key: cord-0063678-ciewasss authors: Zimmermann, Roland; Zimmermann, Ina; Bornschlegl, Philipp; Günther, Katja title: Wellenreiten im Gesundheitsamt – Digitaler Wandel im Corona-Containment date: 2021-05-25 journal: HMD DOI: 10.1365/s40702-021-00735-x sha: 4d54e85d50390d3cf0b6a1506467a23c53ce1486 doc_id: 63678 cord_uid: ciewasss Breaking “chains of infection” is the goal for the public health service during its pandemic response. This complex task requires digital support in local public health departments. Contrary to popular belief, software suitable for this purpose has been available in most cases since summer 2020 — albeit as non-standardized, local solutions. It is way more important for achieving the goal to define the right division of labor and the appropriate processes, as well as to implement close controlling of contact management. Only then can personnel be additionally deployed in the public health departments on relative short notice depending on the pandemic situation. This field report uses a case study from the city of Nuremberg’s Health Department to show how process organization, IT and controlling should be coordinated. These findings will also help during the upcoming connection of the federally structured health offices in Germany via a central solution (SORMAS). This is because the mere political specification of central solutions does not lead to their effective usability: Again, the tight relationship between software and organization must be taken into account. Abb. 1 Entwicklung der Indexzahlen in Deutschland und Organisationsbereiche des Gesundheitsamtes der Stadt Nürnberg. Eigene Darstellung, im Hintergrund: "Daily new confirmed Covid-19 cases per million people" basierend auf https://ourworldindata.org/coronavirus-data-explorer 7-Tages-Inzidenz) und die daraus resultierende Auslastung von Krankenhäusern und die Zahl verstorbener Patient*innen 1 . Abb. 1 zeigt den Verlauf der neu gemeldeten Covid19-Fälle für Deutschland seit März 2020. Die obere Grafik vermittelt auf einer linearen Skala die absolute Anzahl der Index-Fälle (IDX). Ab Mitte April 2021 ist ein Szenario-Trichter für den zukünftigen Verlauf angedeutet. Die logarithmische Skala darunter zeigt in einer verzerrungsfreien Form die relativen Änderungen der neuen Index-Fälle. Damit wird deutlich, dass sich bereits ab Juli bis September ein "versteckter" Anstieg ergab, der ab Ende September auf einen steileren Wachstumspfad (exponentielles Wachstum) wechselte und damit zur 2. Welle führte. Dem Containment-Prinzip liegt ein einheitlicher Prozess zugrunde, der den rund 400 lokalen Gesundheitsämtern in Deutschland vorgegeben ist: Sie haben die zentrale Aufgabe, vor Ort das Infektionsgeschehen zu beherrschen und dabei ihren Vorteil durch das Wissen über lokale Gegebenheiten im Sinne der Subsidiarität auszuspielen (Economist 2020). Alle positiven PCR-Tests auf SARS-CoV-2-Virus werden automatisch an das zuständige Gesundheitsamt gemeldet und daraufhin wird ein Prozess in Gang gesetzt, der grob dem folgenden Schema folgt (RKI 2020, 2021c): a Indexperson (= positiv getestete Person) wird in Quarantäne gesetzt b Befragung der Indexperson hinsichtlich ihrer Kontakte mit anderen Personen in der Zeit bis ca. zwei Tage vor Symptombeginn c diese Kontaktpersonen werden je nach Kontaktintensität in enge Kontakte (KP-I) oder weitere Kontakte (KP-II) klassifiziert d Indexpersonen und KP-I-Kontakte werden durch das Gesundheitsamt für ca. 14 Tage in Quarantäne gesetzt und täglich kontaktiert, ggf. auf Sars-CoV-2 getestet und erst aus der Quarantäne entlassen, wenn eine Corona-Infektion ausgeschlossen werden kann. Ziel des Prozesses ist es, die Infektionsketten zu unterbrechen und so dem