key: cord-0059092-18lpyjat authors: Lentze, Michael J. title: Akute Gastroenteritis und postenteritisches Syndrom (persistierende Diarrhö) date: 2020-06-22 journal: Pädiatrie DOI: 10.1007/978-3-662-60300-0_148 sha: 7fa09b36967ecbfb7acb3749c32c013c4d9f5d1a doc_id: 59092 cord_uid: 18lpyjat Der akute Brechdurchfall bei Säuglingen ist eine ernste Krankheit, die durch Erbrechen und Durchfall zu schweren Flüssigkeits- und Elektrolytverlusten führt. Diese können zum hypovolämischem Schock führen. Auslöser sind meist Viren (Rotavirus, Norovirus). Der Flüssigkeitsverlust wird klinisch eingeschätzt. Hautfarbe, -temperatur, -turgor, Puls, trockene Schleimhaut im Mund und Augen, Niveau der Fontanelle sowie Rekapillarisierungszeit der Finger ergeben das Ausmaß der Exsikkose. 3–8 % Exsikkose erfordert eine orale Rehydratation mit Glukose-Elektrolytlösungen, mehr als 9 % erfordert eine i.v.-Therapie. Nach Zufuhr p.o. von 50 ml/kg KG/4 h erfolgt erneut die Beurteilung der Exsikkose. Nach Erholung wird mit der Realimentation begonnen. Das postenteritische Syndrom/persistierende Diarrhö ist eine Komplikation des akuten Brechdurchfalls und beginnt 14 Tage nach Beginn der akuten Gastroenteritis. Bei Persistenz führt er in Schwellenländern zu einer Verschlechterung der Malnutrition. Er ist häufig letal. Ursache sind meist bakterielle Infektionen, bzw. Mischinfektionen mit Parasiten (Giardia lamblia, Amöben oder Cryptosporidien). Die Schleimhaut des Dünndarms setzt sich aus 2 verschiedenen Zelltypen zusammen: • den reifen Enterozyten, die die Hydrolyse und Absorption von Nahrungsstoffen übernehmensie befinden sich in der Mitte und Spitze der Zottenund • den unreifen Kryptenzellen, die durch Zellteilung aus Stammzellen die lebenslange Reserve für die an der Zottenspitze abgestoßenen Enterozyten darstellen. Sie sind sekretorische Zellen, die über den in den Kryptenzellen lokalisierten CFTR ("cystic fibrosis transmembrane conductance regulator") Clin das Kryptenlumen sezernieren. Mit dem Clwerden Na + und Wasser sezerniert. Das Ausmaß des Cl --Transportes ist abhängig von der intrazellulären Konzentration von cAMP (zyklischem Adenosinmonophosphat). Die unreifen Kryptenzellen verlassen nach 24 Stunden die proliferative Zone, wandern entlang der Zotte als reife absorptive Zellen bis zur Zottenspitze hinauf und werden nach weiteren 96 Stunden nach apoptotischem Zelltod abgestoßen. Die Dynamik dieses Reifungsprozesses bedingt, dass die gesamte Dünndarmoberfläche, die die Größe eines Tennisplatzes hat, alle 5-6 Tage neu synthetisiert wird und ebenfalls verloren geht. Die verlorene Zellmasse wird zum größten Teil abgebaut und reutilisiert. Für einen Säugling im 1. Lebensjahr bedeutet dies eine 73-malige Erneuerung der Dünndarmoberfläche. Bei Durchfallerkrankungen wird dieses dynamische Gleichgewicht zwischen Synthese und Verlust gestört. Insbesondere bei Virusinfektionen kommt es innerhalb von wenigen Stunden zur Zellzerstörung, die von proximal nach distal zunimmt. Morphologisch flacht die Dünndarmschleimhaut binnen 18 Stunden fast vollkommen ab. Die sich regenerierenden Zellen bestehen vornehmlich aus unreifen Kryptenzellen. Sie können die Aufgaben der Hydrolyse und Absorption nicht übernehmen und sezernieren stattdessen Clsowie andere Ionen und Wasser. Unter den Nahrungsmitteln spielen die Kohlenhydrate beim akuten Brechdurchfall eine dominierende Rolle. Durch den Verlust von reifen absorptiven Zellen bei Virusenteritis ist die hydrolytische Aktivität der Laktase, Maltase-Glukoamylase sowie die Transportkapazität des natriumabhängigen Glukosetransporters (SGLT1), der natriumabhängigen Aminosäuretransporter und des für Fruktose zuständigen GLUT5-Transporters in der Bürstensaummembran der Enterozyten vermindert. Es kommt zur einer gemischten sekretorischosmotischen Diarrhö, wenn der von proximal nach distal sich ausbreitende Verlust von Dünndarmoberfläche den noch erhaltenen funktionstüchtigen distalen Teil überwiegt. Für