key: cord-0064255-yulu3k8b authors: Lenz, Hans-J. title: Achtung.Datentrickserei: Abrechnungsbetrug in der Gastronomie – Süßer die Kassen so klingen date: 2021-06-10 journal: Informatik Spektrum DOI: 10.1007/s00287-021-01368-6 sha: 5fa880c0eeeabfa3bb4668dc990da6807135e4b3 doc_id: 64255 cord_uid: yulu3k8b nan Manchmal ist es gar nicht so falsch, sich wie in dem Film "Die Feuerzangenbowle" von 1944 ein wenig dumm zu stellen und aus dieser Perspektive heraus Dinge des alltäglichen Lebens zu betrachten. Tun wir das einmal, wie es Lehrer Professor Bömmel in dem obigen Film seinen Schülern empfahl, und betrachten wir den Besuch einer Gaststätte als Einstieg in das breite Thema Abrechnungsbetrug. Nach dem Genuss von Speisen und Getränken besteht in Restaurants bekanntlich die Pflicht, die Leistung zu bezahlen. Sie ist vor Ort und sofort fällig, damit die Kasse klingelt -wortwörtlich bei Barzahlung [1] . Bei der Vielzahl der Gaststätten, die deutschlandweit existieren und ehrlich abrechnen sowie angesichts der vielen Restaurantbesuche, die die große Mehrzahl der Gäste als unauffällig in Erinnerung hat, scheint das obige Geschehen an den Haaren herbeigezogen und letztlich vernachlässigbar zu sein. Dem ist nicht so, wie sich nicht nur in Berlin zeigte. In dem gleichermaßen bei Einheimischen und Touristen beliebten Kiez rund um den Savignyplatz in Berlin -Teil der City West -setzte ab 2018 in kurzer Zeit ein fast synchrones, Dritten unerklärliches "Restaurantsterben" ein, obwohl diese Betriebe abends bestens besucht waren -lange noch vor der Schließung wegen der COVID-19-Pandemie. Die Restaurants hatten von innen Schilder mit dem Vermerk an die Eingangstür geklebt, dass nach "Renovierung" wieder geöffnet werde. Was war geschehen? Der Grund war simpel: Eben jene Gastronomen sind bei unerwarteten und unangekündigten Schwerpunktkontrollen der Berliner Finanzbehörde erwischt worden [2] . 2019 gab es in Berlin rund 15.000 Gastronomiebetriebe, von denen nach Angaben des Berliner Finanzsenators nur 3,5 % kontrolliert wurden. Wie Der Tagesspiegel [2] berichtete, brachten Betriebsprüfungen in 2019 von 1535 Berliner Gastronomiebetrieben dem Berliner Fiskus Mehreinnahmen von satten 40,6 Mio. C, wobei allein 5,5 Mio. C auf nur zehn Betriebe entfielen. Wie die Finanzbehörde weiter berichtete, wurden 62 Straf-oder Bußgeldverfahren eingeleitet, etliche begleitet von einstweiligen Betriebsschließungen. Der ehemalige Finanzminister von NRW, Norbert Walter-Borjahns, bezifferte den Gesamtschaden des Mehrwertsteuerbetrugs in 2016, verursacht durch manipulierte Registrier-K kassen bei Geschäften und Gaststätten, deutschlandweit auf 5-10 Mrd. C [3] . Der Berliner Senat setzte sich zum Ziel, ab 2019 die bisherige Prüfquote von 3,5 % mehr als zu verdoppeln und baute flankierend auf eine so genannte Kassennachschau, die nunmehr seit 2018 möglich ist. Sie umfasst nichts anderes als die Buchungssätze auf Ordnungsmäßigkeit des Geschäftsablaufs online zu überprüfen. Weiteres regelt die Kassensicherungsordnung von 2020. Diese zwingt Geschäfte und Restaurants darüber hinaus, Bons unaufgefordert auszuhändigen, Registrierkassen durch eine zertifizierte Sicherheitseinrichtung zu schützen, um simples Löschen von Umsätzen oder andere Datenmanipulationen zu verhindern. Weiterhin gilt, dass ab 2010 gekaufte Kassen, die sich baubedingt bis 2020 nicht nachrüsten lassen, ab 