key: cord-0062113-b3zzy7ic authors: Butterwegge, Christoph title: Wohnungleichheit in Deutschland: Erscheinungsformen, Hintergründe und Gegenmaßnahmen date: 2021-04-20 journal: Sozial Extra DOI: 10.1007/s12054-021-00378-8 sha: 02194ddaf860e324268bfa6d53fd78d8e93a6584 doc_id: 62113 cord_uid: b3zzy7ic Seit den 1980er-Jahren hat die staatliche Wohnungs‑, Wohnungsbau- und Stadtentwicklungspolitik privaten Investoren das Feld überlassen. Anschließend haben sich die Bedingungen für Mieter_innen zunehmend verschlechtert, auch weil Kapital nach der Finanzkrise bevorzugt in „Betongold“ investiert wurde. Die prekären Zustände auf dem Wohnungsmarkt für Mieter_innen sollten Anlass sein, über eine grundlegende Wende in der Wohnungspolitik nachzudenken, etwa auch in Form eines „Grundrechts auf Wohnraum“. D eutlich wie nie zuvor seit Gründung der Bundesrepublik schlägt sich die Klassen-bzw. Schichtstruktur heute im Stadtbild nieder, wenn auch von lokalen Traditionen und manchen Besonderheiten gebrochen und durch andere Einflussfaktoren modifiziert. Jederzeit spürbar ist die sozialräumliche Ungleichheit in den prosperierenden Großstädten und Metropolregionen der Bundesrepublik. Der Erfurter Hochschullehrer Marcel Helbig und die WZB-Mitarbeiterin Stefanie Jähnen untersuchten die Entwicklung der residentiellen Segregation in deutschen Städten und stellten dabei fest, dass sich diese zuletzt erheblich verstärkt hat. "Ähnlich wie in den USA ist die soziale Spaltung der Städte bei Kindern bzw. Familien mit Kindern stärker ausgeprägt als bei der Gesamtbevöl-kerung." (Helbig und Jähnen 2018, S. I) Besonders ungleich verteilten sich die in Haushalten mit SGB-II-Bezug aufwachsenden Kinder. Quartiere, in denen über 50 % aller Kinder von Sozialgeld lebten, fanden Helbig und Jähnen in 36 der 74 Städte, die sie für ihre Studie ausgewählt hatten. Wenn eine Gesellschaft wie die Bundesrepublik in sozioökonomischer Hinsicht auseinanderdriftet (vgl. hierzu: Butterwegge 2020 Butterwegge , 2021 , gehört ihr sozialräumlicher Zerfall zu den brisantesten Folgen. Da sich Ungleichheit keineswegs darauf beschränkt, dass die Gesellschaftsmitglieder unterschiedlich viel besitzen oder unterschiedlich hohe Einkommen haben, sondern fast in sämtlichen Lebensbereichen deutliche Spuren hinterlässt, ist auch das Wohnen betroffen -heute vielleicht die Soziale Frage in Deutschland schlechthin. Durch die Bundesrepublik verläuft ein tiefer Riss, der sie in ein gesellschaftliches Oben und Unten sowie in wohlhabende und abgehängte Regionen, Kommunen und Stadtviertel teilt. Zu beobachten ist außerdem, was man eine sozioökonomische Sezessionsbewegung nennen kann: Während die Einkommensschwachen, Ge-ringverdiener_innen und Transferleistungsbezieher_innen abgehängt und in die Hochhausviertel am Rand der Großstädte abgedrängt werden, weichen die materiell Bessergestellten in gute und separate Wohnviertel bis hin zu Gated Communitys aus. Sie ziehen sich aus freien Stücken in eine Parallelwelt zurück, die Privilegierten vorbehalten bleibt, und der eine ganz andere Welt gegenübersteht, die nicht selbstgewählt ist und der Unterprivilegierte nur schwer entfliehen können. Von der "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse", die Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz fordert, kann selbst mehr als drei Jahrzehnte nach der Vereinigung von BRD und DDR noch keine Rede sein. Ein sozialräumlicher Ausgleich, wie ihn dieser "politische Leitbegriff" vorsieht, der laut Jens Kersten, Claudia Neu und Berthold Vogel (2019, S. 4 ) ein "Verfassungsauftrag für öffentliches Handeln" ist, hat bisher nicht stattgefunden: "Daseinsvorsorge und Infrastrukturen stehen nicht überall in angemessenem Umfang zur Verfügung, um die gesellschaftliche Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Dies