die Rehydratation von Wasser und Elektrolyten steht der in der apikalen Membran der Enterozyten gelegene SGLT1 ganz im Vordergrund (Abb. 1) Er transportiert Glukose und Na + gegen einen Konzentrationsgradienten in die Zelle. Intrazellulär findet Na + -Anschluss an die in der basolateralen Membran gelegene Na + -K+-ATPase und wird im Austausch gegen K + in den interzellulären Spalt transportiert und hier aufkonzentriert. Gegenüber dem Lumen des Darms entsteht hierbei ein osmotisches Ungleichgewicht. Folge davon ist, dass Wasser aus dem intestinalen Lumen in den interzellulären Spalt strömt und Anschluss an das kapilläre Blutsystem findet. Die nicht intrazellulär utilisierte Glukose wird wahrscheinlich durch den in der basolateralen Membran gelegenen GLUT2-Transporter in den interzellulären Spalt transportiert. Bei viraler Gastroenteritis werden Viren nach Adhäsion intrazellulär aufgenommen. Sie zwingen der Wirtszelle ihre Replikation auf und zerstören sie. Dadurch werden neue Viruspartikel freigesetzt, die weiter distal gelegene Enterozyten befallen. Die Dünndarmmukosa erholt sich innerhalb von 2 Zellzyklen (5-10 Tage) vollständig. Die Viren werden durch das GALT ("gut-associated lymphoid tissue") zerstört. Während der akute Brechdurchfall durch eine virale Infektion immer mit Zelluntergang der Dünndarmschleimhaut einhergeht, ist der Mechanismus bei bakterieller Infektion ein anderer. Hier kommt es zunächst zur Adhäsion Der Flüssigkeits-und Salzverlust in den ersten 24 Stunden ist je nach Erreger verschieden. Während bei Cholera sehr viel Na + , Clund Wasser verloren geht als Folge der maximalen Stimulation der intrazellulären Adenylatzyklase, geht bei der Rotavirusinfektion und der enterotoxischen Escherichia-coli (ETEC)-Infektion mehr K + verloren. Im Mittel kann davon ausgegangen werden, dass 80-150-250 ml/kg KG/24 h verloren gehen. Dies entspricht einer 3-, 4-bis 9-bzw. 10-prozentigen Exsikkose. Getränke sind wegen ihres fehlenden Salzgehaltes nicht für die Rehydratation geeignet. Sie enthalten zudem sehr viel Kohlenhydrate (!12 g/l). Von selbsthergestellten Zucker-Salz-Mischungen ist abzuraten, da hierbei zu viele Fehler vorkommen und derartige Lösungen sehr variable Zusammensetzungen aufweisen. Für die Therapie der initialen Phase der Exsikkose ist der Zeitpunkt wichtig, wann man sich für eine intravenöse Therapie entscheiden muss. Während die Exsikkose mit 3-8 % und weniger der rein oralen Therapie vorbehalten bleibt, sind stärkere Exsikkosegrade der intravenösen Therapie zugeord-net. Hierbei lassen sich folgende absolute Indikationen für eine intravenöse Therapie festlegen: • Schock (bei !9 % Exsikkose), • Unfähigkeit, orale Flüssigkeit aufzunehmen bei persistierendem Erbrechen, -Bewusstlosigkeit, Krämpfen, -Mund-und Pharynxverletzungen, • Säuglinge unter 2500 g, • schwere Malnutrition. Relative Indikationen für eine intravenöse Therapie sind: • Nicht gestillte Säuglinge unter 3 Monaten bei mäßiger Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes, schlechter sozialen Situation, die eine orale Therapie zu Hause nicht erwarten lässt, • intermittierendes Erbrechen bei Anorexie, • nach notfallmäßiger parenteraler Rehydratation. Die Details der intravenösen Therapie sind in ▶ Kap. 30, "Infusionstherapie und parenterale Ernährung" abgehandelt. Realimentation Unmittelbar nach der Rehydratation beginnt die Realimentation. Hierbei wird mit der gleichen Nahrung fortgefahren, die das Kind vorher erhalten hat. Bei Säuglingen kann unverdünnte Säuglingsmilch gegeben werden. Bei gestillten Kindern erfolgt die Realimentation mit Muttermilch. Ein Umsetzen auf eine spezielle Nahrung (sog. Heilnahrungen mit reduziertem Laktose-und Fettgehalt; Sojanahrung oder Hydrolysatnahrungen) ist nicht angezeigt. Säuglinge, die eine hypoallergene Säuglingsmilch erhalten, sollen keine andere Säuglingsmilch auf Kuhmilchoder Sojabasis erhalten. Bei Kleinkindern wird als Aufbaudiät eine langsame, stufenweise