key: cord-0067987-nex6mjw2 authors: Koch, Christian; Thörle, Britta title: Vermessung und Vermittlung der Krise in den frühen Lageberichten zur Corona-Pandemie: ein deutsch-französischer Vergleich date: 2021-09-29 journal: Z Literaturwiss Linguistik DOI: 10.1007/s41244-021-00214-2 sha: 534c9faeb7035a0654466b3f46f05f46302c7044 doc_id: 67987 cord_uid: nex6mjw2 With the arrival of the coronavirus in Europe in early 2020, situation reports by the state health institutions – the Robert Koch-Institut and the Direction générale de la santé – begin in Germany and France at relatively the same time. These oral presentations by experts serve both to describe the current spread of the virus and to justify the measures that need to be taken. This article examines a number of situation reports from both countries with regard to similarities and differences at the linguistic level. In addition to the communicative acts of describing and interpreting the situation, arguing for measures, and giving recommendations and orders, the newly emerging lexis for naming the virus and the masks will be examined. The comparison of German and French text excerpts shows that the two events, which take place in parallel but independently from each other, have numerous similarities. Differences that can be shown concern, in the field of measures and appeals, the diverging political function of the two health institutes, with a rather advisory role of the Robert Koch-Institut compared to the Direction générale de la santé as part of the Ministry of Health and thus as the stronger political decision-maker. Seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie ist es in einigen Ländern zur Routine geworden, dass Wissenschaftler:innen im Auftrag der Regierungen vor die Öffentlichkeit treten, um über Infektionszahlen, Todesfälle und Maßnahmen im Zusammenhang mit Covid-19 zu informieren und die jeweils aktuelle nationale Lage zu bewerten. Dies geschieht u.a. in regelmäßigen und zeitweise täglichen Pressekonferenzen von Ministerien oder staatlichen Institutionen, die durch ihre Verbreitung über Social-Media-Plattformen und TV-Kanäle sowie dadurch, dass z.B. Nachrichtensendungen auf sie Bezug nehmen, einem breiten Publikum bekannt und zugänglich sind. Die beteiligten Wissenschaftler:innen, in der Regel Virolog:innen und Epidemiolog:innen, erhalten damit vor allem ab Februar/März 2020 ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit und werden zu zentralen Akteur:innen im medialen und politischen Diskurs, in dem sich von da an vieles um Messzahlen, Modellrechnungen und Prognosen dreht. In diesem Beitrag beschäftigen wir uns mit den nur wenige Wochen nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie einsetzenden Pressekonferenzen des deutschen Robert Koch-Instituts (RKI) und der Direction générale de la santé (DGS) im französischen Gesundheitsministerium. In beiden Fällen handelt es sich um wissenschaftliche Einrichtungen, deren staatlicher Auftrag der Gesundheits-und insbesondere der Infektionsschutz ist und denen deshalb eine wichtige Rolle in der Pandemiebekämpfung zufällt. Die Pressekonferenzen sind vor diesem Hintergrund auch als Organe der staatlichen Krisenkommunikation zu betrachten. 1 In der Analyse geht es uns zum einen um die Frage, wie die (Krisen-)Situation von den Beteiligten auf der Sachverhalts-, Argumentations-und Handlungsebene kommunikativ konstituiert und vermittelt wird und welchen Beitrag die Pressekonferenzen zur öffentlichen Verhandlung der Krise leisten (Abschnitt 3). Ein besonderer Fokus liegt dabei in einem weiteren Schritt auf der Lexik und der Verhandlung von Nominationen zum Ausdruck neuartiger Sachverhalte (Abschnitt 4). Das Interesse am Vergleich der Lageberichte zweier Länder liegt unseres Erachtens darin, dass hier zwei voneinander unabhängige Formate entstanden sind, die aufgrund der relativ zeitgleichen