gilt nicht nur für den ländlichen Raum, sondern auch für viele großstädtische Quartiere, die unter Segregation leiden." In den wirtschaftlich erfolgreichen Ballungszentren greifen vermehrt Wohnungsnot und Mietwucher um sich, weshalb es zumindest in den meisten Großund Universitätsstädten selbst Normalverdiener_innen schwerfällt, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Verschärft wird das Problem durch eine sehr niedrige Wohneigentumsquote der Bundesrepublik, die so niedrig ist wie in keinem anderen Land der Eurozone (vgl. European Central Bank 2020, S. 1), was mit der extrem starken Konzentration des Vermögens zusammenhängt. In den Städten wohnen die allermeisten Menschen zur Miete, weil die Wohnungen entweder reichen Privatleuten oder großen Immobilienunternehmen gehören, denen es häufig in erster Linie um eine hohe Rendite geht. Da die Einkommens-und erst recht die Vermögensverteilung viel ungleicher ist als die Verteilung der Miethöhen, finden Personen, Familien und Haushalte mit geringem Einkommen oft keine für sie bezahlbaren Wohnungen. "Deshalb verschärft der Wohnungsmarkt schon durch seine Preisstruktur die Einkommensungleichheit." (Lohauß 2019, S. 310) Über die Lage, Größe und Ausstattung der Wohnung bzw. des Eigenheims entscheidet die finanzielle Leistungsfähigkeit, was dazu führt, dass die Spaltung der urbanen Quartierswelt voranschreitet. Die gegenwärtige Wohnungsmisere und der "Mietenwahnsinn" sind aber nicht vom Himmel gefallen, sondern durch politische Entscheidungen erzeugt worden. Seit den 1980er-Jahren überließ die staatliche Wohnungs-, Wohnungsbau-und Stadtentwicklungspolitik privaten Investoren das Feld. CDU, CSU und FDP schafften zum 1. Januar 1990 das Wohngemeinnützigkeitsgesetz ab. Damit hatte der Staat z. B. genossenschaftlichen Wohnungsbaugesellschaften bis Ende der 1980er-Jahre bestimmte Steuervorteile gewährt, sie dafür jedoch zur Beschränkung auf eine Kostenmiete und zur Begrenzung von Gewinnausschüttungen verpflichtet. Vorher preisgebundene Wohnungsbestände gelangten daraufhin auf den Immobilienmarkt, wo es primär um hohe Renditen ging. "Mit dem Fortfall der Gemeinnützigkeit wurden die öffentlichen Wohnungsgesellschaften zum Beutegut von kapitalistischen Immobilienunternehmen, die als sogenannte Heuschrecken die Wohnungsbestände aufkauften." (Krüger 2017 Seit 2015 gehört der von "Deutsche Annington" in "Vonovia" umbenannte Immobilienriese zu den 30 wertvollsten Konzernen, die im Dax gelistet sind. Seine exorbitanten Profite erwirtschaftete das Unternehmen durch Luxussanierungen und Wertsteigerungen seines wachsenden Immobilienbestandes, rüde Methoden der "Entmietung" und gesetzlich erlaubte Mieterhöhungen von bis zu elf bzw. acht Prozent nach Modernisierungsmaßnahmen. Auch die Deutsche Wohnen, der vor allem in der Bundeshauptstadt und im Rhein/Main-Gebiet viele Mietshäuser gehören, hat es nach Gewinneinbußen der Lufthansa während der Covid-19-Pandemie in den Dax geschafft. Seither drohen ihren Mieter_innen aufgrund der hohen Renditeerwartungen ausländischer Investoren und großer Vermögensverwalter einerseits noch rigidere Praktiken des Immobilienkonzerns. Andererseits hat sich die Konzernpitze aufgrund des Negativimages, des Volksbegehrens "Deutsche Wohnen & Co. enteignen!" und des im Januar 2020 vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossenen Mietendeckels offenbar für einen weniger rücksichtslosen Umgang mit den Mieter_innen entschieden. Auf dem deutschen Mietwohnungsmarkt haben Wohnimmobilien-AGs zuletzt erheblich an Bedeutung gewonnen. Sie erreichen zwar nur einen Marktanteil von etwa vier Prozent, dieser konzentriert sich jedoch auf die lukrativen Metropolregionen, weil Konzerne wie Deutsche Wohnen, LEG und Vonovia nicht in der Fläche präsent