Virus die Ausbreitungsgrundlage zu entziehen. Die Effektivität dieses Ansatzes ist hinlänglich bekannt, wird in asiatischen Staaten wie Singapur (Vaswani 2020) und Taiwan noch viel intensiver betrieben, wurde aber in anderen Ländern lange nicht genutzt und zuletzt erst aufgegriffen, so z. B. in den USA (New York (Associated Press 2020), Kalifornien (Becker 2020) ca. seit Mai 2020). Die verschiedenen Phasen der Pandemie sind in Abb. 1 in Relation gesetzt zu drei Aktivitätsbereichen des Nürnberger Gesundheitsamtes: dem Containmentprozess, dem Personal im Corona-Einsatz und der Softwareunterstützung für das Containment. Entsprechend strukturiert sich der Erfahrungsbericht anhand der Phasen der Pandemie, die den Lebenszyklus für das Containment-Konzept maßgeblich beeinflussen. Im folgenden Artikel hat insbesondere das "versteckte Wachstum" in der Phase des "2. Anstiegs" eine große Bedeutung: Dieses Wachstum wurde im Gesundheitsamt Nürnberg durchaus wahrgenommen. Zeitgleich schrumpfte die Personalausstattung in diesem Zeitraum, so dass es zu einer Überlastsituation kam. Dies, obwohl die absolute Zahl an Index-Fällen noch auf niedrigem Niveau war (Inzidenzwerte deutlich unter 35). Dies führte in der Folge zu einer gravierenden Reorganisation (vgl. dazu die jeweiligen Abschnitte). In der ersten Corona-Welle Ende März und Anfang April war deutschlandweit eine dezentrale, spontane, extrem agile "Digitalisierungsflut" im öffentlichen Bereich zu beobachten, die sehr wirkungsvoll für die Beherrschung dieser Phase gewesen sein dürfte: Das Containment von Corona-Infizierten und die intensive Betreuung von Kontaktpersonen durch die Gesundheitsämter nahm rasch einen solchen Umfang an, dass eine Unterstützung für Dokumentation und Organisation durch dafür geeignete IT-Systeme nötig wurde, z. B. (Hamburg 2020) , (Köln 2020) , (Gernhardt 2020) . Die Kontaktnachverfolgung betrieben Gesundheitsämter bundesweit zunächst mit "Excel und (Metaplan-)Papier": Tatsächlich waren diese Aufgaben nicht neu für die Gesundheitsämter und im Rahmen von anderen Infektions-Ausbrüchen erprobt. Allerdings waren die Prozesse, Strukturen und IT-Systeme nicht auf die Erfordernisse einer Pandemie ausgelegt, so dass auch von den zuständigen Ministerien oftmals nur Tabellenkalkulations-Vorlagen bereitgestellt wurden, mit deren Hilfe die Kontakte von Corona-Patienten erfasst, betreut und ausgezählt werden sollten. Ein solcher Ansatz ist nicht skalierbar: Bei 10 Index-Fällen mit jeweils 10 bis 30 Kontaktpersonen ist die Ablage in separaten Excel-Dateien noch nachvollziehbar. Wenn täglich 10 oder gar 100 weitere Index-Fälle dazukommen und ein gleichzeitiger Zugriff auf die Excel-Dateien durch viele Personen nötig wird, ist ein anderes "System" nötig. Dem Ansturm des exponentiell sich ausbreitenden Virus ab März 2020 hielt diese "leicht-digitale Unterstützung" daher nicht stand. In vielen Städten wurde rasch erkannt, dass nur mit skalierbaren, digitalen Lösungen die rasant wachsende Menge an Personen zu bewältigen sein würde, die in Quarantäne zu setzen, täglich zu kontaktieren und bei Bedarf auf Corona zu testen wären. In Zeiträumen, die im Normalfall nicht einmal zur Definition von Anforderungskatalogen genügen, wurden in zahlreichen deutschen Städten neue Kontaktmanagement-Systeme implementiert und ohne lange Testphasen kurzfristig erfolgreich von den Gesundheitsämtern in Betrieb genommen. Bekannte Beispiele sind: Hamburg (Hamburg 2020), Köln (Köln 2020) , München (Gernhard 2020), Nürnberg (Günther et al. 2020 Die neuen Indexfälle werden seit Januar 2021 automatisch durch DEMIS übermittelt, vorher kamen die Befunde von Laboren direkt beim Gesundheitsamt an (elektronisch + Fax). Ein Export aus