Wahrnehmung 2 der akut werdenden Gesundheitskrise in beiden Ländern große Gemeinsamkeiten aufweisen. Zu diesem Zweck konzentriert sich die Analyse auf den Zeitraum von Mitte bis Ende März 2020, in dem in beiden Ländern erstmals weitgehende Ausgangs-und Kontaktbeschränkungen in Kraft treten. Das Robert Koch-Institut (RKI) ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit und die zentrale Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Gesundheitsüberwachung und -prävention. Die Kernaufgaben des RKI sind die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere von Infektionskrankheiten. 3 Das erste Pressebriefing des RKI zu Covid-19 findet am 27.02.2020 statt. Es folgen von da an regelmäßige -im Untersuchungszeitraum nahezu tägliche -Pressekonferenzen, die im TV-Programm Phoenix ausgestrahlt werden und gleichzeitig auf YouTube abrufbar sind. Die Pressebriefings werden hauptsächlich vom Präsidenten des RKI, Lothar Wieler, und gelegentlich auch von seinem Stellvertreter Lars Schaade durchgeführt. Die Points de situation werden vom französischen Gesundheitsministerium, genauer von der Direction générale de la santé (DGS), einer Sektion des Ministeriums, verantwortet, deren Aufgabenbereich etwas weiter gefasst ist als der des RKI. Die DGS ist u.a. für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und die Organisation des Gesundheitswesens zuständig. Der erste Point de situation wurde von der Gesundheitsministerin Agnès Buzyn am 21.01.2020 durchgeführt. Nach ihrem Rücktritt im Februar 2020 sind ihr Nachfolger Olivier Véran sowie die Premierminister Édouard Philippe und später Jean Castex in einigen Points de situation vertreten. Die meisten Pressekonferenzen werden jedoch vom Leiter der DGS, Jérôme Salomon, durchgeführt, der entweder allein oder gemeinsam mit den Regierungsvertreter:innen auftritt. 1 Zur Vermittlung der Krise auf politischer Ebene vgl. etwa die romanistischen Analysen von Hesselbach (2020) und Leschzyk (2020) sowie deutsch-französisch kontrastiv Spieß (2020) . 2 Mitte März 2020 bestand aus Sicht europäischer Virolog:innen und Epidemiolog:innen kein Zweifel mehr an der Gefahr des neuartigen Coronavirus. Zu den Abwägungen der Wochen zuvor vgl. mit besonderem Fokus auf das RKI das Kapitel »Covid-19: War die Katastrophe vorhersehbar?« in Mukerji/Mannino (2020, S. 23-62) . 3 Eine detaillierte Beschreibung der Zuständigkeiten ist auf der Website des Instituts zu finden (Robert Koch-Institut 2020). Wie beim RKI finden die Points de situation in dem von uns untersuchten Zeitraum ebenfalls fast täglich statt. Für die Untersuchung wurden auf den Seiten des französischen Gesundheitsministeriums bzw. auf Phoenix und YouTube veröffentlichte Mitschnitte der Pressekonferenzen mithilfe eines Spracherkennungsprogramms automatisch transkribiert, für die Analyse relevante Stellen korrigiert und in ein Basistranskript 4 umgewandelt. In der folgenden Darstellung beziehen wir uns auf den Zeitraum von Mitte März bis Anfang April 2020, wobei die Pressekonferenzen eines Tages (-) die Karten vorstellen 03 qui sont amenée:s (.) à nous guider dans les choix, (--) die dafür da sind uns bei den Entscheidungen zu leiten 04 en vue de la levée progressive du confinement, (-) im Hinblick auf die schrittweise Aufhebung des Lockdowns 05 tel qu'annoncé (.) jusqu'au (.) à partir du 11 mai. wie angekündigt bis zum ab dem 11. Mai 06°h ensuite je laisserai le directeur général de la santé dann werde ich dem Generaldirektor für Gesundheit 07 le professeur (--) jérôme salomon, Professor Jérôme Salomon 08 faire (.) le point (.) quotidien den täglichen Lagebericht überlassen 09 tel que vous avez pris l'habitude, wie Sie es gewohnt sind 10 et puis il répondra (-) aux éventuelles questions (.) und danach wird er antworten auf eventuelle Fragen 11 des journalistes. (--) der Journalisten In der folgenden Betrachtung konzentrieren