sind (vgl. Metzger 2020, S. 194 Raumordnungs-, Stadtentwicklungs-und Wohnungspolitik dürfen nicht an den Kapitalverwertungsinteressen von (Groß-)Investoren, sondern müssen an den Bedürfnissen der (potenziellen) Bewohner_innen von Stadtteilen orientiert sein. Ertragserwartungen von Finanzinvestoren und Wohnbedürfnisse von Mieter_innen sind weitgehend unvereinbar. Nirgendwo versagt das kapitalistische Wirtschaftssystem so eklatant wie bei der Wohnungsversorgung. Da sich der Markt als unfähig erwiesen hat, eine adäquate Wohnungsversorgung für alle Bevölkerungsschichten sicherzustellen, muss sie als öffentliche Aufgabe begriffen und vom Staat aus Gründen der sozialen Verantwortung für seine Bürger_innen gewährleistet werden, dass niemand wegen seines geringen Vermögens und seines zu niedrigen Einkommens auf der Strecke bleibt. Statt die "immobilienwirtschaftliche Landnahme" deutscher Städte zu fördern, müssen Parlamente, Regierungen und Verwaltungen laut Andrej Holm (2014, S. 171 f.) den "Ausstieg aus einer profitorientierten Wohnungspolitik" vollziehen. Dies fällt den politisch Verantwortlichen immer schwerer, weil die Macht der Immobilienwirtschaft und der großen Wohnungsunternehmen ständig wächst. Der ehemalige Münchner Oberbürgermeister und spätere Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Hans-Jochen Vogel, hat bis zu seinem Tod im Juli 2020 immer wieder die zentrale Bedeutung des Bodens und der Bodenpreise hervorgehoben. Da es sich beim Grund und Boden um eine "Grundvoraussetzung menschlicher Existenz" handle, die man nicht "dem unübersehbaren Spiel der Marktkräfte" überlassen könne, müsse hier politisch angesetzt werden, wolle man das Problem der Preisexplosion im Wohnungsbereich lösen, meinte Vogel (Vogel 2019, S. 48) : "Die Wertschätzung des knappen und unentbehrlichen Gutes Boden darf sich nicht länger in spekulativen Gewinnerwartungen ausdrücken, sollte vielmehr im Sinne einer nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Nutzung erfolgen, die den Boden als wesentliche Grundlage der Daseinsvor-sorge sowohl für die heutige Bevölkerung als auch für die kommenden Generationen anerkennt." Folgerichtig schlug der SPD-Politiker eine Kommunalisierung vor, d. h. die Überführung wohnbaurelevanter Grundstücke in Gemeindeeigentum. "Sie scheiden damit aus den Markt-Gütern aus, deren Preis mit der Absicht des Wertzuwachses und des Vermögensgewinnes nach den Regeln von Angebot und Nachfrage in die Höhe getrieben werden. Denn ihre Wertsteigerung kommt nur noch den Gemeinden zugute." (Vogel 2019, S. 71 Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland (2. Aufl.) Ungleichheit in der Klassengesellschaft. Köln: Pa-pyRossa The Household Finance and Consumption Survey -Wave 2017. Statistical Tables Instutionelle Investoren als Stadtgestalter Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? -Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten Mietenwahnsinn. Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon profitiert Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21 Gleichwertige Lebensverhältnisse -für eine Politik des Zusammenhalts Die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände als Herausforderung für die europäische Stadt Soziale Ungleichheit. Private Vermögensbildung, sozialstaatliche Umverteilung und Klassenstruktur Zur sozialen Polarisierung der Wohnungsmärkte in Deutschland im Kontext europäischen und globalen Wirtschaftswachstums Die Finanzialisierung der deutschen Ökonomie am Beispiel des Wohnungsmarktes Die Kapitalisten des 21 Bürger ohne Obdach -Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum. Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit Mehr Gerechtigkeit! Wir brauchen eine neue Bodenordnung -nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar