key: cord-0066568-ty5jn5ft authors: Benzinger, Petra; Eidam, Annette; Bauer, Jürgen M. title: Klinische Bedeutung und Erfassung von Frailty date: 2021-08-09 journal: Basiskurs Geriatrie DOI: 10.1007/s40407-021-00012-z sha: a8abedce7041d96d380a450f6a0c22b1a92d0b04 doc_id: 66568 cord_uid: ty5jn5ft nan Nach Bearbeitung dieses Kurses ... sind Ihnen die beiden wichtigsten Frailty-Konzepte bekannt, können Sie den Nutzen der Identifikation von Patient*innen mit Frailty einschätzen, kennen Sie verschiedene Instrumente zur Erfassung von Frailty, sind Sie in der Lage, für verschiedene klinische Einsatzgebiete ein geeignetes Frailty-Instrument auszuwählen. Der medizinisch-wissenschaftliche Begriff "Frailty" beschreibt ein multidimensionales geriatrisches Syndrom, das gekennzeichnet ist durch: den Verlust von individuellen Reserven, eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber internen und externen belastenden Einflussfaktoren [1] . Frailty entspricht demnach nicht der deutschen Übersetzung "Gebrechlichkeit", die durch körperliche Schwäche, geringe Belastbarkeit, Hinfälligkeit und Fragilität charakterisiert ist. Frailty kann auch in Abwesenheit von Multimorbidität und Behinderung auftreten und als reines Altersphänomen verstanden werden. Es stellt damit den Versuch dar, das biologische Alter einer Person zu erfassen. Frailty ist nicht mit dem Vorliegen von Behinderung gleichzusetzen. Verschiedene Einflussfaktoren begünstigen die Entwicklung einer Frailty (Abb. 1). Dabei spielen individuelle Lebensstilfaktoren wie Ernährung, Bewegungsverhalten und Genussmittelkonsum eine wesentliche Rolle. In späteren Lebensjahren wird die Entwicklung einer Frailty durch individuelle Begleiterkrankungen akzentuiert. Ältere Menschen mit Frailty weisen ein erhöhtes Risiko für Stürze, Krankenhaus-und Pflegeheimaufnahmen sowie eine erhöhte Mortalität auf [2, 3] . Daher ist das Erkennen von Frailty von prognostischer Relevanz und ermöglicht die Identifikation von älteren Personen, die einer weiteren diagnostischen Abklärung zugeführt werden sollten. Was denken Sie? Die Erfassung von Frailty 1 ... sollte nur dann erfolgen, wenn Patient*innen geriatrisch mitbetreut werden können. kann ein umfassendes geriatrisches Assessment ersetzen. kann Therapieentscheidungen beeinflussen. Trotz der wachsenden Bedeutung von Frailty in Klinik und Forschung besteht bisher noch kein internationaler Konsens hinsichtlich einer einheitlichen Definition und Erfassung [2] . Das derzeit am weitesten verbreitete Konzept stammt von Fried et al. [4, 5] und beschreibt den sog. physischen Frailty-Phänotyp ("physical phenotype of frailty"). Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass Frailty als Folge einer Dysregulation in mehreren physiologischen Regelkreisen entsteht, u. a. in folgenden Bereichen [5] : [6] ). Rockwood und Mitnitski entwickelten einen Ansatz, bei dem Frailty als eine Akkumulation von Defiziten aufgefasst wird [7] . In einem sog. Frailty-Index wird eine große Zahl (in der ersten Version 70) von geriatrischen Syndromen, funktionellen Einschränkungen und sozialen Defiziten erfasst und in einem Score zusammengeführt [8] . Der Frailty-Index nach Rockwood und Mitnitski ist daher im Vergleich zu den Fried-Kriterien wesentlich umfassender angelegt und beschränkt sich nicht auf die Erfassung funktioneller Aspekte aus den Bereichen Kraft, Mobilität und Aktivität. Er wurde wiederholt adaptiert [4, 9] . Dabei werden Informationen des geriatrischen Assessments berücksichtigt. In den letzten Jahren wurden zahlreiche weitere Frailty-Konzepte veröffentlicht. Frailty entwickelt sich über längere Zeiträume, wobei die individuellen Verläufe sehr unterschiedlich sein können und z. B. durch aktuelle oder chronische Erkrankungen beschleunigt werden [10] . Das Vollbild der Frailty ist als Endpunkt eines dynamischen Kontinuums zu betrachten, an dessen Anfang die funktionelle Unversehrtheit steht und dessen Verlauf als prinzipiell reversibel betrachtet werden kann. Allerdings ist eine Verschlechterung des Frailty-Grades