dem Meldesystem Äskulab21 liefert regelmäßig neue Index-Fälle an das Nürnberger CCM-Informationssystem. Das CCM zur Verwaltung und Bearbeitung aller Nürnberger Covid-19-Fälle und -Kontaktpersonen gliedert sich in drei Bereiche für Experten, für ein Call-Center und für Bürger*innen (Self-Service). Wird ein positiver Fall an das Gesundheitsamt gemeldet, bekommt diese Person eine Identifikationsnummer und wird im Informationssystem angelegt. Die weitere Bearbeitung übernahmen in der ersten Welle die zuständigen Ärzt*innen und Expert*innen. Persönliche und medizinische Daten der Person wurden erfragt sowie jene Personen, die mit der Person in den letzten Tagen in Kontakt waren. Die Fallbearbeiter*innen sprachen mündlich die häusliche Absonderung für den positiven Fall sowie für die Kontaktpersonen aus und übertrugen die Daten in das Informationssystem. Die Betroffene Personen von SARS-CoV-2 können auch selbstständig den Kontakt zum Gesundheitsamt halten. Sind sie im System aufgenommen, so bekommen sie eine Identifikationsnummer während der Quarantänezeit und können täglich über ein E-Formular Daten zu ihrem Gesundheitszustand digital senden. Diesen Service nutzen rund 20 % der aktiv zu überwachenden Personen. Die Informationen werden automatisch im CCM-System verbucht. Meldet sich eine Person nicht täglich oder entwickelt eine Kontaktperson relevante Symptome, so erhalten die Fallbearbeiter*innen einen Hinweis und nehmen telefonisch Kontakt zur Person auf. Über ein weiteres Formular können Index-Personen zu Beginn ihrer Erkrankung die Kontaktpersonen systematisch aufführen, die vom Gesundheitsamt zu kontaktieren sind. Dadurch beschleunigt sich der Prozess, bis auch die Kontaktpersonen (KP I) erreicht und in Quarantäne gesetzt werden, so dass Infektionsketten schneller unterbrochen werden. Auf Basis der CCM-Datenbank konnte das Management der Pandemie-Aktivitäten durch das Gesundheitsamt bereits seit April detailliert kontrolliert und gesteuert werden (vgl. Abb. 4). So wurden alleine bis Ende Oktober mehr als 120.000 Telefonate geführt, in denen der tägliche Gesundheitszustand von Indexpersonen und ihren Kontaktpersonen in Nürnberg erhoben wurde. Dabei mussten über 55.000 Maßnahmen wie Tests, Quarantänen und Anordnungen erfasst und mehr als 30.000 ToDos bearbeitet werden. Zugleich lassen sich auf Basis der erfassten Kontaktdaten auch die zugehörigen Kontaktnetzwerke darstellen (vgl. rechts in der Abb. 4). So ist unschwer zu erkennen, dass im März pro Indexperson noch deutlich mehr Kontakte bestanden als im April, nachdem der Lock-Down seine Wirkung entfaltet hatte. Seit Mitte Juni 2020 ist die Corona-Warn-App verfügbar: Dezentral und anonym verspricht sie, Kontaktketten zu berücksichtigen, die andernfalls unentdeckt blieben: im Bus, beim Einkaufen, im Restaurant oder wo sich Menschen ansonsten anonym begegnen. Und gleichzeitig will sie die Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger*innen nicht einschränken -anders als dies bei zentralisierten Warn-Apps der Fall ist (Spiegel Netzwelt 2020 und Kluth 2020), deren Effektivität allerdings unbestritten ist. Dabei ist nicht zu übersehen, dass diese App erst nach dem Abebben K R. Zimmermann et al. Controlling der Aktivitäten (links, Stand 30.10.2020), Kontaktnetzwerke im Zeitverlauf (rechts) K der ersten Corona-Welle verfügbar war und somit eine Wirkung erst ab der zweiten Welle entfalten konnte. Die Corona-App erreicht -genügende Verbreitung vorausgesetzt -insbesondere die Kontakte, die von den Gesundheitsämtern nicht erreicht werden können, weil sie vollkommen anonym verlaufen sind (z. B. im Bus) und ergänzt damit das Kontaktmanagement der Gesundheitsämter. Konkret bedeutet das: Sobald jemand ein erhöhtes Risiko über die App gemeldet bekommt, soll die Person sich möglichst sofort in ihren Kontakten beschränken und bei einem Arzt oder direkt dem Gesundheitsamt melden. An diesem Punkt wird die Person also erstmals und freiwillig als eine spezielle Form von "Verdachtsperson" ggf. sichtbar, für die dann geklärt werden muss, wie stark der Verdacht tatsächlich begründet ist. Im Verlauf des Jahres 2020 hat die App mehrere Erweiterungen erfahren, so dass sie nun auch Ergebnisse eines Labortests auf Wunsch an die Nutzer*innen übermittelt und Nutzer*innen freiwillig ein Kontakttagebuch führen können, so dass sie im Falle einer Infektion sofort auskunftsfähig sind gegenüber ihrem Gesundheitsamt (RKI 2021a). Inzwischen wurde die App fast 27 Mio. mal installiert, was jedoch nicht ausreicht für ein flächendeckendes Netzwerk in Deutschland. Gründe für die begrenzte Nutzung sind vielfältig, z. T. fehlt manchen Nutzergruppen (insbesondere älteren Risikopersonen) die technische Fähigkeit, eine App auf ihrem Smartphone zu installieren (Uni Mannheim 2020). In der gleichen Studie zeigte sich jedoch auch, dass die generelle Bereitschaft zur Installation der App Ende 2020 unter 40 % lag. Dennoch werden täglich Infektionen über die App gemeldet und Kontaktpersonen über ihr Risiko informiert (RKI 2021b). Anhand der frühen individuellen Systeme aus Hamburg, Köln, München und Nürnberg wurden bereits im Juni 2020 zentrale Anforderungen an Containment-Systeme abgeleitet und mit Forderungen an eine zentralisierte Lösung verbunden (Günther et al. 2020) . Aus den öffentlich zugänglichen Unterlagen (Hamburg 2020; Köln 2020; Gernhardt 2020) wurden folgende zentrale Fachfunktionen abgeleitet: Neben der grundlegenden Kontaktdokumentation, die alle Angaben zu erkrankten Personen und ihren Kontaktpersonen umfasst, steht das Individuum mit seiner Quarantäne, täglichen Anamnesen und möglichen Testungen im Mittelpunkt. Ebenso müssen Institutionen wie z. B. Besonderheiten in Altenund Pflegeheimen, aber auch Gemeinschaftsunterkünften oder Organisationen der kritischen Infrastruktur abgebildet werden. Weitere Anforderungen kamen dann im Verlauf des Jahres 2020 hinzu, so z. B. der Umgang mit Reiserückkehrern und zuletzt die Integration von Mutationsvarianten des Virus oder die Dokumentation von Impfungen. Tatsächlich werden viele dieser fachlichen Anforderungen sowie die begleitenden IT-Anforderungen nach Standardisierung, Cloud-basiertem Hosting, Open-Source-Ansatz und Vernetzung der Gesundheitsämter mit der Softwarelösung SORMAS des Helmholtz-Institutes erfüllt (HZI 2020). Leider wurde diese Lösung erst im November 2020 als verbindlich für Deutschland von den Regierenden des Bundes und der Länder bestimmt (Bundesregierung 2020) . Insofern wurde in den Sommermonaten nach der ersten Welle lokal mit den etablierten Lösungen weitergearbeitet, die Prozesse wurden optimiert und zugleich konnte in vielen Fällen Personal wieder in seine eigentlichen Aufgabenbereiche zurückbeordert werden (s. unten). Unter diesen Umständen ist es naheliegend, dass keine freiwilligen Migrationen auf ein zentrales System erfolgten, zumal gar keine Festlegung für eine zentrale Variante existierte und von daher keine Orientierung geboten war, auf welche Lösung zu setzen es sich gelohnt hätte. So hat das Land Bayern zwar eine eigene landesspezifische Lösung (BaySIM) Ende April angekündigt (STMD 2020), die ab Juli 2020 verfügbar war und auf die 35 Gesundheitsämter in Bayern migriert sind (Bayerischer Landtag 2020). Aber die größten langfristigen Netzwerk-und Synergieeffekte für die Pandemiebekämpfung und auch die Weiterentwicklung einer Softwarelösung bietet naturgemäß eine bundeseinheitliche Lösung. Von daher ist der Entschluss der Ministerpräsidentenkonferenz von Mitte November 2020 konsequent -nur leider sehr spät. Rückblickend ist der Sommer 2020 ein ungenutztes Zeitfenster geblieben, das für eine Vereinheitlichung der digitalen Containment-Unterstützung hätte genutzt werden können. Im Frühjahr 2021 sieht dagegen die Pandemielage deutlich schlechter aus als noch im Sommer 2020 (vgl. Abb. 1) und es haben sich zudem sehr viel stärkere Lock-In-Effekte für bestehende Lösungen ergeben, so dass eine vollständige Migration von lokalen Containment-Lösungen nur noch mit sehr viel mehr Aufwand als noch im Sommer 2020 möglich ist. Dieser Mehraufwand steht zusätzlich im Konflikt mit der angespannteren Gesamtlage aus Inzidenzhöhen und neuen Mutationen im Frühjahr 2021. Ab Ende April 2020 gingen die Neuinfektionszahlen derart stark zurück, dass die Personalkapazitäten für das Containment nicht mehr in vollem Umfang benötigt wurden. Zugleich wurde Personal, dass abgeordnet worden war zur Containment-Unterstützung nun zu seinen Heimatstellen zurückgeholt; Überstunden und nichtgenommene Urlaubstage mussten reduziert werden. Abb. 5 verdeutlicht diesen Personalabbau am Fallbeispiel Nürnberg. Er erfolgte bei "externem" Personal, also allen Personen, die nicht originär im Gesundheitsamt tätig sind. Dagegen ist ersichtlich, dass es nur wenig Reduktion von internem Personal gab (rechte Seite), obwohl zunehmend auch wieder Regelaufgaben durch das Gesundheitsamt wahrgenommen werden mussten. Der Personalabbau setzte sich bis Juli fort und erst im August wurde wieder teilweise mehr Personal eingesetzt. Seit Oktober (letzte Spalte der linken Grafik) sind deutlich mehr Personen verfügbar. Allerdings ist deren tatsächliche Einsetzbarkeit zeitverzögert, da zunächst ein Anlernen stattfinden muss. Grund: Es handelt sich zu großen Teilen um Personen, die bislang nicht im Containment-Prozess eingesetzt wurden. Dies ist je Zeile an den leeren linksseitigen Spalten im Vergleich zu der ganz rechten Spalte ablesbar. Gründe sind Personalfluktuation und die eingeschränkte Wiederverfügbarkeit von freiwilligen Helfer*innen. Personalentwicklung April bis Oktober 2020, Fallbeispiel Nürnberg 4 Zweiter Anstieg -Krise der Fallteam-Struktur Bereits Ende September 2020 wurden im Gesundheitsamt Nürnberg Beobachtungen gemacht, die zeigen, dass die schleichende Steigerung der Indexfälle auf niedrigem Niveau in Gesundheitsämtern schon zu merklichen Problemen führen konnte: Voraussetzung für ein "Fließband-Prinzip" ist ein tiefes Prozessverständnis derjenigen, die den Gesamtprozess strukturieren, um eine adäquate Zerlegung in Teilprozessschritte definieren zu können. Dieses Prozesswissen war zu Beginn der Pandemie K vermutlich nirgendwo in Deutschland verfügbar, sondern die Erfahrungen wurden in allen Gesundheitsämtern, so auch in Nürnberg, erst in den Monaten seit März 2020 gemacht. Deshalb wird vermutet: Ein "Fließband-Prinzip" war in der ersten Welle mangels Erfahrungswissen kaum realistisch umsetzbar. Zudem bestand aufgrund der geringen Fallzahlen kein Handlungsdruck in der darauffolgenden Sommerzeit, denn ein "Werkstattprinzip" ist für geringe Mengen durch seine Flexibilität durchaus gut geeignet. Die Notwendigkeit zum "Fließband-Prinzip" zu wechseln, wurde erst mit dem drastischen Anstieg der Indexfälle seit Oktober 2020 greifbar, auch wenn sich durch die stärkere Spezialisierung der Fallteams die Belastungssituation für das Stammpersonal bereits über den Sommer verschlechterte. Bei vielen Indexfällen ist die "werkstattbasierte" Fallbearbeitung auch mit mehr Personal kaum noch zu bewältigen, denn das Anlernen neuen Personals dauert zu lange. Die Herausforderung dennoch massiv Personal aufzubauen, lässt sich wie folgt charakterisieren: Wenn die meisten der Gesundheitsämter vom Umfang des auf Infektionsbekämpfung spezialisierten Personals im Februar zumeist die Größe von kleinen Start-Ups hatten, so mussten innerhalb kürzester Zeit Strukturen entwickelt werden, die denen eines typischen mittelständischen Unternehmens mit oft mehreren hundert Mitarbeiter*innen entsprechen. Schon in monetär stark motivierenden Bereichen der Privatwirtschaft ein schwieriges Unterfangen, das nicht leichter wird, wenn das Ansinnen in den öffentlich-rechtlichen Bereich verlegt wird und viele der Mitarbeiter*innen nicht freiwillig, sondern qua Abordnung zum Dienst gesendet werden. Abb. 9 verdeutlicht den geänderten Containementprozess auf Basis sehr kleiner, klar definierter Prozess-Teilschritte. Für jeden Teilabschnitt ist ein eigenes Team verantwortlich, es gibt klar definierte Schnittstellen durch Meilensteine, die am Ende jedes Prozess-Teilschritts vergeben werden. Die Meilensteine sind von Anfang an in 10er-Schritte untergliedert worden, um bei Bedarf auch neue Teilschritte einfügen zu können. Der Prozess von AB-10 bis AB-99 stellt den Basisprozess für Bürger*innen dar. Ergänzend sind Prozessvarianten in ähnlicher Form für Sonderteams definiert worden, so z. B. für den Heimbereich oder auch Krankenhäuser (rechts in Abb. 9). Die Bildung dieser Sonderteams, welche für die Bearbeitung von Sonderfällen zuständig sind, ist aufgrund der fachlichen Komplexität der Fallbearbeitung in bestimmten Settings sinnvoll. Dieser Prozess wurde Ende Oktober inklusive dazugehöriger Team-Aufgabenbeschreibungen definiert, so dass ab Montag dem 26.10.2020 die Besetzung der Teams und die dann folgende Umorganisation gestartet wurde. Die Bearbeitung der Indexund Kontaktpersonen hat sich seitdem deutlich beschleunigt (vgl. Durchlaufzeitanalyse). Ein großer Vorteil für die Umsetzung des neuen Prozesses war die Flexibilität des CCM-Systems. Die bisherigen Zuständigkeiten (Personen) wurden um die abstrakten Meilensteine ergänzt, so dass die Zuständigkeit nun nicht mehr Fallteam- spezifisch, sondern je nach abgeschlossenem Meilenstein vergeben wird. Die Meldung der Fallzahlen an das LGL erfolgt weiterhin über die Software Aeskulab21. Innerhalb des CCM-Systems können alle Beteiligten jederzeit ihren "Arbeitsvorrat" als Listen abfragen, denn jedes Prozess-Team bearbeitet alle die Personen, die den zuvorliegenden Teilschritt erfolgreich abgeschlossen haben. Das bedeutet, dass z. B. das Team für "AB_20" die Liste aller in der Datenbank neu erfassten Indexpersonen aufruft, also derjenigen Personen, die den Meilenstein AB_10 erreicht haben. Sobald die Aufgaben für den Meilenstein AB_20 erledigt sind (u. a. in Quarantäne setzen der Indexperson), wird die Person auf den Meilenstein "AB_20" gesetzt und kann vom Folgeteam (hier Team für AB_30) übernommen werden. So ist eine kontinuierliche Weitergabe der Index-und Kontaktpersonen über alle Prozessschritte hinweg gewährleistet. Das Training für neue Mitarbeiter*innen erfolgt nur für einzelne Arbeitsschritte, so dass die Aufgabenvielfalt deutlich reduziert wurde und sehr viel leichter neue Mitarbeiter*innen in den Prozess eingebunden werden können. Jeder Prozessschritt ist detailliert dokumentiert und über ein zentrales Online-Portal (WIKI-System) für K alle jederzeit verfügbar. Damit hat sich die Skalierbarkeit des Containments für Nürnberg deutlich verbessert. Die explizite Prozessdokumentation bietet vollständige Transparenz über den gesamten Containment-Prozess. Da für jede Index-und Kontaktperson in der Datenbank die Meilensteinveränderungen mitprotokolliert werden, ist der Arbeitsvorrat sowie die Leistung je Prozessschritt zu jedem Zeitpunkt für alle