key: cord-0066681-i6u105g3 authors: Kraus, Dagmar title: Warum die Masernelimination nicht gelingt date: 2021-08-19 journal: Pädiatrie DOI: 10.1007/s15014-021-3792-4 sha: 866359ef1697f18151c5fb9f677d1299652c4642 doc_id: 66681 cord_uid: i6u105g3 nan S eit dem Jahr 2018 weisen das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf eine weltweite Zunahme von Masernfällen hin. Laut den Angaben der WHO sind 2019 im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr in der Region Afrika die Fallzahlen um das Zehnfache gestiegen. In Europa war ein Anstieg um das Doppelte und in den östlichen Mittelmeerländern um das 1,5-Fache zu verzeichnen, wie Luisa Denkel von der Abteilung für Infektionsepidemiologie am Robert-Koch-Institut (RKI) und ihre Kolleginnen im Bundesgesundheitsblatt die Situation zusammenfassen. Dabei bestünde die Möglichkeit, das Virus vollständig zu eradizieren, wie die Autorinnen betonen; zum einen existiert ein sicherer, effektiver und kostengünstiger Impfstoff und zum anderen ist -im Gegensatz zu SARS-CoV-2 -der Mensch der einzige Wirt des Virus. Den größten Anteil stellte mit 40 % der Masernfälle die Gruppe der 20-bis 39-Jährigen. 26 % der Fälle betrafen Kinder zwischen null und neun Jahren und 10 % Kinder zwischen zehn und 19 Jahren. In der Altersgruppe der Null-bis Neunjährigen entfielen mehr als die Hälfte der gemeldeten Fälle auf Kinder (56 %) bis maximal zwei Jahre, davon wiederum 20 % auf Kinder unter einem Jahr, also auf eine Gruppe, für die die Impfempfehlungen noch nicht gelten und die ein besonders hohes Komplikationsrisiko hat. Der Großteil der Erkrankten (78 %) war ungeimpft. Weltweit die höchsten Inzidenzen sind im Zeitraum vom 1. Juli 2018 bis 30. Juni 2019 in Madagaskar, der Ukraine und in Israel registriert worden. In Madagaskar betrug die Inzidenzrate pro 1 Million Einwohner 6.064,5 Fälle, in der Ukraine 1.917,6 Fälle und in Israel lag sie bei 471,1 Fällen. In Deutschland wurden für denselben Zeitraum 6,8 Masernfälle pro 1 Million Einwohner ausgewiesen. Masernausbrüche sind, wie Denkel und ihre Kolleginnen ausführen, vor allem auf unzureichende Impfquoten zurückzuführen. Die Ursachen dafür seien vielfältig und können struktureller oder psychologischer Natur sein. Als Beispiel für ein Land, in dem die Masernbekämpfung durch strukturelle Probleme erschwert wird, führen Denkel und Kolleginnen Madagaskar an. Neben bewaffneten Konflikten nach den Wahlen im Dezember 2018, der geografischen Isolation einiger Fälle und der politischen Unsicherheit lähmten auch noch Naturkatastrophen die Bemühungen der Masernbekämpfung. Saisonale Ausbrüche der Pest taten ein Übriges. Diese sogenannten strukturellen Barrieren sind vor allem in fragilen Ländern entscheidend für die geringen Impfquoten, "spielen aber auch in Sub populationen einkommensstarker Länder mit sehr guten Routineimpfprogrammen eine Rolle", erklären die Autorinnen, etwa bei Romakindern in Serbien. Doch auch in Ländern mit einem hohen Pro-Kopf-Einkommen und sehr guten Gesundheitssystemen sind immer wieder Masernausbrüche als Zeichen einer unzureichenden Impfquote zu beobachten. Verantwortlich ist eine gewisse Impfskepsis, die die Strategic Advisory Group of Experts (SAGE) der WHO als eine "Verzögerung von Impfungen oder Ablehnung von Impfstoffen, obwohl diese verfügbar wären" definiert hat. Gemäß dem "5C-Modell" sind fünf Faktoren für die Impfentscheidung ausschlaggebend: Confidence, Complaceny, Constraints/ Convenience, Calculation und Collective Responsibility. Mit dem Vertrauen (Confidence) in die Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe steigt die Wahrscheinlichkeit einer hohen Impfquote, so Denkel Das Maß der individuellen aktiven Informationssuche (Calculation) darf ebenfalls nicht vernachlässigt werden. Doch Personen, die sich über die Masernimpfung informieren wollen, sehen sich mit einer Fülle von Informationsangeboten konfrontiert. Darunter die seriösen von den nicht seriösen zu unterscheiden, ist nicht immer leicht. Folglich verfügen Personen mit hohen Calculation-Werten laut Denkel häufig "über mehr Falschwissen und eine geringere Impfbereitschaft." Nicht zuletzt spielt auch das Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft (Collective Responsibility) eine wichtige Rolle. Schließlich darf sich nicht jeder mit dem Lebendimpfstoff impfen lassen. Kontraindiziert ist er beispielsweise für Schwangere und Personen mit bestimmten Immundefiziten. Aber auch für Kinder unter neun Monaten ist die Impfung nicht empfohlen. Diese vulnerable Gruppe ist auf den Gemeinschaftsschutz angewiesen. Mit Blick auf die weltweit steigenden Masernzahlen und die vielfältigen Ursachen fordern Denkel und ihre Kolleginnen dringend geeignete Gegenmaßnahmen. "Denn das Ziel einer dauerhaften Masernelimination bleibt selbst in einkommensstarken Ländern mit sehr guten Routineimpfungsprogrammen durch Veränderung der Impf-Compliance, anhaltende Transmission in benachbarten Regionen sowie geringe Impfquoten in einigen Subpopulationen eine ständige Herausforderung." In Deutschland hat man auf die steigenden Masernzahlen reagiert und das Infektionsschutzgesetz zum 1. An der Kinderklinik mit Schwerpunkt Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin der Charité Berlin überprüft man im Rahmen einer multizentrischen prospektiven Beobachtungsstudie "WIN -Wann impfen nach IVIG?", ob die Lebendvakzine bereits schon nach vier bis sechs Monaten wirksam ist. Denn "diese Frage ist nicht nur für die wenigen noch ungeimpften Kinder mit Zustand nach IVIG-Gabe wegen einer Masernexposition relevant, sondern auch für die Kinder, die IVIG aus immun modulatorischen Indikationen vor dem Zeitpunkt der ersten MMR(V)-Impfung erhalten haben", wie der Klinikleiter Professor Horst von Bernutz in der Monatszeitschrift Kinderheilkunde erklärte. Die globale Masernkrise -Ursachenvielfalt von bewaffneten Konflikten bis Impfskepsis Weltweit zunehmende Masernfälle sind auch für Deutschland relevant Infektionsschutzrecht nach Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes Was schützt bei Masernausbruch? Wie schützen wir Säuglinge vor Masern?