key: cord-0062798-z7pktvmb authors: Michel, Sascha; Pfurtscheller, Daniel title: »Ich bin seit Montag Zuhause in Quarantäne« – Zur Verbindung von Erzählen und Argumentieren in Social-Media-Kommentaren zu politischen Reden date: 2021-05-06 journal: Z Literaturwiss Linguistik DOI: 10.1007/s41244-021-00199-y sha: 2bf011aa65d337151e7adad70c6bdbd83d05c75d doc_id: 62798 cord_uid: z7pktvmb This article examines narrative practices in the context of political speeches on the corona crisis. The qualitative analysis is based on a corpus of 650 social media comments posted in response to the so-called lockdown speeches by Sebastian Kurz and Angela Merkel in March 2020. The comments feature forms of fragmentary narration that are used by the participants both as resources of credibility and descriptiveness and as a means of positioning themselves in the context of the lockdown measures being announced. Das vom Institut für Deutsche Sprache herausgegebene Neologismenwörterbuch zur Coronakrise bestimmt Lockdown als »Zeitraum, in dem fast alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten auf politische Anordnung hin stillgelegt sind« (Neologismenwörterbuch 2020). Der weltweite Ausbruch der Atemwegserkrankung COVID-19 im Frühjahr 2020 war für viele Menschen der erste Kontakt mit der bisher unbekannten Situation einer behördlich angeordneten Massenquarantäne und dem völligen Stillstand des öffentlichen Lebens. In Österreich und in Deutschland waren die ersten strengen Ausgangsbeschränkungen dieser Art im März 2020 in Kraft. In diesem Beitrag fokussieren wir die Ankündigung dieser Lockdown-Maßnahmen durch die Regierungsspitzen in beiden Ländern und untersuchen anhand von Social-Media-Kommentaren, welche Rolle das alltägliche Erzählen hinsichtlich der interaktiven Nachbearbeitung und argumentativen Aneignung der in den Lockdown-Reden verkündeten Maßnahmen spielt. 1 Die Argumentationsforschung hat sich in ihrer bis auf die antike Rhetorik zurückverfolgbaren Geschichte immer wieder mit der Frage nach der Rolle des Erzählens für das Argumentieren befasst (für einen Überblick vgl. Schwarze 2019; Hannken-Illjes 2019). Dass Erzählen eine fundamentale Rolle »im Leben des Einzelnen und im kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft spielt« (Fritz 2017, S. 429) und in der Regel kein Selbstzweck ist, sondern etwas, mit dem etwas getan wird und das an bestimmte (argumentative) Funktionen gekoppelt ist, gilt gleichermaßen für das digitale Erzählen (Tophinke 2017) . Aus medienlinguistischer Perspektive stellt sich dabei die Frage, wie durch digitale Medienumgebungen bestehende Praktiken verändert und mit anderen Aktivitäten verknüpft werden (z. B. dem Teilen und Kommentieren von massenmedialen Inhalten). Kommentare auf Social-Media-Plattformen, wo sich private Nachrichten, humorvolle Memes und politische Schlagzeilen zu einer algorithmisch kuratierten Melange vermengen, müssen in der Regel gleichzeitig mehrere Adressatengruppen ansprechen. Die linguistische Forschung zum digitalen Erzählen hat sich in diesem Zusammenhang damit befasst, wie Erzählen und insbesondere Praktiken der narrativen (Selbst-)Positionierung (narrative stance, Georgakopoulou 2016b) helfen, um mit diesem context collapse (Marwick/ Boyd 2011) digitaler Medienumgebungen umzugehen. In unserer qualitativen Studie untersuchen wir öffentliche Stellungnahmen von Nutzer*innen, die im Anschluss an die Verbreitung der Lockdown-Reden in Österreich und Deutschland im März 2020 auf mehreren verschiedenen Social-Media-Plattformen geschrieben wurden. Social-Media-Kommentare sind stark kontextgebundene Textbeiträge und zeichnen sich in der Regel durch fragmentarische Formen des Erzählens und Argumentierens aus. Gerade durch diese Verkürzungen erscheinen die Anschlusskommentare als geeignetes Material, um politisch motivierten Erzählungen (Weidacher 2018) und argumentativen Funktionen gemeinschaftlich geteilter Narrative auf die Spur zu kommen. Unter Narrativen verstehen wir »kulturelle Orientierungsfolien für individuelles Handeln und Erleben« (Bubenhofer/ Müller/Scharloth 2013, S. 423) , die als diskursiv entstandene Muster empirisch auffindbar sind (vgl. Bubenhofer 2018, S. 373) . Im Folgenden werden wir nach einigen allgemeinen Ausführungen zum Verhältnis von Erzählen und Argumentieren in der Social-Media-Interaktion (Kap. 2) anhand eines Korpus von Social-Media-Daten zu politischen Reden (Kap. 3) induktiv herausarbeiten, wie sich alltägliches Erzählen und Argumentieren in Social-Media-Kommentaren zu politischen Reden verbindet. Dabei wird sich zeigen, dass Erzählen neben dem sprachlichen Ausdruck von Alltagserlebnissen auch zur Stützung von Argumenten und zur Positionierung im kommunikativen Gefüge der beteiligten Akteure dient (Kap. 4). Um die Rolle zu beleuchten, die das fragmentarische Erzählen für das Argumentieren in der interaktiven Nachbearbeitung von politischen Reden auf Social-Media-Plattformen hat, fragen wir danach, welche Anschlussstellen für erzählendes Argumentieren es in den Reden gibt, wie sich Miniatur-Erzählungen in den jeweiligen kommunikativen Konstellationen und medialen Umgebungen der untersuchten Textgattungen jeweils ausprägen und welche spezifischen argumentativen Funktionen sie erfüllen. Schließlich fassen wir die wichtigsten Beobachtungen zusammen und formulieren einen Ausblick (Kap. 5). Aus linguistischer Sicht ist Erzählen eine kommunikative Praktik, die im Alltag für unterschiedliche Aufgaben eingesetzt werden kann und damit selten alleine steht: »Erzählen ist als sprachliches Handeln integriert in die sonstigen Handlungsbezüge der gesellschaftlichen Aktanten« (Ehlich 1980, S. 20) . Im Alltag werden Geschichten in der Regel erzählt, um etwas zu tun (Schegloff 1997, S. 97) : sich zu beschweren oder zu entschuldigen, anderen etwas mitzuteilen oder von etwas zu überzeugen etc. Mit Erzählen können wir im Alltag Zugehörigkeit markieren, soziale Nähe