Prozessbeteiligten klar ersichtlich. Zur Visualisierung wurde ein Prozess-Dashboard definiert (vgl. Abb. 10), das den Arbeitsvorrat jedes einzelnen Prozessschrittes aufzeigt. Im Beispiel ist ersichtlich, dass zum aktuellen Zeitpunkt 601 Corona-infizierte Personen (Indexpersonen) in Quarantäne gesetzt und nun zur weiteren Bearbeitung auf AB_20 stehen. Diese Transparenz unterstützt die Personaleinsatzplanung, weil Bedarfe in den einzelnen Schritten und mögliche Engpässe leicht erkennbar sind. Zusätzlich zu den Arbeitsvorräten lassen sich auch Analysen der Weiterleitung einzelner Index-und Kontaktpersonen im Sinne eines Process-Mining realisieren. Die automatisch identifizierbaren Prozessabläufe dienen als Input, um Prozessdefinitionen und Arbeitsanweisungen kontinuierlich zu verbessern. So konnte z. B. Ende 2020 ein zeitweiliges Fehlrouting für bestimmte Sonderfälle nach dem Erstanruf von Indexpersonen mittels Process-Mining entdeckt und behoben werden: Zahlreiche Personen waren direkt auf einen späteren Meilenstein gesetzt worden, ohne, dass zuvor relevante Arbeitsschritte durchgeführt worden wären. Auf der Basis der Meilensteinprotokolle erfolgen Durchlaufzeitanalysen, wie in Abb. 11 dargestellt. War die Median-Durchlaufzeit 2 zu Beginn im November und Dezember noch hoch und schwankend mit etwa zwei bis drei Tagen im 7-Tages-Mittel 3 , so ging sie seit Januar auf deutlich unter einen Tag zurück. Inhaltlich bedeutet dies, dass mindestens 50 % der Indexpersonen seit Januar in unter einem Tag in Quarantäne gesetzt werden und ihre Kontaktpersonen in dieser Zeit ebenfalls bereits im CCM-System erfasst sind. Der Quarantäneanruf für Kontaktpersonen erfolgt dann in der Regel ebenfalls innerhalb weniger Stunden. Die Stabilität des Prozesses wird durch die Standardabweichung der Durchlaufzeit bewertet. Diese ist seit Mitte Dezember deutlich auf unter einen Tag gesunken, so dass die Stadt Nürnberg seit Januar ihren Bürger*innen eine verlässliche Reaktionszeit garantieren kann, so sie sich mit Sars-CoV-2 infizieren. Das ist bemerkenswert, da Nürnberg im Januar zunächst noch über einem Inzidenzwert von 200 lag und dennoch das Containment bereits stabilisiert wurde. Prozessdashboard für den Corona-Kernprozess (aktuelle Arbeitsvorräte) Diese Aussagen können für rund die Hälfte aller Indexpersonen in Nürnberg getroffen werden (vgl. oben rechts in Abb. 11), der andere Teil wird über Sonderteams wie Heimbewohner*innen oder Krankenhauspatient*innen betreut und fließt in diese Analyse nicht ein. Nachdem die Prozessumstellung auf Fließbandprinzip in die Zeit des exponentiellen Anstiegs im November und Dezember 2020 fiel, ist zudem anzumerken, dass sich bereits zu diesem Zeitpunkt die Durchlaufzeiten als relativ robust erwiesen haben (jedoch auf hohem Niveau), obwohl der Prozess noch nicht eingeschwungen war: Ende Oktober war dagegen die Kontaktverfolgung nicht mehr gewährleistet, so dass der neue Prozess von Beginn an ein vollständigeres Contain- Vor diesem Hintergrund ist die geplante Umstellung von gut eingeschwungenen Containment-Prozessen auf neue (IT-)Systeme in der aktuellen Phase als gewagt anzusehen. Allerdings wird von der Politik seit November 2020 genau dies mit dem möglichst raschen Umstieg auf die Software SORMAS gefordert (Bundesregierung 2020). Auch wenn dieses Ziel formal begrüßenswert ist, so verkennen derartige Beschlüsse die Realität komplexer IT-Prozesse und der zugrundeliegenden Softwarelösungen: Die Abbildung existierender Vorgehensweisen auf eine neue Software, das Training hunderter Mitarbeiter*innen auf völlig neue Nutzeroberflächen und Prozesse sowie das Matching und die Migration großer Datenmengen aus den Altsystemen auf die neue Software SORMAS stellen gerade große Kommunen mit eigenen Softwarelösungen vor sehr große Herausforderungen (vgl. z. B. (FAZ 2021)). So können die Nürnberger Erfahrungen aus der Prozessumstellung seit Oktober 2020 bereits als Indikator dienen, dass eine tiefgreifende Umstellung der Software (anderes Look&Feel) sowie der zugrundeliegenden Prozesse nicht innerhalb weniger Wochen geräuschlos möglich ist, sondern zu deutlichen Verwerfungen in der Effektivität des Containments führen werden (vgl. Durchlaufzeitanalyse in Abb. 11 für die Monate Nov/Dez). Dieses Risiko im Angesicht einer dritten Welle einzugehen und bereits gewonnene Fähigkeiten nicht adäquat einsetzen zu können, scheint aufgrund der zu erwartenden gesellschaftlichen Folgen nicht verantwortbar und sicherlich auch nicht von der Politik intendiert. Da zumindest die reine Installationsrate für SORMAS in den ersten Wochen des Jahres 2021 deutlich gestiegen ist und in Bayern Ende Februar sogar 100 % erreicht hat (STMGP 2021), die tatsächliche Nutzung der Software für die Kontaktverfolgung (2021)). Um dennoch Nutzen aus der hohen bundesweiten Installationsrate zu ziehen und zugleich kurze Zeitfenster zu nutzen, könnte SORMAS zunächst von Gesundheitsämtern, die nicht wechselfähig sind, nur für den Austausch von Amt zu Amt genutzt werden. Damit könnten Index-und Kontaktpersonen, die formal von anderen Gesundheitsämtern betreut werden müssen, über die einheitlichen Schnittstellen der Version SORMAS X ausgetauscht werden. Gleichzeitig verbleibt die Kontaktverfolgung im eigenen Containment-System. In Zimmermann (2021) ist exemplarisch erläutert, wie Gesundheitsämter durch relativ überschaubare Ex-und Importe zwischen ihren eigenen Systemen und SORMAS eine Vernetzung erreichen könnten, die aktuell deutschlandweit noch nicht gegeben ist. SORMAS X bietet allen Gesundheitsämtern eine einheitliche Kommunikationsplattform mit gut beschriebenen Schnittstellen sowie Import-und Export-Vorlagen. Jedes Gesundheitsamt muss in diesem Szenario lediglich eine überschaubare Menge an Informationen zu "externen" Personen (primär Stammdaten, bei Indexpersonen evtl. auch Befunde) mit SORMAS teilen und wird so für alle Gesundheitsämter deutschlandweit einheitlich adressierbar. SORMAS dient in diesem Szenario primär als ein Informations-Hub, das die auszutauschenden Personendaten vereinheitlicht und verteilt. Daraus ergeben sich für alle relevanten Anspruchsgruppen (vgl. Abb. 13) kurzfristige Vorteile bei verringerten Aufwänden im Vergleich zu erzwungenen Voll-Migrationen während der dritten Welle. Zugleich wird SORMAS als System deutschlandweit tatsächlich nicht nur installiert, sondern für eine Basisfunktionalität auch kurzfristig jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation Business Standard: New York rolling out training for virus detectives Anfragen zum Plenum zu den Plenarsitzungen am 08 Daily Democrat: California readies an army of coronavirus detectives BR24 (2021) Corona-Nachverfolgung: Enttäuschung über Software Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 16 The virus detectives: Germany's contact tracers try to block a second covid-19 wave FAZ (2021) Landkreise kritisieren Spahns Corona-Software München: Web-App COVe -Digitalisierung im Kampf gegen Corona Im Schatten der Corona-App: Erfolgsfaktor "Digitalisiertes Kontaktmanagement in Gesundheitsämtern Der Hamburger Pandemie-Manager HZI (2020) SORMAS unterstützt Gesundheitsämter beim Kontaktpersonenmanagement Bloomberg opinion: if we must build a surveillance state, let's do it properly Entwicklung einer Software zur Unterstützung der Prozesse im Gesundheitsamt der Stadt Köln in der SARS-CoV-2-Pandemie. 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