Einführung von polymeren kohlenhydratreichen, fettreduzierten Nahrungsmitteln empfohlen: geriebener Apfel, geschlagene Banane, Zwieback, Schleimsuppe (Reis-oder Gerstenschleim), Wasserkakao, Kartoffelbrei mit Wasser angerührt, Reis, Bouillon, trockene Semmel mit Konfitüre. In den Industriestaaten wird der länger als 14 Tage andauernde Brechdurchfall als postenteritisches Syndrom bezeichnet. Die Kinder erholen sich nach der üblichen Rehydratation, jedoch nicht nach der Realimentation. Der Durchfall persistiert in Form von wässrig-schleimigen, selten jedoch blutigen Stühlen. Durch gut gemeinte, jedoch allzu strenge diätetische Maßnahmen entwickeln sie nicht selten ebenfalls eine Gedeihstörung, die jedoch fast nie mit Malnutrition verbunden ist. Besorgte Eltern und durch häufigen Besuch bei klinisch nicht gebesserten Zustand irritierte Ärzte neigen zu einschneidenden diätetischen Maßnahmen, denen insgesamt gemeinsam die niedrige Energiedichte ist, mit der die Kinder ernährt werden. Bei einer Durchfallerkrankung, die länger als 2 Wochen dauert, muss in unseren Breiten differenzialdiagnostisch eher eine Kuhmilchallergie angenommen werden. Basis einer adäquaten Therapie der persistierenden Diarrhö bzw. des postenteritischen Syndroms ist eine ausreichende Ernährung nach der üblichen Rehydratation. Hierbei ist das Stillen von großer Bedeutung. Es muss bereits während der Rehydratation beginnen und anschließend kontinuierlich fortgeführt werden. Bei künstlich ernährten Säuglingen oder älteren Kindern mit persistierender Diarrhö muss immer wieder Nahrung in Form von eiweiß-und kohlenhydratreichen Nahrungsmitteln angeboten werden. Komplexe Kohlenhydrate wie Reisprodukte sind vorzuziehen. Sie werden kombiniert mit Sojaöl, Hühnereiweiß, Leguminosen (Linsen). Bei Kindern mit schwerer Malnutrition sollte die Laktosezufuhr reduziert werden. Joghurt wird besser vertragen als Milch. Kinder mit postenteritischem Syndrom erhalten eine extensiv hydrolysierte Milchformula für 4 Wochen und können dann auf eine Säuglingsformula auf Sojabasis umgestellt werden. Nach 3 Monaten kann eine Wiedereinführung von Kuhmilch und -produkten versucht werden. Hierbei hat sich ebenfalls Joghurt bewährt. Antibiotika und Motilitätshemmer haben bei Kindern mit persistierender Diarrhö oder postenteritischem Syndrom keine Verbesserung gegenüber der diätetischen Therapie gezeigt. Der Effekt von probiotischen Keimen (Laktobakterien, Hefen) kann derzeit nicht genau beurteilt werden. Während sie bei akutem Brechdurchfall eine verbessernde Wirkung gezeigt haben, sind die Daten für die persistierende Diarrhö und das postenteritische Syndrom noch begrenzt. Oral therapy for acute diarrhea. The underused simple solution Commonwealth Association of Paediatric Gastroenterology and Nutrition. Persistent and chronic diarrhea and malabsorption: Working Group report of the second World Congress of Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition Recommendations for composition of oral rehydration solutions for the children of Europe. Report of an ESPGAN working group Use of oral fluid therapy and posttreatment feeding following enteritis in children in a developed country Community-based management of severe acute malnutrition: a joint statement by the World Health Organization, the World Food Programme, the United Nations System Standing Committee on Nutrition and the United Nations Children's Fund. World Health Organization European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition/European Society for Pediatric Infectious Diseases evidence-based guidelines for the management of acute gastroenteritis in children in Europe: update Guideline: updates on the management of severe acute malnutrition in infants and children Leitlinien der AWMF und Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung (GPGE) Use of probiotics for management of acute gastroenteritis: a position paper by the ESPGHAN Working Group for Probiotics and Prebiotics