herstellen, Weltsichten teilen und wechselseitig bestätigen, aber auch Wissen aufbauen, organisieren und verarbeiten (vgl. Tophinke 2009 S. 257 f.; Spieß/Tophinke 2018, S. 195) . Alltägliches Erzählen ist somit kein Selbstzweck, sondern mit bestimm-ten kommunikativen Absichten verbunden oder darauf ausgerichtet, eine Umgebung zu etablieren, in dessen Verlauf oder Kontext weitere kommunikative Handlungen vollzogen werden können. Aus diesem Grund ist alltägliches Erzählen auch für argumentative Zusammenhänge relevant. So hat etwa Schwarze (2019) Hickethier (1995) ist das Dispositiv Fernsehen -und damit die Besonderheiten der Fernsehnutzung und Rezeptionserfahrung des Mediums -durch eine spezifische Anordnung von Rezipierenden, technischen Geräten und institutionellen ›Apparaten‹ geprägt. Im Anschluss an den Dispositivbegriff von Foucault (1978) sei Fernsehkommunikation durch diese größeren Rahmen, die von den einzelnen Zuschauer*innen nur indirekt und nicht bewusst erlebt oder wahrgenommenen werden, auch im Zusammenhang mit Machtaspekten analysierbar (vgl. Hickethier 1995, S. 69). beobachten. Intensiv erforscht wurde der Bereich der sogenannten »Small Stories« (Bamberg 2006; Georgakopoulou 2007) . Dieser Sammelbegriff, der eine Vielzahl von in der klassischen Erzählforschung weniger beachteten narrativen Aktivitäten abdeckt (Georgakopoulou 2006, S. 123) , wurde ursprünglich innerhalb der Positionierungsanalyse mündlicher Interaktion entwickelt und als Analyserahmen für Social-Media-Interaktion ausgebaut (vgl. Bamberg/Georgakopoulou 2008; Günthner 2012; Georgakopoulou 2016a) . Für Small Stories ist charakteristisch, dass sie meist fragmentarisch sind und die klassischen Erzählschritte des persönlichen Erzählens (abstract -orientation -complicating action -resolution -coda -evaluation, Labov/Waletzky 1967) nur unvollständig abdecken. Hinzu kommt, dass Social-Media-Erzählungen häufig zeitverzögert (delayed, Dayter 2015) und interaktiv durch Ko-Erzähler*innen konstituiert werden (Page/Harper/Frobenius 2013) sowie alltägliche Themen aufgreifen, die in der klassischen Forschung als wenig bis gar nicht »erzählwürdig« gelten: »There is also a tendency for reporting mundane, ordinary and, in some cases, trivial events from the poster's every day life, rather than big complications or disruptions« (Georgakopoulou 2016a, S. 302) . Als einfache Erzählungen, die selten ausgebaut sind, werden Small Stories als Teil der Identitätsarbeit gesehen. Beiläufige Formen des Erzählens lassen sich überall dort finden, wo sich Nutzer*innen »als Teil der identitätskonstruktiven Selbstthematisierungen und der sozialen Beziehungspflege über ihre Alltagserlebnisse austauschen, diese kommentieren und bewerten« (Tophinke 2017, S. 70) . Im Gegensatz zur mündlichen Interaktion, wo Erzählen als »multimodal hervorgebrachte Aktivität« (König/Oloff 2018, S. 215) im Raum verzögerungsfrei wahrnehmbar werden kann, gibt es in Social-Media-Umgebungen in der Regel keine körperliche Kopräsenz oder Möglichkeit einer zeitlichen Synchronisation. Hier ist Interaktion deutlich anders organisiert. In unserem Fall beruhen die Interaktionen auf dem Austausch von Social-Medial-Posts, das sind (potenziell multimodale) Textbeiträge, die en bloc verschickt werden. Mit Beißwenger (2020) kann man hier von einer textformen-basierten Interaktion sprechen, die darauf ausgelegt ist, dass sich Nutzer*innen an einem sich dynamisch entfaltenden Interaktionsgeschehen beteiligen können. Eine wichtige Organisationsebene dafür ist die flächige Sichtbarkeit der vorgängigen Aktivitäten, der Beiträge und Kommentare in einem Verlaufsprotokoll, das die Interaktion in eine lineare Ordnung bringt und für die wiederholbare Rezeption greifbar macht. Soziale Medien sind als Erzähl-und Argumentationsumgebungen designed spaces (Pfurtscheller 2019, 115-116) Page (2018) dafür eine intertextuelle Analyseperspektive vorgeschlagen, um sowohl Mitteilungsals auch Distributionsaspekte des vernetzten Erzählens im Blick zu behalten: »In shared stories, intertextuality takes centre stage as an aspect of the narrative which is both part of the telling (reflecting the meaning of ›sharing as telling‹) and part of the distributive processes of sharing« (Page 2018, S. 204) . Diese allgemeinen Affordanzen formen sich in einem weiteren Schritt plattformspezifisch aus. Soziale Medien entfalten als Kommunikationskanäle dabei eine dispositive Wirkung 3 : Beispielsweise ist für Facebook eine relativ flache Interaktionsstruktur typisch, die keine verzweigten Kommentarverläufe befördert. Eine interaktive Nachbearbeitung von Erzählungen ist zwar möglich, beschränkt sich aber meist auf kurze Kommentare. Nach Tophinke (2009 Tophinke ( , 2017 sind für Blogs der 1990er-Jahre Anschlusserzählungen in Form von Kommentaren mit eigenständigen second stories, die den Plot aufgreifen, typisch, allerdings spiele dies in sozialen Medien wie Facebook kaum eine Rolle; vielmehr würden Reaktions-Buttons und formelhafte Sprache verwendet, um Postings als erzählenswert zu bestätigen (vgl. Tophinke 2017, S. 72). Inwieweit sich solche fallspezifischen Beobachtungen des Zusammenspiels von Technologie und Erzählpraktiken über Gruppen und Social-Media-Plattformen hinweg beobachten lassen, ist unklar. Um funktionale sowie (medien-) kulturspezifische Unterschiede in den medialen Ausprägungen erkennen zu können, sind daher insbesondere plattformübergreifende Analysen digitalen Erzählens gefragt. Unsere Studie betrachtet alltägliches Erzählen und Argumentieren im Kontext politischer Reden und ihrer mediatisierten Anschlusskommunikation auf mehreren unterschiedlichen Social-Media-Diensten. Einerseits lassen sich politische Reden selbst hinsichtlich vorfindlicher Formen des argumentativen Erzählens bzw. erzählender Argumentation untersuchen (vgl. Hannken-Illjes 2019; vgl. Weidacher 2018). Andererseits werden die Reden selbst in mediatisierter Form auf Social-Media