wesentlich häufiger zu beobachten als eine Verbesserung. Zwischen "non-frail" ("robust") und "frail" steht der Übergangsbereich des "pre-frail" [11] . Frailty gefährdet Selbstständigkeit, Teilhabe und Lebensqualität im Alter, begünstigt das Auftreten von sozialer Isolation und führt häufig zu Hilfs-und Pflegebedürftigkeit [1] . Instrumente zur Erfassung von Frailty kommen sowohl in der klinischen Routine als auch im wissenschaftlichen Kontext zur Anwendung. Zahlreiche Studien analysierten die Vorhersagekraft von Frailty-Instrumenten für Outcomes wie funktionellen Abbau, Krankenhauseinweisungen, Pflegebedürftigkeit und Mortalität in verschiedenen Populationen. Die Ermittlung des Frailty-Status diente der Identifikation von Risikogruppen unter älteren Patient*innen, unabhängig von einem definierten Behandlungsanlass. So erlaubt der Frailty-Status bei vorliegender COVID-19-Erkrankung valide Aussagen zum zu erwartenden Verlauf [12] . Frailty als Merkmal, das Diagnose-und Therapieentscheidungen unterstützt Verfahren zum Erkennen von Frailty werden auch in zahlreichen Fächern außerhalb der Geriatrie bereits eingesetzt und leisten dort einen Beitrag zur individuellen Nutzen-Risiko-Bewertung. Derzeit wird nach möglichst einfachen Instrumenten gesucht, die von nichtgeriatrischem Fachpersonal oder via Selbstauskunft angewandt werden können und die eine statistische Vorhersage über den Behandlungserfolg ermöglichen. Aktuelles Beispiel ist die Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv-und Notfallmedizin (DIVI), im Fall einer Ressourcenknappheit im Kontext der COVID-19-Pandemie Frailty als eines der Kriterien heranzuziehen, um über die Ressourcen-Allokation zu entscheiden [13] . Gewichtsverlust: "Innerhalb des letzten Jahres, haben Sie ungewollt mehr als 4,5 kg abgenommen (z. B. nicht durch eine Diät oder Training)?" Körperliche Aktivität: "Haben Sie diese Aktivitäten innerhalb der letzten 2 Wochen ausgeführt?" Erschöpfung: "Während der letzten Woche... von Interventionen Hinweise auf eine Wirksamkeit vorliegen, die Datenlage aber noch nicht befriedigend ist [15] . Am schlüssigsten ist die gegenwärtige Evidenz für den Nutzen eines körperlichen Trainings sowie für die Kombination von Training plus proteinreicher Ernährung. Dies gilt sowohl für die Prävention als auch für die Therapie einer Frailty. Es gibt viele unterschiedliche Instrumente zur Erfassung von Frailty [9] . Für den Einsatz im ambulanten und/oder stationären Kontext ist vor allem die pragmatische Anwendbarkeit von entscheidender Bedeutung. Nur wenige Instrumente liegen bisher in einer deutschsprachigen Version vor. Auf diese konzentrieren sich die folgenden Ausführungen. Die FRAIL Scale ("fatigue, resistance, ambulation, illness and loss of weight") wurde von der International Academy of Nutrition and Aging mit dem Ziel vorgeschlagen, Frailty mithilfe von Selbstauskünften und ohne klinische Untersuchung identifizieren zu können [21] . Vier der 5 Fragen sind den Fried-Kriterien entlehnt. Ergänzend wird Multimorbidität anhand von 11 vorgegebenen Erkrankungen erfasst. Höhere Punktewerte in der FRAIL Scale sind mit einem ungünstigeren Verlauf assoziiert (Abb. 4). Die FRAIL Scale kann über Selbstauskunft oder durch Fremdbeurteilung erhoben werden. Dieses Instrument wurde für selbst-ständiglebendeälterePersonenentwickelt, findetaber zunehmend auch im klinischen Kontext Anwendung. In Anlehnung an das Konzept der Defizitakkumulation liegen eine Reihe weiterer Erhebungsinstrumente vor, die auf Selbstauskünften beruhen und neben physischen Parametern auch emotionale, kognitive und soziale Aspekte berücksichtigen. Exemplarisch soll der Groningen Frailty Indicator (GFI) genannt sein. Der GFI ist ein aus 15 Fragen zusammengesetztes Instrument (Tab. 1). Abgedeckt werden 4 Domänen der Funktionalität, wobei neben physischen und kognitiven Einschränkungen auch psychosoziale Aspekte Berücksichtigung finden. Die 15 Einzel-Items werden dichotom bewertet. Ab einem Gesamtscore ≥ 4 wird von einer moderaten Frailty gesprochen [6] . Machbarkeit, Reliabilität und Konstruktvalidität des GFI wurden sowohl im häuslichen Umfeld als auch in einer Pflegeeinrichtung geprüft [22] . Dabei ist die Sensitivität akzeptabel, die Spezifität jedoch gering [23] . Daher eignet sich dieses Instrument vor allem zum "case finding", um ein ausführliches geriatrisches Assessment anzuschließen. Die meisten medizinischen Fachrichtungen sind mit einer wachsenden Anzahl älterer Patient*innen konfrontiert, die neben verschiedenen Begleiterkrankungen motorische und kognitive Einschränkungen aufweisen. Diese Komplexität hat das Interesse am Frailty-Konzept auch außerhalb der Geriatrie geweckt. So steigt in der Onkologie die Zahl betagter und multimorbider Patient*innen rasch an. Dabei erlaubt das chronologische Alter nur bedingt verlässliche Prognosen zu Nutzen und Verträglichkeit therapeutischer Optionen. Daher möchten Onkolog*innen jene Patient*innen identifizieren, die aufgrund einer Frailty ein erhöhtes Risiko für einen ungünstigen Krankheits-und Behandlungsverlauf aufweisen [24] . Zu diesem Zweck werden mehrere Screening-Instrumente verwendet [25] . Spezifisch für den Einsatz in der Onkologie wurde der "Geriatric 8 frailty questionnaire for oncology" (G8) entwickelt (Tab. 2; [26] ). Ab einem Wert kleiner als 15 Punkte ist von einer erhöhten Vulnerabilität auszugehen und sollte eine geriatrische Mitbeurteilung erwogen werden. Durch ein Frailty-Instrument können einerseits Therapieentscheidungen beeinflusst und andererseits jene Patient*innen identifiziert werden, die von einer geriatrischen Mitbeurteilung und ggf. Mitbetreuung profitieren. Hieraus kann sich für einen Teil dieser Patient*innen die Chance ergeben, durch eine geriatrische Prehabilitation die Verträglichkeit intensiver Therapieschemata zu verbessern und Risikofaktoren für einen ungünstigen Therapieverlauf zu minimieren [28] . Frailty: Implications for clinical practice and public health Frailty consensus: a call to action Frailty: an emerging public health priority Frailty assessment instruments: systematic charcterization of the uses and contexts of highly-cited instruments Frailty in older adults: evidence for a phenotype German translation, cross-cultural adaptation and diagnostic test accuracy of three frailty screening tools: PRISMA-7, FRAIL scale and Groningen Frailty Indicator Frailty in relation to the accumulation of deficits Frailty as a prognostic indicator in intensive care Instruments for the detection of frailty syndrome in older adults: a systematic review Development and validation of an electronic frailty index using routine primary care electronic health record data Transitions between frailty states among community-living older persons Clinical frailty scale and mortality in COVID-19: A sytematic review and dose-response meta-analysis Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) et al (2020) Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der Using the clinical frail scale in allocating scarce health care resources Management of frailty: opportunities, challenges, and future directions Diagnostic test accuracy of simple instruments for identifying frailty in community-dwelling older people: a systematic review Gait speed and survival in older adults A global clinical measure of fitness and frailty in elderly people A scoping review of the Clinical Frailty Scale Zugegriffen: 26 A simple frailty questionnaire (FRAIL) predicts outcomes in middle aged African Americans Measurement properties of theGroningen frailty indicator in home-dwelling and institutionalized elderly people The predicitive validity of three self-report screening instruments for identifying frail older people in the community Geriatrische Onkologie Screening tools for multidimensional health problems warranting a geriatric assessment in older cancer patients: an update on SIOGrecommendations A systematic review on the association of the G8 with geriatric assessment, prognosis and course of treatment in older patients with cancer Geriatrische Onkologie