key: cord-0061662-r26cjoij authors: Bujard, Birgit; Wessels, Wolfgang title: Der Brexit-Prozess und die Austrittsdoktrin: Die Führungsrolle des Europäischen Rats date: 2021-04-01 journal: Z Außen Sicherheitspolit DOI: 10.1007/s12399-021-00842-z sha: a7570058acd69d5dfb629d6671b5698058fc53ca doc_id: 61662 cord_uid: r26cjoij To understand the Brexit process an analysis of the European Council’s role is essential. In the process of shaping the relationship with the United Kingdom it assumed the lead and took key decisions on the negotiating procedure and the EU’s goals. It framed its decisions in a narrative, which highlighted the EU’s achievements and the differences between members and non-members. Similar to the membership conditions these provisions and decisions could become the EU’s exit doctrine. Im Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft (EG) und späteren Europäischen Union (EU) galt das Vereinigte Königreich schon früh als "schwieriger Partner" (George 1998, S. 1, eigene Übersetzung) . Zwar hatte Winston Churchill 1946 die Schaffung der "Vereinigten Staaten von Europa" gefordert, sah sein Land aber nicht als Teil davon (Churchill zit. n. Gastgeyer 2005, S. 47, 49) . Zu Beginn des Einigungsprozesses entschied sich das Land dann auch gegen eine Beteiligung. Auch nach dem Beitritt 1973 zeigte es sich der weiteren Integration häufig zögerlich bis ablehnend gegenüber und präferierte ein Verhältnis, wie es Margaret Thatcher 1988 definierte: die "willige und aktive Kooperation zwischen unabhängigen souveränen Staaten ist der beste Weg, um eine erfolgreiche Europäische Gemeinschaft aufzubauen" (Thatcher 1988, eigene Übersetzung) . Der Europäische Rat beziehungsweise die Staats-und Regierungschefs 1 der Mitgliedstaaten haben seit den 1960er-Jahren eine zentrale Rolle bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen EG/EU und dem Vereinigten Königreich gespielt. So haben die Staats-und Regierungschefs der sechs Gründerstaaten 1969 auf dem Gipfel in Den Haag, den man als Vorläufer des Europäischen Rates sehen kann, die Aufnahme des Landes beschlossen, nachdem dessen erste beiden Beitrittsgesuche am Widerstand Charles de Gaulles gescheitert waren (Knipping 2004, S. 156-157) . Seit seiner Gründung 1974 hat der Europäische Rat immer wieder Beschlüsse zu besonderen Anliegen des Königreichs getroffen: Neben der regelmäßigen Beschäftigung im Rahmen der Haushaltsbeschlüsse vereinbarten seine Mitglieder gemeinsam auch Ausnahmeregeln für das Land -etwa zur Wirtschafts-und Währungsunion Anfang der 1990er-Jahre und später zum Schengenraum (Wessels 2016, Kap. 4) . Diese Opt-outs waren Ausdruck einer differenzierten Integration (Tekin 2020 Neben der Strukturierung des Verfahrens nahm der Europäische Rat auch die Beschlussfassung der Verhandlungsposition vor und zeigte, dass er vertragsgemäß die "politischen Zielvorstellungen" (Art. 15 (1) EUV) für die EU vorgeben würde. Beginnend mit der ersten Sitzung nach dem Referendum sowie im September 2016 in Bratislava fasste er seine Beschlüsse in ein Narrativ, das die Errungenschaften der EU und die Unterschiede zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern hervorhob. Bei der Einordnung der Auswirkungen des Referendums auf den Einigungsprozess bekräftigten die verbleibenden Mitglieder im Juni 2016, "vereint zu bleiben und im Rahmen der EU zusammenzuarbeiten, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen und Lösungen im Interesse unserer Nationen und Völker zu finden" (Europäischer Rat 2016b, S. 2). In Bratislava machte er deutlich, dass er das britische Votum nicht als Grund für ein Ende der Integration sah: "Aufbauend auf diese gemeinsame Geschichte sind wir entschlossen, die EU mit 27 Mitgliedstaaten zum Erfolg zu führen" (Europäischer Rat 2016c, S. 1). In (Fella et al. 2020, S. 15 ). Auch bei der Fischerei erreichte die EU ihre Maximalposition einer Beibehaltung bestehender Regelungen nicht. Allerdings ist die Einigung näher an dem, was die EU wollte, als an dem, was das Vereinigte Königreich ursprünglich als Ziel formulierte (Stewart 2020) . Angesichts üblicher Kontroversen bei zentralen Gestaltungfragen der Union ist es überraschend, dass die Beratungen im Europäischen Rat entgegen landläufiger Erwartungen beim Brexit nicht zu einem Auseinanderfallen der 27 sondern zu einem hohen Grad von Geschlossenheit führten. Die enge Koordinierung auf höchster politischer Ebene machte es möglich. Diese Geschlossenheit gab London auch keine Chance der Spaltung der Union im Verhandlungsverlauf und trug dazu bei, dass der Europäische Rat seine Schlüsselrolle so erfolgreich einnehmen konnte. Die 27 Staats-und Regierungschefs blieben bei der gemeinsam beschlossenen Ablehnung bilateraler Verhandlungen, vertraten die EU-Position und gingen nicht auf britische Versuche ein, an der Kommission vorbei zu verhandeln. So auch die großen Mitgliedstaaten: Bei Boris Johnsons Antrittsbesuchen im August 2019 betonten Angela Merkel und Emmanuel Macron hinsichtlich dessen Ruf nach Streichung der bestehenden Nordirland-Regelung die EU-Position und verhandelten nicht unilateral (Kahlweit 2019) . Die EU-Mitglieder solidarisierten sich früh mit Irland und nur dessen Premier Leo Varadkar verhandelte im Herbst 2019 bilateral mit Johnson über die irische Grenzfrage, was den Abschluss eines geänderten Vertrags ermöglichte (Fleming et al. 2019) . Bei den Verhandlungen über das künftige Verhältnis wurde eine brüchigere Front erwartet, da die Länder unterschiedlich stark von neuen Regeln etwa bei Fischerei oder Handel betroffen sein würden. Doch bis zum Verhandlungsende hielten die Staats-und Regierungschefs an ihren Leitlinien fest. Anders als bei den Verhandlungen über den Austritt befasste sich der Europäische Rat nicht so intensiv mit denjenigen über die künftige Beziehung -nur bei vier seiner 13 Sitzungen im Jahr 2020. Bei der umfangreichsten Diskussion im Oktober trafen die Staats-und Regierungschefs besondere Vorkehrungen, um diese vertraulich zu halten: Die Beteiligten durften währenddessen keine Mobilgeräte dabeihaben (Eder 2020) . Dass sie 2020 weniger Zeit für Debatten über das Verhältnis zum Königreich aufbrachten, hatte mehrere Gründe. Zum einen gab es Dringlicheres: An erster Stelle stand der Umgang mit den gesundheitspolitischen und ökonomischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Zudem war die Verabschiedung des Mehrjährigen Finanzrahmens für 2021-2027 und eines europäischen Corona-Wiederaufbaufonds schwierig und langwierig. Die erst im Dezember 2020 erfolgte Einigung darüber war zuvor durch Ungarn und Polen wegen des neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zum Schutz des EU-Haushalts blockiert worden (Gnauck et al. 2020) . Allerdings scheinen die 27 auch keine Notwendigkeit der Änderung ihrer Leitlinien gesehen zu haben. K Im Herbst 2020 zeigten sich zwar Differenzen. Diese führten aber nicht zur Spaltung und Verhandlungsalleingängen. So forderten die Staats-und Regierungschefs Frankreichs, Belgiens und der Niederlande im November die Publikation von Notfallmaßnahmen im Fall eines No-Deals. Die Europäische Kommission hatte dies bis dahin nicht getan, um zu vermeiden, dass London es als Indiz sehen könnte, die EU habe die Hoffnung auf eine Einigung aufgegeben (Moens und Von der Burchard 2020) . Auch bei den noch offenen Themen wurden Unterschiede sichtbar. So erklärte etwa Frankreich im Oktober, es sei nicht bereit auf Kosten der eigenen Fischer ein Abkommen zu schließen (Moens 2020) . Doch auch hier kam es nicht zum Bruch. Auch nach dem ersten mehrerer Gespräche zwischen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Johnson im Dezember forderte der britische Premier erneut bilaterale Verhandlungen mit Macron und Merkel, was von Unionsseite abgelehnt wurde (Boffey und Elgot 2020). Der Europäische Rat war der zentrale Gestalter des Brexit-Prozesses und der neuen EU-britischen Beziehung. Mit seinen Entscheidungen, die er in ein Narrativ fasste, das die Errungenschaften der EU und die Unterschiede zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern hervorhob, hat er nicht nur das Verhältnis zum Vereinigten Königreich, sondern wohl auch eine nachhaltig wirkende "Austrittsdoktrin" (Lippert 2019, S. 632; von Ondarza 2020, S. 92) festgelegt. Somit existiert nun ein Gegenstück zu den Beitrittskriterien, die er 1993 in Kopenhagen formulierte (Europäischer Rat 1993, S. 13 Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL. Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. 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EUCO 1/16 Erklärung. 29. Juni Erklärung von Bratislava Informelles Treffen der Staats-und Regierungschefs von 27 Mitgliedstaaten sowie des Präsidenten des Europäischen Rates und des Präsidenten der Europäischen Kommission. 15. Dezember The Rome Declaration. 25 Leitlinien. 29 EUCO XT EUCO XT Die Erklärung von Sibiu. 9 A new strategic agenda EUCO XT EUCO XT An assessment of the economic impact of Brexit on the EU 27 The UK-EU trade and cooperation agreement: summary and implementation. House of Commons Library Briefing Paper Nr Can Johnson get Brexit done? Financial Times An awkward partner: Britain in the European Community Dez.). Das Veto verhindern. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 6. Institute for Government (2021) Johnson blitzt auch in Paris ab Rom, 25. März 1957. Die Einigung Europas. München: Deutscher Taschenbuch Verlag Beitritt, Austritt und europäische Assoziierung -Vertragsgrundlagen und politische Praxis der Europäischen Union Brexit trade problems: what's gone wrong and can it be fixed? The Conversation Michel Barnier hunts for wiggle room on fish Three EU countries call on Commission to step up no-deal Brexit preparations Die Methode "Barnier" -Lehren aus der Verhandlungsführung der EU beim Brexit Annex to Council Decision authorising the opening of negotiations with the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland for a new partnership agreement What does the trade deal mean for fisheries? UK in a changing Europe Differenzierte Integration Sept.). Speech to the College of Europe The European Council Chancen und Risiken von Aufbau-und Abbauflexibilisierung: der Europäische Rat vor einem Trilemma