präsentiert und von den Nutzer*innen kommentiert. Während sich diese Kommunikatperspektive auf die Analyse von Narration und Argumentation mit Bezug auf digitale politische Texte gerade erst am Anfang befindet, so gilt dies erst recht für die Aneignungsebene, also für die Analyse von Online-Reaktionen, die traditionell eher weniger im Zentrum politolinguistischer Untersuchungen steht. Für diese Ebene ist charakteristisch, dass sich Nutzer*innen über Medienkommunikate äußern und austauschen, was wiederum Rückschlüsse darauf zulässt, wie sie sich die Kommunikatinhalte aneignen, d.h. auf welche Themen sie wie referieren und welche Sprachhandlungen dabei in Erscheinung treten. Für das fernsehbegleitende Twittern etwa, dem sogenannten Social TV, ist kennzeichnend, dass es eher um die Selbstdarstellung von Nutzer*innen geht als um die themen-und diskursbezogene Aushandlung bzw. Argumentation (vgl. Klemm/Michel 2014a) . Obgleich sich die Aneignungshandlungen kaum vom fernsehbegleitenden Sprechen in intimer und geschützter Atmosphäre der familiären Kleingruppe unterscheiden, so zeigen formale Eigenschaften wie die Verwendung von Hashtags sowie die im Vergleich zur Mündlichkeit ausgeprägte Elaboriertheit der Äußerungen, dass fernsehbegleitende Tweets vor allem der Selbstinszenierung vor einem öffentlichen Publikum dienen. Alltägliche Formen der Medienaneignung sind stark expressiv, dennoch werden Tweets und die Kommentarfunktionen diverser Plattformen im Alltag durchaus auch genutzt, um (begründete) Kritik an Medienkommunikaten zu äußern. Auch wenn ausgebaute Argumentationen selten sind, stellt sich die Frage, inwieweit sich in diesen Miniaturformen der kommunikativen Medienaneignung Spuren eines »kritischen Publikums« (Pfurtscheller 2020, S. 269) finden lassen. Während die thematischen Bezugnahmen sowie die Aneignungshandlungen von fernsehbegleitender digitaler Anschlusskommunikation relativ gut erforscht sind (vgl. z. B. Göttlich et al. 2017; Klemm/Michel 2014a , 2014b , 2016 Schneider/Buschow 2019) , zeigt sich hier mit Blick auf Narration und dem Wechselspiel zwischen Narration und Argumentation -vor allem hinsichtlich fernsehvermittelter politischer Reden -ein Desiderat. Wir wollen dieses Desiderat im Folgenden aufgreifen und die Anschlusskommunikation zu den sogenannten Lockdown-Reden von Angela Merkel und Sebastian Kurz in der Frühphase der Coronakrise an einem kleinen Ausschnitt analysieren. Damit knüpfen wir an einen aktuellen und zugleich transkulturellen Diskurs an, der eine vergleichende Analyse ermöglicht. Als Untersuchungsgegenstand greifen wir auf Nutzer*innenkommentare auf den Plattformen YouTube, Twitter, Facebook und Instagram zurück, um einen möglichst differenzierten, symptomatischen Einblick zu bekommen. Die folgenden Leitfragen sollen dabei schlaglichtartig beleuchtet werden: Welche Stellen der Corona-Ansprachen elizitieren fragmentarische Formen des Erzählens und Argumentierens? Wie wird fragmentarisches Erzählen und Argumentieren in den Anschlusskommentaren verbunden und welche funktionalen Muster lassen sich erkennen? Inwiefern werden in den Anschlusskommentaren shared stories (Page 2018) erzählt und welche argumentativen Funktionen haben interaktive Ko-Erzählungen? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Verbindung von Erzählen und Argumentieren zeigen sich im Vergleich der verschiedenen Social-Media-Plattformen sowie im transkulturellen Vergleich Deutschland und Österreich? Gegenstand unserer Studie sind Nutzer*innenkommentare, die im Anschluss an zwei Corona-Ansprachen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz veröffentlicht wurden. Um die Vergleichbarkeit im Untersuchungsmaterial abzusichern, haben wir aus der Fülle von Reden und Pressestatements, die von beiden Regierungsspitzen Mitte März 2020 veröffentlicht wurden, zwei Ansprachen ausgewählt (im Folgenden: Lockdown-Reden). Beide Reden wurden in zeitlicher Nähe im Fernsehen ausgestrahlt (15. bzw. 18. März 2020), in mediatisierter Form (z. B. als Videoclips) auf unterschiedlichen So-cial-Media-Kanälen (z. B. von Regierungsstellen und Nachrichtenmedien) verbreitet und ähneln sich thematisch-funktional sehr. Die gedruckten Veröffentlichungen der Lockdown-Reden bilden den Prätext für die analysierten Nutzer*innenkommentare. Im Folgenden erläutern wir zunächst die Datengrundlage und gehen dann ausführlicher auf den Kontext der Untersuchung und die beiden Lockdown-Reden ein. Zur Datenerhebung haben wir im Sinne der Methode der virtuellen Ethnografie (vgl. Bachmann/Wittel 2006) auf vier großen Social-Media-Plattformen (Facebook, YouTube, Instagram und Twitter) nach Postings zu den Lockdown-Reden gesucht und die Postings sowie die Nutzer*innenkommentare in einem On-Screen-Verfahren 4 gesammelt. Insgesamt besteht unser Korpus aus rund 650 Nutzer*innenkommentaren, die wir im Kontext der Lockdown-Reden qualitativ ausgewertet haben. Die untersuchten Social-Media-Daten ähneln sich strukturell und funktional, sind aber in vielerlei Hinsicht unterschiedlich. Strukturell ähneln sich die Nutzer*innenkommentare, weil sie als Reaktionen auf einen übergeordneten Beitrag (ein Facebook-bzw. Instagram-Post oder YouTube-Video) im Angebot angeordnet sind. Funktional ähneln sie sich darin, dass sie die vorausgehenden Reden von Kurz bzw. Merkel kommentieren. Ähnliches gilt auch für Beiträge auf Twitter. Da es hier (abseits der Reply-Funktion) keine Kommentare gibt, muss die gemeinsame Referenz metakommunikativ abgesichert werden. Deshalb wurden die Anschlussbeiträge an die Reden über eine zeitlich eingegrenzte Hashtag-bzw. Schlagwort-Suche (Merkel, Kurz, Corona) erhoben. Die Lockdown-Reden und die an sie anschließenden Nutzer*innenkommentare stammen aus der ersten Hochphase der Covid-19-Pandemie in Österreich und Deutschland, die medial von zahlreichen Pressekonferenzen, Sondersendungen und Eilmeldungen begleitet wurde (vgl. Gräf/Henning 2020). In der