2022 außer Betrieb zu stellen sind. Der Umstellungsaufwand für die Gewerbetreibenden ist, wie sich denken lässt, erheblich und kann nicht aus der Portokasse, geschweige denn aus einer schwarzen Kasse, bezahlt werden. Die Bundesregierung beziffert den Aufwand auf einmalig etwa 1,6 Mrd. C [3] . Zurückblickend lässt sich festhalten, dass für den Kladderadatsch in Berlin nicht nur betrügerische Wirte mit einem Geschäftsmodell verantwortlich waren, das auf schwarzen Kassen, Schwarzgeld, Schwarzarbeit und Umsatzsteuerbetrug basierte, sondern in nicht unerheblichem Maße auch die Finanzbehörden selbst. Sie prüften über Jahre hinweg kaum oder lax, insbesondere wegen zu knapper Personalausstattung bei den Betriebsprüfern. Die Abschmelzung der Personaldecke im öffentlichen Dienst war seit der Wende erklärte Politik des ehemaligen Finanzsenators Sarrazin und der Senatskanzlei. Derartige Unstimmigkeiten bei Abrechnungen in der Gastronomie sind typisch für deutsche Großstädte. Zu deren Bekämpfung liefern die Fachgebiete Controlling, Revision und Compliance die methodischen und organisatorischen Grundlagen. Kommen erste Zweifel an einem ordnungsgemäßen Ablauf der Geschäftsprozesse auf, gibt es bereits Auffälligkeiten oder wird gar Veruntreuung und Unterschlagung vermutet, so ist angezeigt, "forensische Datenanalytik" zu starten, die vorweg Plausibilitätsberechnungen -auch Alternativoder Fermi-Abschätzungen genannt -durchführt [4] . Dieser modellbezogene Ansatz basiert generell gesehen auf Vergleichs-oder Kennwerten, die aus Längsschnitt-oder Querschnittsdaten oder beiden in gepoolter Form berechnet werden können. Sie liefert jedoch nur Indizien, keine gerichtsfesten Beweise. Denn die betrieblichen Daten sind unvollständig und widersprüchlich, und die Analyseergebnisse gehen zwangsläufig mit Unschärfe und Unsicherheit der Abschätzungen einher. Die vorangehende Datenanalyse gibt allerdings gezielte Hinweise, welche Daten Auffälligkeiten zeigen und welche Geschäftsbereiche möglicherweise betroffen sind. So kann anschließend eine detaillierte Prüfung der Daten, also der Aktenvermerke, Lieferscheine, Buchungen, Telefonaufzeichnungen, Mails und sonstiger Belege, aus betriebswirtschaftlicher und juristischer Sicht erfolgen. Diese Zwei-Phasen-Vorgehensweise ist weniger aufwendig als eine reine Aktenprüfung von Anfang an. Im betrachteten Kontext wird methodisch so vorgegangen, dass die Anzahl der Gäste oder die monatlichen Essenund Getränkebestellungen (E) einer Gastronomie über Betriebe mit vergleichbarer Größe, Kategorie und Lage in ähnlicher Jahreszeit abgeschätzt werden. Der zugehörige Preisvektor (p) kann beispielsweise der aktuellen Speisekarte entnommen werden. Im Modell Û = Ep symbolisiert Û den Schätzer oder Vergleichswert des Umsatzes. Überwiegend wird in der Praxis ein deterministisches Modell genutzt, wobei E, p fest vorgegeben sind. Sind diese Größen unscharf, lassen sich stochastische oder Fuzzy-Set-Ansätze verwenden [4, 5, 7] . Dann tritt zum Vergleichswert ein Unschärfebereich ±u hinzu, der von einer gewählten Konfidenz 1 -α abhängt, beispielsweise 1 -α = 99 %. Der Vergleichsumsatz wird mit dem Istwert des Umsatzes (U) abgeglichen, um zu prüfen, ob dieser möglicherweise zu klein ausgewiesen ist, d. h. U < Û. Denn ein betrügerischer Wirt verkleinert seinen Umsatz um die Schwarzgeschäfte. Zusätzliche Einsicht in ein illegales