wir uns auf diesen Teil der Pressekonferenzen, wobei wir der Frage nachgehen, wie die Lage von den Akteuren kommunikativ vermittelt wird. (3) DGS, 17.03.20, 00:29-00:54 01 en ce qui concerne la situation internationale (.) im Hinblick auf die internationale Situation 02 de la pandémie, (.) der Pandemie 03°h covid-19, Covid-19 04 nous sommes ce soir à (--) 190000 CAS, (-) sind wir heute Abend bei 190000 Fällen 05 80000 guéris, (1.2) 80000 Genesenen 06 on peut noter que l'essentiel des cas est désormais (--) man kann anmerken, dass der wesentliche Anteil der Fälle jetzt 07 hors de chine, außerhalb von China vorliegt 08 puisque il y a 109000 cas hors de chine (-) da es 109000 Fälle außerhalb Chinas gibt 09 contre 81000 en chine gegenüber 81000 in China 10 où l'épidémie est quasi à l'arrêt, (-) wo die Epidemie fast zum Stillstand gekommen ist 11°hh 155 pays (.) sont touchés, (---) 155 Länder sind betroffen Mit Thema-einleitenden Routineformeln (»en ce qui concerne«, »schauen wir uns: (.) zunächst mal [...] an.«) beziehen die Sprecher sich zunächst auf die weltweite Situation. Diese wird durch die Nennung von Fallzahlen charakterisiert, wobei in beiden Beispielen zwischen China, das bis Anfang 2020 das Zentrum des epidemiologischen Geschehens war, und der Welt außerhalb Chinas unterschieden wird. 6 Im weiteren Verlauf wird diese Art der Situationsbeschreibung für weitere Länder sowie verschiedene Regionen des jeweils eigenen Landes fortgesetzt: (5) DGS, 17.03.20, 00:55-01:20 01 l'iran avec 16000 ca:s, der Iran mit 16000 Fällen 02 la corée du sud avec 8320, (.) Südkorea mit 8320 03°h mais ce qui préoccupe évidemment, aber was offenkundig Sorge bereitet 04 c'est que l'euROPE (-) ist, dass Europa 05°h est l'épicentre (.) de la pandémie, (.) das Epizentrum der Pandemie ist 06 avec plus de 65000 cas (-) et près de 3000 morts, (--) mit über 65000 Fällen und fast 3000 Toten 07 le pays le plus touché en nombre absolu (.) das in absoluten Zahlen am stärksten betroffene Land 08 après la chine (.) nach China 09 est l'italie, (--) ist Italien 10 avec 28000 cas; (---) mit 28000 Fällen 11 suivent l'espagne avec 11200 cas, gefolgt von Spanien mit 11200 Fällen 12 et l'allemagne avec 8600 cas. (---) und Deutschland mit 8600 Fällen Durch die listenförmige Abfolge von Referenzen auf ein Land (»l'iran«, »la corée du sud«, »in italien«, »in südkorea«) und die Zuordnung der jeweiligen Anzahl von Infektions-bzw. Todesfällen als Prädikation ergibt sich das Muster einer Bestandsaufnahme oder Inventarisierung, das als elementare Form der Beschreibung aufgefasst werden kann (vgl. Adam 2017, S. 79 »tatsächlichen erkrankungszahlen« von denen, die dem RKI »übermittelt werden« (Beispiel 9), so dass der Sprecher insgesamt viel Redezeit auf die Klarstellung der Relativität der präsentierten Daten verwendet: Eine in vergleichbarer Weise exponierte Relativierung der Daten ist in den Pressekonferenzen der DGS nicht zu beobachten, wenngleich sich auch dort Erläuterungen zum Zustandekommen der Zahlen finden. So wird beispielsweise der extreme Anstieg der Sterbefälle in Seniorenheimen durch die Zunahme der meldenden Einrichtungen erklärt (vgl. Ausschnitt 10) oder die Datenquelle (SOS Médecins, vgl. Ausschnitt 11) wird -informationsstrukturell allerdings im Hintergrund -mitgenannt: In (12) wird das Pandemiegeschehen durch die Metapher der WELLE als dynamisches Phänomen konzeptualisiert, das qua Form einen Anstieg bis zum Scheitelpunkt beinhaltet, wodurch die weitere Zunahme der Infektionen -gleichzeitig aber auch ein irgendwann einsetzender Rückgang -prognostizierbar wird. Durch diese Konzeptualisierung werden die zunächst in Form einer inventarisierenden Liste erfassten Kategorien und Zahlen in »dramatisierbare Verläufe« (Contzen/Griem 2020, S. 244) eingebettet. Wie Ausschnitt 13 zeigt, werden zuweilen auch die in den Lageberichten formulierten Ziele und Maßnahmen direkt auf die Manipulation dieser Figuren bezogen (»diese epidemische kurve (.) abzuflachen (.) die (--) basis breiter zu machen«, Beispiel 13, vgl. auch die im weiteren Verlauf der Pandemie verbreiteten Losungen flatten the curve, die Welle brechen). Contzen/Griem (2020, S. 243) sprechen in diesem Zusammenhang von den »Affordanzen« der Form: Die Dinge teilen uns mit, was wir mit ihnen tun sollen. Wie die von den Beteiligten an den Pressekonferenzen des RKI verwendete Bezeichnung Lageeinschätzung erwarten lässt, geht mit der Darstellung auch eine Deutung und Bewertung der Situation einher. 11 So werden beispielsweise die Meldezahlen in Ausschnitt 4 als Evidenzen für die Einordnung der globalen Situation als Pandemie präsentiert (»das zeigt also (das/dass) äh (-) was wir hier wissen, (.) es handelt sich um eine pandemie,«). Die nationale Lage in Deutschland wird in den Pressekonferenzen des RKI wiederholt -und für Lai:innen sehr abstrakt -als »dynamisch« charakterisiert. In Beispiel 14 wird das Verhältnis der aktuellen Meldezahlen zu den Zahlen des Vortags (»1174 fälle mehr«) mit »also 'ne starke dynamik;« reformuliert und damit gedeutet: wir bewegen uns nach und nach auf eine Epidemie zu 04 généralisée sur le territoire, (-) die sich auf dem gesamten Staatsgebiet ausbreitet 05°h nous passons logiquement (---) wir wechseln logischerweise 06 d'une stratégie de détection (--) von einer Strategie der Fallfindung 07 de recherche systématique des cas (--) der systematischen Suche nach Fällen 08 de lutte contre la diffusion, (.) der Bekämpfung der Ausbreitung 09 à une stratégie (--) d'action collective, zu einer Strategie des kollektiven Handelns 10 qui s'appuie sur des mesures de confinement strictes, (--) die sich auf strenge Lockdown-Maßnahmen stützt 11 de distanciation sociale, (--) auf (-) 03°h die von einer sehr dynamischen lage sprechen, (.) 04°hh das heißt also (-) 05 das ist der grund warum einfach (--) 06 noch stärkere maßnahmen notwendig geworden sind (-) 07°h um die verbreitung des virus weiter zu verlangsamen, 08 und die behandlungskapazitäten nicht zu überfordern; [...] Das Argumentationsmuster wird dabei explizit an der sprachlichen Oberfläche indiziert: Mit »das ist der grund warum« wird die Notwendigkeit stärkerer Maßnahmen als Folge der Einschätzung der Lage als »dynamisch« präsentiert. Als weitere Legitimierungsressource werden zudem die mithilfe der um...zu-Konstruktion versprachlichten Zwecke der Maßnahmen herangezogen (»um die verbreitung des virus weiter zu verlangsamen, und die behandlungskapazitäten nicht zu überfordern«). Schließlich richten die Sprecher in ihren Lageberichten Appelle in Form von Aufrufen, Bitten, Forderungen, Empfehlungen, Ratschlägen usw. an das Publikum, das zur Mitwirkung an der Umsetzung der Maßnahmen aufgefordert wird: Hier zeigt sich eine abweichende Rollenkonstitution der beiden Akteure, die im engen Zusammenhang mit den institutionellen Funktionen von RKI als der die Bundesregierung beratenden Einrichtung auf der einen Seite und DGS als ausführender Abteilung des französischen Gesundheitsministeriums auf der anderen Seite zu sehen ist. Ähnlich wie bei der Lageeinschätzung spielen auch bei der Versprachlichung der Appelle Intensivierungsverfahren eine Rolle. Intensiviert wird u.a. die Bedeutung von Verben, die die in der Lage gebotenen Handlungen ausdrücken (»die kapazität, (--) der beatmungsplätze (--) in deutschland maximal erhöhen. (1.6)«, RKI, 18.03.20, 07:49-07:59; »äh diese krise die auf uns zukommt (--) können wir (--) optimal managen«, RKI, 13.03.20; Nicht ausschließlich, aber vor allem im deutschen Korpus beobachten wir Intensivierungen des Sprechakts selbst, etwa durch die Verwendung von verba dicendi (»aber ich möchte auch nochmal sagen dass natürlich die bürgerinnen und bürger, (--) äh vieles dazu tun können (-)«, RKI, 17.03.20, Klein (2000) beschriebenen topischen Mustern politischen Rechtfertigungshandelns entsprechen. Diese umfassen im Wesentlichen die Handlungskategorien Situationsdarstellung, Situationsbewertung, Zielsetzung, Handlungsanforderung und Norm/Wert, die zueinander in einem Fundierungsverhältnis stehen, indem die Handlung einer Kategorie argumentativ durch die Handlung einer anderen Kategorie gestützt wird (vgl. Klein 2000, S. 628 ff.; siehe dazu auch den Beitrag von Spieß in diesem Heft). So werden Infektionszahlen und andere Messwerte in den Lageberichten als Begründungen für die Einschätzung der Lage als »dynamisch« bzw. »évolutif« oder des Risikos als »hoch« herangezogen (Motivationstopos). Hohe absolute Zahlen, im internationalen Vergleich relativ hohe Zahlen sowie die Zunahme von Fallzahlen über einen Zeitraum hinweg werden als Indizien einer kritischen Lage behandelt. An der sprachlichen Oberfläche signalisieren kausale oder konsekutive Konnektoren (z.B. fr. donc, dt. also, darum) entsprechende Grund-Folge-Relationen. Die Singularität und das Ausmaß der Pandemie werden durch Intensivierungsverfahren unterstrichen. Der konkrete Zusammenhang zwischen Messwerten und Lageeinschätzungen, wie er in epidemiologischen Modellrechnungen etabliert wird, dürfte für das Laien-Publikum allerdings opak bleiben. Hier manifestiert sich ein grundlegendes und häufig kritisiertes Dilemma der Krisenkommunikation in der Pandemie (vgl. u.a. Kuck 2020, S. 248 ff.; Nassehi 2020, S. 158 ff.; Vogel 2020). Mit der Nennung sehr detaillierter Daten und »szientoider Maßzahlen« (Nassehi 2020, S. 158) wird eine (vermeintliche) Transparenz und »behauptete gemessene Objektivität« (Kuck 2020, S. 250) der wissenschaftlichen Grundlage politischer Entscheidungen signalisiert, ohne dass die Darstellung die tatsächliche Komplexität epidemiologischer Modellierung und politischer Entschei-dungsprozesse jedoch abzubilden vermag (vgl. auch Moirand 2021) . Das Dilemma wird vor allem in den Pressekonferenzen des RKI deutlich, in denen die genannten Zahlen immer wieder relativiert und in einen erläuternden Kontext gestellt werden. Dieses Bemühen um Transparenz stößt aber an Grenzen, so dass letztendlich nur das Vertrauen in die Expertise der Akteure bleibt: Die aus den Daten abgeleiteten Situationsdeutungen und -bewertungen dienen schließlich der Legitimierung bestimmter Maßnahmen, die darauf abzielen, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, um die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht zu überlasten (Finaltopos), wobei auch gesellschaftliche Werte wie Solidarität und soziale Normen wie der Schutz vulnerabler Gruppen (Prinzipientopos), der Verweis auf den nationalen Pandemieplan (Autoritätstopos im weiteren Sinne) oder auch unerwünschte Effekte, die bei Unterlassung von Maßnahmen drohen (Konsequenztopos), als stützende Argumente herangezogen werden. Auch hier spielen Intensivierungen eine Rolle, indem sie den Ausdruck der Dringlichkeit und Umfänglichkeit der Maßnahmen verstärken. Die Lageeinschätzungen münden in den Appell zur Mitwirkung, wobei die Akteure in der ersten Phase der Pandemie der Zuhörerschaft praktisches Handlungswissen in Bezug auf Hygienemaßnahmen oder das Verhalten im confinement vermitteln. Anders als Salomon, der als Leiter der DGS Teil des französischen Gesundheitsministeriums ist und selbst Maßnahmen im Bereich des staatlichen Gesundheitswesens durchsetzen kann, muss der Präsident des RKI um politische Unterstützung durch kommunale Verwaltungsinstitutionen und Einrichtungen des Gesundheitswesens werben. Auch wenn in den Pressekonferenzen durchaus weitere Aspekte der Pandemie vermittelt werden, 19 bilden die Lageberichte mit der Präsentation der Fallzahlen und den aus ihnen abgeleiteten, immer wieder ähnlichen und von Tag zu Tag manchmal wortgleichen Situationsdeutungen, Handlungslegitimierungen und Appellen eine Konstante der Pressekonferenzen, die uns seit Anfang 2020 begleiten. Die Serialität verleiht den Berichten einen rituellen Charakter und trägt -zusammen mit den vielfältigen Möglichkeiten der öffentlichen und privaten Anschlusskommunikationzur kollektiven Aufrechterhaltung des Krisenmodus bei. Eine besonders breite Wahrnehmung in der Sprache der Corona-Krise erfährt der Wortschatz, insbesondere Lexeme, die neuartig sind oder zumindest neuartig erscheinen. So sammelt das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in einem Neologismenverzeichnis sowohl tatsächlich neu entstandene Wörter als auch Ausdrücke, die im Rahmen der Pandemie Bedeutungsveränderungen erfahren haben (Leibniz-Institut für Deutsche Sprache 2021). 20 Auf französischer Seite ist etwa die Rubrik »Les mots du virus« der Bibliotheken der Université d'Aix-Marseille zu nennen (Bibliothèques de l'Université d'Aix-Marseille 2021). Das folgende Kapitel vergleicht die Verwendung von lexikalischen Ausdrücken in den deutschen und französischen Lageberichten. Dabei geht es um die Frage, wie Fachterminologie vermittelt und neue Begrifflichkeiten eingeführt werden. Schwerpunktmäßig werden in einem ersten Teil die Bezeichnungen des Virus und im Anschluss etwas ausführlicher die Nominationen im Zusammenhang mit Masken analysiert. wenn zwischen 6 und 10 Prozent 02 des patients qui vont aux urgences; (-) der Patienten, die die Notaufnahme aufsuchen 03 pour une suspicion de coronavirus, (-) Später wird eine Chance darin gesehen, dass man sich durch eine Maske schützen könne, und im Juni 2020, der hier ausblickend nur kurz erwähnt sei, benutzt das RKI die auch politisch propagierte AHA-Regel, wonach man in zahlreichen Situationen eine Alltagsmaske zu tragen habe: Die genannten Beispiele erweitert um eine Auswertung weiterer softwaregenerierter Transkripte der deutschen und französischen Lageberichte von Februar bis April 2020 ergeben die in Tabelle 1 zusammengestellten Bezeichnungen für Masken. In dieser Übersicht wird nach den Termini getrennt, die etabliert sind bzw. im Diskurs etabliert werden sollten, und jenen, die spontan formuliert oder als (zunächst) weniger favorisierte Bezeichnungen verstanden werden müssen. Letzteres erkennt man etwa an modalisierenden Rahmungen wie im Beispiel 44: »das nennen manche community mask, diese (.) selbstgemachten oder stoffmasken«. Der Demonstrativbegleiter als Distanzsignal ist ebenso im Französischen feststellbar (vgl. Beispiel 42: »ces masques alternatifs«). Die Lageberichte können im Hinblick auf die Verwendung von Terminologie unter verschiedenen Prämissen verstanden werden: Als medizinische Fachinstitutionen werden die jeweiligen Vertreter als Wissenschaftler wahrgenommen, von denen zu erwarten ist, dass sie das epidemiologische Geschehen in präziser Fachterminologie ausdrücken. Dies ist etwa am Insistieren auf die Bezeichnung Covid-19 in beiden Sprachen sichtbar. Sie müssen jedoch auch dem Laienpublikum, wo nötig, die Terminologie erklärend vermitteln (vgl. hierzu auch die Ausführungen zu den verschiedenen Zahlen in Abschnitt 3.1). In ihrer politischen Rolle als Instanzen der staatlichen Krisenkommunikation spielt auch der Versuch der Etablierung von Begrifflichkeiten (»mund-nasen (-) bedeckung.«, Beispiel 44) sowie die Verbreitung gesundheitspolitisch eingeführter Ausdrücke eine Rolle (»aHA-regeln«, Beispiel 40). Weiterhin nehmen die Akteure der Lageberichte medial verbreitete Lexeme, die nicht im Fachdiskurs entstanden sind, im Sinne einer Experten-Laien-Interaktion auf und bearbeiten sie (»des (.) masques (--) dits (.) alternatifs. (--)«, DGS, 03.04.20, , ›sogenannte alternative Masken‹). Die vergleichende Analyse der deutschen und französischen Lageberichte hat -bei aller Unterschiedlichkeit der Funktionen der beteiligten Akteur:innen und Institutionen -zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen der Krisenkommunikation