Rede von Sebastian Kurz, die am 15. März ausgestrahlt wurde und grob gesagt aus vier Teilen besteht, wird (1.) der Ernst der Lage betont, (2.) über die getroffenen Maßnahmen berichtet, (3.) allen Parteien und ausgewählten Personen gedankt und (4.) das Publikum für die kommenden Wochen auf das erwünschte Verhalten eingeschworen. Ähnlich wie bei der Merkel-Rede dominieren Mahnund Appellhandlungen (»Bleiben Sie zu Hause«). Die Rede hat aber auch stark emotionalisierende Züge, die sich einerseits stilistisch festmachen lassen (z. B. an expressiven Ausdrücken wie unglaublicher Härte, massive Einschränkungen, etc.), andererseits mit der expliziten Thematisierung von Leid, Tod und Angst manifest werden. Für die Rede von Angela Merkel, die am 18. März ausgestrahlt wurde, hat Spieß (2020) bereits eine Analyse vorgelegt, an die unsere Untersuchung der Anschlusskommentare anknüpfen kann. Hiernach stützen sich die von Merkel hervorgebrachten Mahn-, Appell-und Forderungshandlungen auf Situationsbewertungen, 4 Ein solches bildschirmbasiertes Verfahren (vgl. Androutsopoulos 2018) eignet sich in erster Linie für die Beiträge, die von Nutzer*innen produziert werden, berücksichtigt aber auch die kontextuelle und multimodale Einbettung in die Medienumgebung. In einem ersten Schritt haben wir jeweils die ersten 80 Kommentare erhoben und mit Metadaten (u.a. Zeitstempel, Anzahl der Favorisierungen, Teilungen und Antwort-Kommentare) dokumentiert. Bei Facebook, Instagram und YouTube haben wir uns grundsätzlich in einem ersten Schritt auf die Top-Level-Kommentare beschränkt, aber auf Grundlage einer Vor-Analyse auch längere Interaktionsverläufe punktuell berücksichtigt. Nicht zuletzt aufgrund solcher emotionalisierender Sequenzen 5 erscheinen beide Lockdown-Reden für narrativ-argumentative Anschlusskommentare prädestiniert zu sein. Solche »Emotionalisierungstechniken« können nämlich die »Sympathiebildung und die Identifikation der Zuhörer gegenüber dem Protagonisten erhöhen« (Girnth/ Burggraf 2019, S. 573), aber auch der Abgrenzung von und Kritik an der redenden Person Vorschub leisten. In jedem Fall lässt ein emotionales »Involvement« seitens der Rezipient*innen »die kognitiv-kritische Verarbeitung der argumentativen Inhalte« (Girnth/Burggraf 2019, S. 569) zugunsten einer narrativen Verarbeitung in den Hintergrund treten. Um die argumentativen und narrativen Anschlussmöglichkeiten, die in beiden Reden angelegt sind, in den kommunikativen Konstellationen der konkreten digitalen Medienumgebungen zu untersuchen, verknüpft unsere Analyse methodische Ansätze der digitalen Erzählanalyse und der Argumentationsanalyse. Ähnlich wie Page (2018) bewegt sich unsere Analyse des digitalen Erzählens auf mehreren Ebenen: von der detaillierten Analyse der jeweiligen sprachlichen Formen, mit denen gemeinsame Geschichten (›shared stories‹) erzählt und argumentativ eingesetzt werden (Mikroebene), hin zu der Frage, welche spezifischen Funktionen diese Formen des Erzählens für das Argumentieren aus kultureller Sicht haben (Makroebene). 6 Unsere Argumentationsanalyse beruht terminologisch auf dem von Römer (2017) vorgestellten Modell der topischen Argumentationsmuster, das er im Anschluss an Klein (2000 Klein ( , 2002 empirisch aus der Analyse des Öl-sowie Finanzkrisendiskurses (1973/74 bzw. 2008/2009 ) gewinnt und das uns aufgrund dieses Krisenbezugs für den hier untersuchten Diskursausschnitt zur Corona-Pandemie als besonders geeignet erscheint. Topische Muster erfassen das »in einer Zeit verbreitete kollektive, gesellschaftliche Wissen« (Wengeler 2017, S. 268) und ermöglichen es, die in einem Diskurs vorhandenen (in der Regel impliziten) Argumentationsstrukturen offenzulegen. Römer (2017) unterscheidet folgende vier allgemeine, übergeordnete Topoi: Datentopos, Topos aus den Ursachen, Topos aus den Maximen und Finaltopos. Datentopos und Topos aus den Ursachen sind dabei mit der Conclusio wechselseitig verbunden, da es hierbei darum geht, die Folgen, die sich aus der Beschreibung der Situationsdaten und der Ursachen ergeben, mittels einer Schlussregel abzuleiten. Ebenso sind Topos aus den Maximen und der Finaltopos aufeinander bezogen, gleichzeitig liefern sie aber auch die zugrunde liegenden Wertmaßstäbe, Überzeugungen und Prinzipien, die wiederum ebenfalls die Basis der anderen argumentativen Schlussregeln bilden. Diese allgemeinen Topoi werden durch kontextspezifische Topoi inhaltlich gefüllt, die in der Analyse aus dem Datenmaterial interpretativ -und damit hermeneutisch -erschlossen und benannt werden müssen (vgl. hierzu Römer 2017; Römer/Wengeler 2013; Wengeler 2017). Zentral für alle untersuchten Social-Media-Kanäle ist der Befund, dass erzählt wird, um die von Kurz und Merkel in den Lockdown-Reden aufgeworfenen Thesen und Appelle zu bestätigen oder abzulehnen. Im Folgenden analysieren wir die argumentative Funktion des Erzählens an zwei exemplarischen Bereichen, die zu den wichtigsten thematisch-funktionalen Anschlussstellen im plattformübergreifenden Kommentardiskurs gehören: An den zentralen Appell an die Vernunft der Bürger*innen schließen Kommentare an, die vom eigenen Verhalten oder der Unvernunft der anderen erzählen (4.1); an die Erzählungen vom Einsatz ›systemrelevanter‹ Berufsgruppen in den Lockdown-Reden und dem Dank seitens der Regierungsspitzen schließen Nutzer*innen-Kommentare an, die den Dank argumentativ erwidern, narrativ erweitern oder mit politischen Forderungen verbinden (4.2). Abschließend möchten wir mit einer exemplarischen Analyse eines Kommentar-Verlaufs zeigen, wie Erzählen und Argumentieren in der Social-Media-Interaktion sequenziell verbunden werden (4.3). Alle Nutzer*innen-Kommentare werden im Wortlaut und teilanonymisiert wiedergegeben. Als Gemeinsamkeit über alle untersuchten Social-Media-Plattformen hinweg ist festzustellen, dass die Nutzer*innen im Zuge eines Lobs oder Danks die Notwendigkeit und Eindringlichkeit der Appelle hervorheben. Die persönliche Erlebnisperspektive, die beim Erzählen aus der Ich-Perspektive in den Vordergrund rückt, wird dabei beim Argumentieren als Ressource der Glaubwürdigkeit und Anschaulichkeit genutzt wie in den folgenden Beispielen: ( In (1) greift eine Nutzerin Merkels Appell »an die Vernunft und Verantwortung jedes einzelnen« auf und führt ihre eigene Situation, wegen einer Erkältung zu Hause zu bleiben und nur zum Einkaufen das Haus zu verlassen, als Exemplum und somit als vorbildliches und »vernünftiges« Verhalten an. Der Beleg zeigt folgende Argumentationsstruktur: Für die These (der Appell an die Eigenverantwortung ist besser als Hausarrest) wird die Erzählung des eigenen Zuhausebleibens als Argument angeführt: Weil alle (so wie ich) daheim bleiben und so zur Krisenbewältigung beitragen können, ist der Appell an die Eigenverantwortung besser als Hausarrest (Schlussregel). Dieser Topos der vorbildlichen Bürger*innen lässt sich als Topos aus den Maximen verstehen und stellt eine Ergänzung der von Merkel ins Feld geführten Topoi aus den Maximen (»solidarisches Handeln«; »was jeder und jede einzelne dazu beitragen kann«) sowie den Datentopoi (»Millionen von Ihnen können nicht zur Arbeit, Ihre Kinder können nicht zur Schule oder in die Kita, Theater und Kinos und Geschäfte sind geschlossen, und, was vielleicht das Schwerste ist: uns allen fehlen die Begegnungen, die sonst selbstverständlich sind. Natürlich ist jeder von uns in solch einer Situation voller Fragen und voller Sorgen, wie es weitergeht.«) dar und führt so den Argumentationsgang digital fort. Das Erzählen vom eigenen Verhalten kann auch als Verhaltensleitfaden, als best practice, verstanden und mit einem persönlichen Appell, also einer explizit formulierten Conclusio, verbunden werden, sich dem anzuschließen, wie in Beispiel 2: (2) Ich und meine Familie machen mit seit mehr als einer Woche. Wir bleiben einfach immer zu Hause. Allein ich gehe einmal pro Woche für max. (Datentopos) andererseits. Beide Belege zeigen eine Argumentationsstruktur, in der die persönlichen Erzählungen von der ›Unvernunft der Anderen‹ die Position von Argumenten besetzen. Auf Grundlage dieser persönlichen Erlebnisperspektive wird für die These argumentiert, dass der Appell an die Vernunft (auch wenn er grundsätzlich sinnvoll sei) wirkungslos bleibt (Schlussregel: Weil die Leute -im Gegensatz zu mir -den Ernst der Lage nicht begreifen und sich nicht an die Maßnahmen halten, ist der Appell an die Eigenverantwortlichkeit wirkungslos). Wie mit den bisher analysierten Beispielen deutlich wurde, sind es in der Regel keine ausgebauten Erzählungen, die in den Kommentaren argumentativ verwendet werden, sondern Erzählfragmente, die eine persönliche Erlebensperspektive für das Argumentieren nutzen und so als Ressource der Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit dienen. Diese Erzählfragmente haben dabei in der Regel den Status von Prämissen. Neben den beschriebenen fragmentarischen Wirklichkeitserzählungen, die den Status von tatsächlichen Erfahrungen behaupten, finden sich im Untersuchungsmaterial aber auch noch andere Formen des argumentativen Erzählens, die seltener auftauchen. Beispielsweise lassen sich auch hypothetische Was-wäre-wenn-Geschichten argumentativ nutzen und als Conclusio verwenden, wie in Beleg (5) Hier schildert die Nutzer*in als Arbeitskraft im Einzelhandel persönliche Negativerlebnisse, die zumeist aus Beleidigungen und Diffamierungen bestehen. Dabei stehen sich der Topos von der gesellschaftlichen Geringschätzung und der Topos der solidarischen Aufopferung als Topoi aus den Maximen gegenüber. Ersteres geht von der These aus, dass es eine Diskrepanz zwischen der Anerkennung der Kanzlerin einerseits und der sozialen Herabsetzung im Alltag andererseits gibt (»Schön das man zwar gelobt wird, doch oft bin ich im Einzelhandel vor dem Kunden nur der letzte Ar...«), was durch persönliche Erfahrungen belegt wird (»Ich mein, es sind nicht alle so, doch von ›ihr seit zu blöde zum Bestellen!‹ bis ›Euch hat doch der Virus schon das Hirn weg gefressen!‹ war schon alles dabei.«). Der Topos der solidarischen Aufopferung beruht auf der These, dass bestimmte Berufsgruppen durch ihr Handeln die Gesellschaft zusammenhalten und auch hier dienen Alltagserlebnisse als Belege bzw. Datentopos für das Argument, dass diese Berufsgruppen ihren Beruf bis zur Selbstaufgabe ausüben, was die Brisanz und Relevanz der These auf dramatische Weise unterstreicht (»Dabei schieben wir schon Überstunden (unser Schichtplan sieht aus wie nen Weihnachtsbaum), rackern uns wund, damit die Leute nicht verhungern müssen und sind dazu noch mehr der ›Seu-che‹ ausgesetzt. Von der Bezahlung mal ganz zu schweigen.«). Beide Topoi führen zur Conclusio, dass jeder durch sein solidarisches Verhalten dazu beitragen kann, die schwierige Situation zu vermeiden (»Wenn jeder nur etwas vernünftiger, sozialer und in Maßen einkaufen würde, hätten wir diese Engpässe garnicht.«). Diese ›Was wäre wenn‹-Conclusio steht allerdings im Kontrast zum Topos der selbstverschuldeten Situation als Finaltopos (»[...] hätten wir diese Engpässe garnicht.«), der die Realität abbildet, sodass die Conclusio an dieser Stelle gleichzeitig als Appell fungiert. Wie schon in vorherigen Beispielen sorgen die narrativen Episoden auch hier dafür, den Kontrast der beiden Topoi (soziale Geringschätzung im Alltag vs. solidarische Aufopferung) emotional zu betonen, zu verstärken und damit glaubwürdiger bzw. nachvollziehbarer zu gestalten. Auch in Beispiel (7) wird die Unterbezahlung thematisiert, wenn auch nur am Rande erwähnt (»Von der Bezahlung mal ganz zu schweigen.