Geschäftsgebaren vermittelt die Kostenanalyse, die einen ähnliche Modellansatz nutzt. Hier wird die Anzahl der Essensbestellungen sowie der bestellten Getränke (E) wie oben geschildert vorgegeben. Die Frage ist dann nur noch, welcher Verbrauch bzw. welche Kosten dazu betrieblich zwingend nötig sind. Dafür müssen Herstellkostensatz (h) je Gericht und der Einkaufspreis (e) je Getränkeart ermittelt werden. Folglich erhält man als geschätzte Kosten b K = Eh + Ge. Die Abweichung der geschätzten von den Istkosten (K) gibt Aufschluss über mögliche Irregularitäten im Betrieb. Hier ist eine Fallunterscheidung angebracht. Besteht der Verdacht auf nicht abgerechnete Bewirtungen und "downsized" der betrügerische Wirt nicht proportional seine Kosten, sondern streicht beispielsweise teure Wein-und Wildbestellungen für private Zwecke als Schwarzgeldanlage ein -Privatverbrauch als Betriebsausgaben handels-und steuerlich zu deklarieren ist in Betrüger Kreisen gang und gäbe -dann sollte K = K -b K groß ausfallen. In einem solchen Fall schließt sich der Dateneine Kausalanalyse an. Sie muss dem Wirt Abrechnungsbetrug bei Kosten und Umsatz anhand aufwendiger Prüfung der Geschäftsunterlagen betriebswirtschaftlich und juristisch gesichert nachweisen. Gelingt dies nicht, ist der Restaurantbetreiber soweit gesehen entlastet. Es gibt Fälle, wo die betrieblichen Daten im Gesamtzusammenhang vorschriftenkonform erscheinen, der Prüfer jedoch intuitiv Datenmanipulationen vermutet. Hierüber berichtet F. Wehrheim, ein ehemaliger deutscher Steuerfahnder, in ausgesprochen unterhaltsamer Form [6] . Die hessische Steuerfahndung setzte eine Fahndungsgruppe ein, die ein ins Visier genommenen China-Restaurant, das man ver-dächtigte, aber dem man nichts nachweisen konnte, über einen längeren Zeitraum per Video aus einem gegenüberliegenden Haus beobachtete. Über die Anzahl der überraschend vielen am Eingang erfassten Gäste wurde auf die Anzahl an Bestellungen geschlossen und mittels der ausgewiesenen Preise auf den Gesamtumsatz hochgerechnet. Dabei hat es die Steuerfahndung einfach; denn ihre Festsetzungen werden von den Gerichten eo ipso akzeptiert. Am Rande sei angemerkt, dass die obigen modellgestützten Plausibilitätsberechnungen auch in der Großindustrie anwendbar sind, um Unwirtschaftlichkeiten oder Diebstahl in den unterschiedlichen Bereichen aufzudecken oder die Produktionsplanung zu unterstützen, Sollwerte zu berechnen. Eine solche analytische Prüfung startet mit aggregierten Größen und führt die Kosten-und Leistungsrechnung zusammen. Dabei stellen Stücklisten einerseits oder Bayessche Netzwerke andererseits die entscheidenden Methoden dar, um den periodenbezogenen Verbrauch an Rohstoffen und Halbfertigfabrikaten sowie den Einsatz von Arbeitsstunden zur Herstellung von Enderzeugnissen mit ihren oft millionenfachen Varianten strukturell und mengenmäßig zu erfassen [4, 5, 7] . Abschließend rufen wir dem Leser den Spruch eines unbekannten Verfassers in Erinnerung, den wir alle angesichts des Risikos, selbst übers Ohr gehauen zu werden, beherzigen sollten: "If a man defrauds you one time, he is a rascal; if he does it twice, you are a fool". Steuerfahnder sind ihr Geld wert. Der Tagesspiegel, 9 Gegen Steuerbetrug an Registrierkassen Business intelligence Graphical models for industrial planning on complex domains Wissensbasiertes Controlling von Fertigungseinzelkosten