegen verminderte Aufmerksamkeits-und Ausdauerspannen in Abhängigkeit vom Grad der Frühgeburtlichkeit (Cassiano et al. 2020) . Frühgeborene Kinder haben folglich eingeschränkte Kapazitäten, die Rolle als Interaktionspartner ihrer Eltern zu übernehmen. Auch können sie diese weniger gut als reife Neugeborene nutzen, um Affekte zu modulieren und Verhaltenszustände zu organisieren. Mangelnde Stressregulationsfähigkeit und eine alterierte Verarbeitung sozialer Stimuli können den Aufbau befriedigender Eltern-Kind-Beziehungen im Sinne eines "child-toparent effect" erschweren. Bei Dyaden nach einer Frühgeburt imponiert einem Review zufolge in der Interaktion häufiger ein aktiver, direktiver und kontrollierender mütterlicher Stil. Unterschiede zur Termingeburt sind am deutlichsten in ersten Lebenshalbjahr der Kinder ausgeprägt und 2 Jahre lang nachweisbar; solche hinsichtlich der Bindungssicherheit finden sich nicht (Korja et al. 2012 Stress und Angst prägen bekanntlich elterliches Verhalten und die frühe Kindesentwicklung. Erhöhte mütterliche Angst in der Neonatalzeit ist ein unabhängiger Prädiktor für eine weniger sensitive Interaktion, ein schlechteres kognitives Outcome und mehr internalisierende Symptome bei 2-jährigen VLBW-Kindern, und die Ausprägung mütterlicher PTS 6 Monate nach der Frühgeburt korreliert negativ mit der Qualität der Interaktion nach 12 Monaten (Petit et al. 2016) . Indikatoren postpartaler mütterlicher Depression in der Interaktion, die sich vermehrt bei Mutter-Frühgeborenen-Dyaden finden, sagen kindliche psychische Auffälligkeiten im Schulalter sowie Defizite in der Emotionserkennung und in den Exekutivfunktionen vorher (Priel et al. 2020) . Vermutlich sind Frühgeborene diesbezüglich sogar noch empfänglicher als reife Säuglinge. So manifestieren sich Effekte mütterlicher Depressivität auf basale Kortisolspiegel häufiger bei VLBW-Kindern und werden interpretiert als erhöhte Irritabilität gegenüber aversiver Stimulation, die sich in einer Dysregulation der neurohormonellen Stressachse ausprägt (Bugental et al. 2008) . Belastete Eltern frühgeborener Kinder zeigen sich offenbar vermehrt intrusiv, um ihre primär weniger responsiven Kinder im Kontakt zu engagieren. Dieser Stil der intensivierten, weniger feinfühligen Stimulation wird als "kompensatorisches Elternverhalten" beschrieben und birgt ein zusätzliches Risiko, da hieraus dauerhafte, sich gegenseitig verstärkende Fehlanpassungen erwachsen können. Die Kinder stellen sich beispielsweise auf einen kontrollierenden mütterlichen Interaktionsstil mit zwanghaft-angepasstem Beziehungsverhalten ein und sind im Kleinkindalter weniger gut entwickelt als Frühgeborene mit sensitiven Müttern. Zudem können psychische Belastungen der Eltern in den ersten postpartalen Monaten mit einer dauerhaft veränderten Wahrnehmungseinstellung in Bezug auf das Kind, Überprotektion und sogar der Zuschreibung von Psychopathologie einhergehen; selbst gesunde Frühgeborene werden häufiger als fragil und verhaltensauffällig wahrgenommen (Helle et al. 2019). Solche Attribuierungen wiederum sind mit einer vermehrten Inanspruchnahme medizinischer Dienste unabhängig von somatischen Risiken assoziiert (De Ocampo 2003) . Das einzigartige Zusammenspiel der Risiken einer Frühgeburt für die kindliche Hirnentwicklung, die elterliche psychische Gesundheit und die frühe Eltern-Kind-Beziehung bietet Erklärungsmodelle für die hohe Gefährdung Frühgeborener in Bezug auf die Ausbildung psychopathologischer Auffälligkeiten. Aktuelle Forschungsergebnisse legen charakteristische Prozesse bei der Adaptation an die extrauterine Umwelt und der Verarbeitung von sozialen Stimuli bei Frühgeborenen nahe, die sich in der Stressregulation, sozialen Interaktion, Kognition und Verhaltensorganisation bis ins Erwachsenenalter ausprägen können. Zusätzlich relevant sind mütterliche Einflussfaktoren in der Schwangerschaft sowie elterliche psychische Belastungen und deren Effekte in der Eltern-Kind-Interaktion. Die emotionale Bewältigung der Situation seitens der Eltern wirkt darauf ein, wie sich das Entwicklungspotenzial des frühgeborenen Kindes entfalten kann. Gleichzeitig bildet diese, neben den neonatologischen Therapie-und Handling-Optionen, einen zentralen Ansatzpunkt für protektive Interventionen. Risikofaktoren für die elterliche psychische Gesundheit im Kontext einer Frühgeburt sind bekannt und werden in vielen Perinatalzentren regelhaft erfasst, um gefährdete Eltern gezielt ansprechen und unterstützen zu können. Für die psychotherapeutische Praxis ist der Einbezug von Erkenntnissen zur Frühgeburt ein weiterer wünschenswerter Schritt in der Versorgung einer vulnerablen Klientel, die zahlenmäßig wächst. One in 12 children is born before 37 completed weeks of gestation and during the last decades survival rates and developmental outcomes of even very premature children have significantly improved. As a result, mental health sequelae of preterm birth are more frequently addressed. The manifestation of a distinct psychopathological profile with co-occurrence of symptoms associated with attention deficit/hyperactivity, autism spectrum and anxiety disorders has been recognized and discussed as "preterm behavioral phenotype", mainly affecting high-risk children with very low birth weights. Current research findings on parental psychological distress and early childhood developmental conditions after preterm birth indicate contextual factors that are of relevance, also for clinicians in psychotherapeutic practice. Trauma · Neonatal care · Neurodevelopmental disorders · Parent-child relations · Psychotherapy Maternal posttraumatic stress response after the birth of a very low-birth-weight infant The effects of preterm birth on mother-infant interaction and attachment during the infant's first two years Neonatal multisensory processing in preterm and term infants predicts sensory reactivity and internalizingtendenciesinearlychildhood Neonatal pain and reduced maternal care alter adult behavior and hypothalamic-pituitary-adrenal axis reactivity in a sex-specific manner Preterm birth and psychiatric disorders in young adult life Mother's emotional and posttraumatic reactions after a preterm birth: the mother-infant interaction is at stake 12 months after birth Maternal depression impairs child emotion understanding and executive functions: the role of dysregulated maternal care across the first decade of life A Comparison of the effects of preterm birth and institutional deprivation on child temperament The Muslim Ban and preterm birth: Analysis of U.S. vital statistics data from Do we still hurt newborn babies?: a prospective study of procedural pain and analgesia in neonates Variability in the management and outcomes of extremely preterm births across five European countries: a population-based cohort study Spontaneous preterm birth: advances toward the discovery of genetic predisposition Neurodevelopmental origins of social competence in very preterm children Parent and family outcomes following very preterm or very low birth weight birth: a review Prevalence and risk factors for postpartum depression among women with preterm and low-birth-weight infants: a systematic review Designing artificial environments for preterm infants based on circadian studies on pregnant uterus Reducing toxic stress in the neonatal intensive care unit to improve infant outcomes Neurodevelopmental outcomes of the late preterm infant