«). Während -wie hier -in den meisten Kommentaren allgemeine Forderungen nach besserer Bezahlung erhoben werden, die auch außerhalb von Krisenzeiten -etwa in Wahlkämpfen -Gegenstand kontroverser politischer Debatten sind, gibt es auch konkrete und unmittelbare Forderungen, um bestimmten Berufen in der Krise finanziell zu helfen wie in dem folgenden Facebook-Kommentar (8) Der Kommentar beginnt direkt mit der Conclusio (»Bleibt zuhause«), welche als Argumentationsklammer später wieder aufgegriffen wird (»Bitte bitte meidet soziale Kontakte für die nächste Zeit, bleibt zuhause, denkt an die Alten [...]«). Zwischen dieser Klammer folgt mit dem Topos des Ausnahmezustands der Finaltopos (»Lasst es nicht so kommen wie in Italien, wo momentan kriegsähnliche Zustände in der medizinischen Versorgung herrschen.«). Die narrativen Sequenzen schließen als Datentopos (»Wir haben alle Angst beim Arbeiten was da auf uns zukommen wird, da wir weder genügend Beatmungsplätze und noch viel wichtiger viel zu wenig Personal haben.«) direkt an den Finaltopos an und dienen als Analogie-Topos dazu, die aus persönlicher Sicht und Erfahrung geschilderten Zustände den Zuständen in Italien gegenüberzustellen (wenn auch eher mahnend, da die Verhältnisse noch nicht so dramatisch sind). Durch die Sicht eines Betroffenen wird die drohende Gefahr somit personifiziert und authentisch dargestellt und lässt sich so als Konkretisierung, als illustratives Zeigen der von Merkel eher abstrakt benannten Gefahren und Appelle begreifen. Abschließend wird mit einer weiteren Conclusio abermals der Dank an die Berufsgruppe als unzureichend eingestuft und die Forderung nach »angemessener Bezahlung« erhoben. Diese Conclusio ergibt sich aber aus einem anderen Topos des Datentopos, nämlich dem Topos der Unterbezahlung, da die geschilderten Zustände aus Sicht des Kommentierenden eine angemessene Entlohnung erfordern. Somit wird deutlich, dass narrative Sequenzen mehrere Datentopoi umfassen können, um die Relevanz der in der Conclusio aufgestellten Forderungen auf illustrative, häufig dramatische, Art und Weise zu untermalen. Die bislang skizzierten Formen und Funktionen der narrativen Anschlusskommunikation treten mehr oder weniger ausgeprägt in allen Social-Media-Kanälen auf. Die Tatsache (10) Na super, man will zuhause bleiben, muss aber arbeiten gehen weil nunmal Lieferdienst und Einzelhandel ausgenommen sind, was tun? Wenn dann sollte alles geschlossen werden für 2 wochen und fertig!!! (Kadisha K., Facebook-Kurz, 153 Reaktionen/51 Antworten) Im initialen Kommentar (10) positioniert sich eine Nutzerin als Betroffene, die aus beruflichen Gründen nicht zu Hause bleiben kann, obwohl sie das gerne möchte. Damit wird an die diesbezügliche Forderung von Kurz in der Rede angeknüpft, die ungleichmäßige Arbeitsbelastung aber ohne weitere argumentative Stütze abgelehnt (»Wenn dann sollte alles geschlossen werden für 2 wochen und fertig!!!«). An diesen initialen Kommentar schließt eine Sequenz von insgesamt 51 Antworten an, in deren Verlauf sich auch die ursprünglich Kommentierende mehrmals einschaltet. In den Antworten beziehen mehrere Personen Stellung, die ebenfalls in systemrelevanten 7 Der Zusammenhang von Argumentieren und den medialen Rahmenbedingungen wird damit jedoch erst bruchstückhaft behandelt. So müsste beispielsweise die quantitative Dimension des Argumentierens auf Social-Media-Plattformen näher aufgeführt werden. Neben der Tatsache, dass mehrere ähnliche Argumente zusammen ein Mehrheitsargument bilden (wenn eine große Anzahl von Menschen X so sieht, dann muss X wahr/richtig sein), geht es dabei auch um technische Rahmenbedingungen. Das betrifft etwa die flächige Sichtbarkeit der Social-Media-Interaktion. Zum Beispiel können mehrere ähnliche Argumente durch den Platz, den sie auf dem Bildschirm einnehmen, eine Art ikonisches Argument bilden (wenn die Argumente für X so viel Platz einnehmen, dann muss X wahr/richtig sein). Berufen arbeiten: ein Beschäftigter in der Logistikbranche (Antwort-Kommentar 11, sowie als Nachtrag 12) und eine*r im Krankenhaus (Antwort-Kommentar 13) (11) Kadisha K. ich arbeite selber in der logistikbranche, und bin stolz darauf das ich arbeiten gehen MUSS, denn ich weis wie viele Menschen in den nächsten wochen online bestellen werden und auf unsere hilfe angewiesen sind... das selbe gilt für die supermärkte, ein schließen kommt nicht in frage den das wäre der anfang vom ende!!! (Ermin H., Antwort-Kommentar auf 10, 210 Reaktionen) (12) Kadisha K. und nur noch nebenbei: ich bin KEIN österreichischer staatsbürger, aber werde wenns sein muss mein leben opfern damit ich anderen helfen kann! (Ermin H., Antwort-Kommentar auf 10, 210 Reaktionen) (13) Ich arbeite im Krankenhaus und werde weiterhin arbeiten. (Li Si, Antwort-Kommentar auf 10, 38 Reaktionen) In diesen Antworten reagieren zwei Nutzer*innen auf den initialen Kommentar (10) und drücken durch ihre Anschlusserzählungen gegensätzliche Standpunkte aus. Das Ko-Erzählen ist hier also nicht solidarisch, sondern konfrontativ ausgerichtet: Die narrative Positionierung der kommentierenden Nutzer*innen als Beschäftigte in der Logistik (10) und in Gesundheitsberufen (»ich arbeite selber in der logistikbranche, und bin stolz darauf, das ich arbeiten gehen MUSS«, »Ich arbeite im Krankenhaus und werde weiterhin arbeiten«) ist als Hinweis auf die eigene Pflichterfüllung angelegt, die im Fall von (12) mit der Bereitschaft zur Selbstaufopferung auf die Spitze getrieben wird (»werde wenns sein muss mein Leben opfern damit ich anderen helfen kann!«). In diese Sequenz meldet sich die ursprünglich Kommentierende erneut zu Wort und elaboriert ihren initialen Post mit weiteren Details aus ihrer persönlichen Wahrnehmungswelt (14) In fragmentarischer Form wird hier durch das Erzählen von bestimmten Ereignissen (›Panzer im Anmarsch‹) für eine Verschwörungsthese (»wir werden doch belogen«) argumentiert. In diesen Fällen bilden die Nutzer*innen eine lose Gemeinschaft von Personen, die sich als informiert positionieren, glauben, alleine die Wahrheit zu kennen, und die Verschwörungsmythen gemeinsam teilen und nacherzählen (vgl. Weidacher 2018; vgl. zu Verschwörungserzählungen auch Niehr und Römer in diesem Band). Ziel der qualitativen Studie war es, Muster von argumentativ verwendeten Erzählfragmenten in digitaler Anschlusskommunikation zu politischen TV-Ansprachen in Deutschland und Österreich zu untersuchen. Der Bezugstext und argumentativ-narrative Stimulus der untersuchten Social-Media-Kommentare sind die sogenannten Lockdown-Reden von Angela Merkel und Sebastian Kurz, da sie zum einen aufgrund starker emotionaler Tonalität genügend Anschlussmöglichkeiten bieten und zum anderen symptomatisch für einen aktuellen, transkulturellen Diskurs stehen. Im Rahmen einer argumentationsbezogenen Toposanalyse wurde deutlich, dass persönliche Erzählfragmente vor allem als Datentopoi in Erscheinung treten und dabei folgende argumentative und rhetorische Funktionen erfüllen: Allerdings zeigt sich, dass eine Zuordnung zu bestimmten Topoi alles andere als eindeutig und trennscharf ist, denn in vielen Fällen lassen sich kontextspezifische Topoi unterschiedlichen übergeordneten Topoi gleichzeitig zuordnen. So realisiert z. B. der Topos des vorbildlichen Bürgers sowohl den Datentopos als auch den Topos aus den Maximen, weil die Vorbildfunktion durch ganz konkrete Handlungen narrativ dargestellt und mithin mit einem bestimmten Hochwertkonzept -nämlich Vorbild -assoziiert wird. Zudem wird dieses Konzept nicht an der sprachlichen Oberfläche, also durch die Nennung des Begriffs Vorbild, realisiert, sondern muss inferiert werden. Gerade hier scheint der ›Mehrwert‹ einer Argumentation mittels Erzählfragmenten zu liegen: Durch die emotionale Schilderung lassen sich Zustände (Daten) einerseits sowie zugrunde liegende Prinzipien, Werte und Konzepte andererseits gleichzeitig übermitteln, wobei letztere häufig implizit bleiben, also als zugrunde liegend vorausgesetzt werden. Dadurch scheint es einfacher möglich, einen Wertekontrast zwischen solidarisch -unsolidarisch, vorbildlich -nicht vorbildlich, gerecht -ungerecht, vernünftig -unvernünftig etc. zu etablieren, was auch eine soziale Abgrenzung zu Andershandelnden und -denkenden erlaubt. Inwiefern lassen sich daraus weitergehende Schlussfolgerungen für den interkulturellen Vergleich zwischen Österreich und Deutschland ziehen? Eine detaillierte Kontrastierung der politischen Kultur in beiden Ländern auf Grundlage unserer Daten allein ist nicht möglich. Deutlich wurde jedoch, dass sich die Unterschiede, die in der Art der Rede und deren Präsentation angelegt sind, auch auf die Form und die Intensität des Erzählens in der Anschlusskommunikation auswirken. Die Rede von Angela Merkel wurde lange erwartet und so zu einem Medienereignis, das entsprechend viel Aufmerksamkeit auf sich versammeln konnte, die sich auch bei der narrativen Weiterverbreitung der Rede auf den hier untersuchten Social-Media-Plattformen wiederfindet. Die Rede von Sebastian Kurz hingegen steht im Zusammenhang mit einer Vielzahl von verschiedenen Ankündigungen, Pressestatements, Parlamentsreden, Live-Interviews etc., bei denen Aussagen von Kurz über einen längeren Zeitraum und über verschiedene Wege medial verteilt veröffentlicht wurden. Diese unterschiedliche gesellschaftliche Wahrnehmung der Rede zeigt sich auch darin, dass Merkels Ansprache relativ bald als »historisch« bezeichnet wurde (und beispielsweise auch einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat), während die Fernsehansprache von Kurz keine solchen Spuren hinterlassen hat. Das digitale Anschlusserzählen kann man daher im Fall von Merkel in punktuell verdichteter Form auf den diversen Plattformen verfolgen, während bei Kurz die Anschlusskommunikation zeitlich und räumlich verteilt wird. Insgesamt unterscheiden sich die narrativen Muster der deutschen und österreichischen Anschlusskommentare kaum voneinander: Übergreifend dienen bestimmte Sequenzen der Reden als Auslöser für Erzählungen, die häufig in komplexe Argumentationen eingebettet sind. Was wir in unserer Analyse nicht gut zeigen konnten, sind plattformspezifische Unterschiede. Ein Grund dafür liegt in der Heterogenität der Daten, die auf diversen Social-Media-Accounts veröffentlich wurden und im Ländervergleich zudem zum Teil deutliche Unterschiede in der Nutzungsintensität aufweisen, was einen systematischen Vergleich erschwert. Mit aller Vorsicht können wir aber abschließend auf einige Unterschiede verweisen: Wie in den Analysen bereits erwähnt, ist es für Facebook-Daten charakteristisch, dass die Reden gelobt werden und die Notwendigkeit und Eindringlichkeit der Appelle hervorgehoben werden, während auf YouTube zum Teil deutlich längere und kritischere Kommentare zu finden sind. Für die Kommentare auf Instagram scheint es insgesamt charakteristisch zu sein, dass sie sehr personenzentriert sind und fast ausnahmslos um die Außenwirkung von Kurz und Merkel kreisen. Dabei positionieren sich die Nutzer*innen entweder als Anhänger*innen oder Gegner*innen der Politiker*innen, dazwischen scheint es nichts zu geben. Diese Polarisierung wirkt sich insofern auf das Erzählen aus, als themenbezogene Argumentationen und längere Narrationen auf Instagram nur äußerst selten zu finden sind. Die größten Unterschiede im Vergleich zu den anderen Plattformen lassen sich für Twitter festhalten. Hier ist ebenso eine starke Polarisierung zwischen Anhänger*innen und Gegner*innen zu beobachten, allerdings ist diese deutlich (partei-)politisch motiviert (vgl. hierzu auch Klemm/Michel 2016) . Für die Gruppe der Anhänger*innen ist charakteristisch, dass sie -ähnlich wie bei Instagram -die Lockdown-Reden lobt und die dort hervorgebrachten Argumente und Appelle unterstützt, häufig verbunden mit dem Eindringlichkeitstopos wie er vor allem bei Facebook gehäuft auftritt. Eine Besonderheit des Erzählens auf Twitter ist, dass sich hier auch zahlreiche Spitzenpolitiker*innen an der metakommunikativen Kommentierung der Lockdown-Reden beteiligen und die Reden auch im Kontrast mit den Ansprachen anderer Staatschefs (Macron, Trump etc.) vergleichen. Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass narrative Sequenzen bei Twitter -bezogen auf unser Korpus -die Ausnahme darstellen. Es wäre an weiteren politischen TV-Ansprachen -auch zu unterschiedlichen Diskursen -zu überprüfen, inwiefern es sich hier tatsächlich um universelle Muster von Argumentation mittels Narration handelt, oder ob es kulturspezifische Ausprägungen gibt. Ferner, ob sich weitere narrative Muster erkennen lassen und wie sie gegebenenfalls zu typologisieren sind. Gerade bei digitalem Erzählen kommt der mediendispositiven Gestaltung eine wichtige Bedeutung zu, sodass in einem nächsten Schritt die hier nur tentativ und tendenziell -an einem kleinen Korpusgewonnenen Beobachtungen zu der Plattformspezifik narrativer und argumentativer Muster anhand umfangreicherer Datenmengen verifiziert werden sollten. Schließlich wäre das Offenlegen der Mechanismen des gemeinschaftlichen Erzählens von Verschwörungsmythen, das sich auch in unseren Daten an mehreren Stellen zeigt, eine wichtige Aufgabe einer (medien-)linguistischen Analyse des vernetzten Erzählens im Kontext mediatisierter Politik. Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL. Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/ licenses/by/4.0/deed.de. Mediatisierte Praktiken. Zur Rekontextualisierung von Anschlusskommunikation in den Sozialen Medien In: Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke (Hg Online data collection Ruth Ayaß/Jörg Bergmann (Hg.): Qualitative Methoden der Medienforschung. Reinbeck: Rowohlt Stories: Big or small; Why do we care? In: Narrative Inquiry 16 Small stories as a new perspective in narrative and identity analysis Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion: ein neuer Vorschlag zu einem alten Problem Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft Bd Narrative Muster und Diskursanalyse: Ein datengeleiteter Ansatz Small stories and extended narratives on Twitter Der Alltag des Erzählens Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit Thinking big with small stories in narrative and identity analysis Small Stories, Interaction and Identities. Amsterdam: John Benjamins From Narrating the Self to Posting *Self(Ies): A Small Stories Approach to Selfies Small Stories Research: A Narrative Paradigm for the Analysis of Social Media Narration und Persuasion in der politischen Rede Ko-Orientierung in der Medienrezeption. Praktiken der Second Screen-Nutzung Die Verengung der Welt. Zur medialen Konstruktion Deutschlands unter Covid-19 anhand der Formate ARD Extra -Die Coronalage und ZDF Spezial Kleine interaktionale Erzählungen als Ressourcen der Fremd-und Selbststilisierung Siehe da, es gab Ermessensspielräume«. Argumentatives Erzählen -Erzählendes Argumentieren Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells. In: montage/av 4/1/1995 Beispiele in Gesprächen: Zur Form und Funktion exemplarischer Geschichten Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern Vom Einzeltopos zur diskurstyp-spezifischen Topos-Konfiguration Topik und Frametheorie als argumentations-und begriffsgeschichtliche Instrumente, dargestellt am Kolonialdiskurs Politik und Rhetorik. Eine Einführung SocialTV und Politikaneignung. Wie Zuschauer die Inhalte politischer Diskussionssendungen via Twitter kommentieren Big Data -Big Problems? Zur Kombination qualitativer und quantitativer Methoden bei der Erforschung politischer Social-Media-Kommunikation ›TV-Duell‹ und ›Elefantenrunde‹: Social-TV zwischen Deliberation und Wahlkampfarbeit. In: aptum 03/2016 Ansätze zu einer multimodalen Erzählanalyse. Einführung in das Themenheft Narrative Analysis: Oral Versions of Personal Experience Mediale Durchformung. Fernsehinteraktion und Fernsehmündlichkeit in Gesprächen im Fernsehen ›I Tweet Honestly, I Tweet Passionately‹: Twitter Users, Context Collapse, and the Imagined Audience Mediatisierungslinguistik. Medienkulturlinguistische Untersuchungen zur Mediatisierung am Beispiel des Handlungsfeldes Politik. Dissertation an der Universität Koblenz-Landau. Neologismenwörterbuch Zur Theatralität und Multimodalität des Erzählens in der Fernseh-Unterhaltung Narratives Online: Shared Stories in Social Media From small stories to networked narrative: The evolution of personal narratives in Facebook status updates Über Nachrichten reden, ›aber hart!‹. Emotionalisierung, multimodale Inszenierung und kommunikative Aneignung von Nachrichtentexten in Videoblogs auf YouTube Alltägliche Medienkritik in der Social-Media-Interaktion auf Facebook. Zur Rekonstruktion medienkritischer Praktiken am Beispiel des Facebook-Accounts von Zeit im Bild (ZIB). In: Hans-Jürgen Bucher (Hg.): Medienkritik: Zwischen ideologischer Instrumentalisierung und kritischer Aufklärung. Köln: Halem Zum Beispiel. Beispielverwendung in der verbalen Interaktion Wirtschaftskrisen eine linguistische Diskursgeschichte »Wirtschaftskrisen« begründen/mit »Wirtschaftskrisen« legitimieren. Ein diskurshistorischer Vergleich Avatars of Story ›Narrative analysis‹ thirty years later Changing media -Changing democracy? Medienwandel -Wandel der Demokratie? Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Erzählen fürs Argumentieren. Das Verhältnis von Narration und Argumentation in Konfliktbearbeitungen im Gespräch Soziale Netzwerke (Social Media). In: Matías Martínez (Hg.): Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch »Passen Sie gut auf sich und Ihre Liebsten auf« und »Vive la France« -Linguistische Anmerkungen zu den TV-Ansprachen von Merkel und Macron Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Christian Klein/Matías Martínez (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens Erzählen im Internet. In: Matías Martínez (Hg.): Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch Erzählen als Element politischer Kommunikation in Sozialen Medien. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Diskursorientierte Argumentationsanalyse