von DGS und RKI aufgezeigt. Diese zeichnet sich in beiden Fällen durch die Bereitstellung und Deutung von Daten aus, mithilfe derer staatliche Maßnahmen legitimiert bzw. Handlungsaufforderungen begründet werden, und weist typische Argumentationsmuster des politischen Rechtfertigungshandelns auf. Ein in der Analyse noch nicht systematisch berücksichtigter Aspekt der Krisenkonstitution ist die Serialität der Lageberichte, was insbesondere durch den einzelsprachlichen Vergleich mehrerer aufeinanderfolgender Berichte untersucht werden könnte. Durch das regelmäßig wiederkehrende -d.h. in der hier betrachteten Phase der Pandemie: fast tägliche -Vermelden der Messzahlen und ihre Einordnung auf einer auf-oder absteigenden Skala erhält das Geschehen eine ›in Echtzeit‹ nachvollziehbare Dynamik und wird der Krisenmodus aufrechterhalten. Neben der Vermessung der Krise gehört zu den Lageberichten auch die Vermittlung von pandemierelevantem Alltagswissen, unter anderem über Hygiene-und Kontaktverhalten oder den Gebrauch von Masken. Vor allem an diesem Beispiel konnte gezeigt werden, dass die Wissenskonstitution und -vermittlung mit lexikalischen Aushandlungsprozessen einhergeht. Zu berücksichtigen sind dabei Rollenkonflikte zwischen Wissenschaft, Politikberatung und politischer Exekutive. Insgesamt kommt der Rollenkonflikt zwischen Wissenschaft und Politik beim RKI stärker zum Ausdruck, während die DGS deutlicher eine politische Stimme repräsentiert. Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL. 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Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/ licenses/by/4.0/deed.de. Les Textes: types et prototypes Atenuación e intensificación Von Grenzen und Welten: Eine korpuspragmatische COVID-19-Diskursanalyse Liste und Kurve: Die Macht der Formen Oxford: Basil Blackwell, S. 124-159. Gouvernement (2021) Plan national de Prévention et de lutte Alors and donc in spoken French: A reanalysis Textlinguistik fürs Examen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände Nous sommes en guerre sanitaire contre le COVID-19« -A Corpus-based Approach of Official French, Italian, and Spanish Social Media Discourse in the Light of the Coronavirus Crisis Thomas Schirren/Gert Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik. Tübingen: Niemeyer, S. 623-649 Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Politik Von Dauerwellen und anderen Wellen in Coronazeiten Maske oder Mundschutz Symbole und Räume -Soziologische Reflexionen aus dem Inneren der Corona-Krise -Working Paper No Objektivität und Wahrheit im Diskurs um Corona -Oder: warum Konstruktivismus nicht öffentlichkeitstauglich ist. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur Metaphors We Live By Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie Corona-Kommunikation. Wie Jair Bolsonaro die Wissenschaft diskreditiert und Verschwörungstheorien befeuert. In: promptus -Würzburger Beiträge zur Romanistik Soziologie des Risikos Grübelst du noch oder weißt du es schon? -Glossare erklären Corona-Schlüsselbegriffe Instants discursifs d'une pandémie sous l'angle des chiffres, des récits médiatiques et de la confiance (Essai) Covid-19: Was in der Krise zählt Klima, Viren, Kurven. Was heißt, auf die Wissenschaft zu hören? In: Kursbuch 56/202 Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. Bielefeld: transcript In: Gesprächsforschung -Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10 »Passen Sie gut auf sich und Ihre Liebsten auf« und »Vive la France!« -Linguistische Anmerkungen zu den TV-Ansprachen von Merkel und Macron. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur Wenn Virologen alle paar Tage ihre Meinung ändern, müssen wir in der Politik dagegenhalten« -Thesen zur politischen Sprache und (strategischen) Kommunikation im Pandemie-Krisendiskurs Textgrammatik der französischen Sprache