key: cord-0058222-x4l15hww authors: Hofert, Svenja title: Agile Kurzgeschichte date: 2020-08-13 journal: Führen in die postagile Zukunft DOI: 10.1007/978-3-658-28426-8_1 sha: 92c39417271e1122dd87770a006006a5345b23d5 doc_id: 58222 cord_uid: x4l15hww Die Geschichte der Agilität ist eine Geschichte voller Irrtümer und verläuft anders, als manche glauben. Sie ist in verschiedenen Umfeldern entstanden. Das ist wichtig zu verstehen. Denn oft reden wir über Begriffe, von denen wir gar kein ähnliches Verständnis haben. Und bevor wir ins Postagile starten, sollten wir erst einmal verstehen, was das Agile überhaupt ausmacht. Die Geschichte der Agilität ist … natürlich: eine Geschichte voller Missverständnisse. Sie zeigt, wie viele Stolpersteine es gibt, vor allem im oft völlig diffusen Verständnisdschungel rund um Agilität. Weder ist die genaue Herkunft bekannt, noch ist wirklich bewusst, was Agilität konkret bedeutet und wie man damit umgeht. In den folgenden Abschnitten bemühe ich mich um eine Ordnung der verschiedenen Stränge und bin mir dessen bewusst, dass diese nicht vollständig sein kann. Dabei stelle ich Entwicklung in den Vordergrund -wie haben sich die Theorien gewandelt, die Agilität in die Welt brachten? Was waren grundlegende Erkenntnisse? Und wo stehen wir jetzt und heute? Das werde ich mit Zahlen, u. a. aus unserer Studie "Beyond Agile", untermauern, deren Ergebnisse ich am Ende dieses Kapitels zusammengefasst habe. Tab erforderten. Sie schrieb beispielsweise davon, dass große Unternehmen die "Agility", also Beweglichkeit, von kleinen Organisationen bräuchten. Der Begriff "Agility" in diesem Zusammenhang meint also eine Managementbeweglichkeit, die Fähigkeit, rasch auf Veränderungen durch schnelle Anpassung zu reagieren. Im Mittelpunkt steht die Beobachtung der Märkte und Kundenbedürfnisse. Gary Hamel konzentrierte sich auf zwei Wege zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit von Unternehmen: Wachstum und Kostensenkung. Hamel und sein Kollege C. K. Prahalad bemängelten zu viele Klein-Klein-Strategien und den einseitigen Blick auf Kostensenkung. Stattdessen sollte der "Strategic Intent" im Vordergrund stehen, eine Visionsorientierung. Dem Konzept der strategischen Anpassung an die Umwelt stellten Hamel und Prahalad die strategische Ausdehnung an die Seite. Es gelte, beiden Seiten zu verfolgen. Hier kommt erstmals der Gedanke einer Beidhändigkeit ins Spiel, der heute als "Ambidextrie" bekannt ist. Diese bedeutet, dass man sich zugleich auf scheinbar widersprüchliche Themen wie Innovation und Tradition konzentriert, also ein Sowohl-als-auch-Gedanke. Dabei ist die strukturelle Ambidextrie darauf ausgerichtet, zugleich Exploration und Exploitation zu verfolgen, also neue Geschäftsfelder zu erkunden, ohne den Blick für die Bestandskunden zu verlieren. Kontextuelle Ambidextrie bezieht sich auf die Gleichzeitigkeit innerhalb eines Jobs. Hier gilt Google mit seiner 80:20-Regel als Vorreiter: Ingenieure können 20 % ihrer Arbeitszeit frei auf eigene Projekte verwenden, die nichts mit dem Tagesgeschäft zu tun haben. Agilität als Beweglichkeit griff später auch Stephen Denning auf. Denning stellte erstmals eine Verknüpfung zwischen IT-Projektmanagement und Managementtheorien her. Für sein "Radical Management" nennt Denning [5] Wirtschaft dient der Gewinnmaximierung, so die Grundannahme im Management. Warum die Wirtschaft agiler werden muss? Die These lautet: "Wer Kunden begeistert, ist wirtschaftlich erfolgreich." Dass begeisterte Mitarbeiter auch leichter Kunden begeistern, ist ein naheliegender Gedanke, der an Führungstheorien aus der psychologischen Schule andockte, beispielsweise dem motivations-und sinnorientierten Konzept der transformationalen Führung, aber auch dem Thema Führungskraft als Coach, das diesem sehr nahe steht. Im deutschsprachigen Raum hat sich vor allem Fredmund Malik zum Thema positioniert, wobei er stärker Bezug auf die Digitalisierung und die damit notwendigen organisationalen Veränderungen nimmt. Er hat schon früh eine Variante des Viable-System-Modells unter eigenem Namen protegiert. Malik geht davon aus, dass man vor allem die Dinge auf den Prüfstand stellen muss, die in der alten Welt gut funktioniert haben, weil sie sonst einfach in die neue geführt würden. Damit widerspricht er dem populären Ansatz, nach dem Funktionierenden zu schauen und daran festzuhalten. "Das Zauberwort ,Digitalisierung' als solches genügt noch nicht. Denn man kann auch etwas digitalisieren, was falsch ist -und damit führt man in einer Organisation die Alte Welt weiter, statt eine Neue Welt zu schaffen. Das Falsche wird dann umso wirksamer. Und die Organisation ist weiterhin veraltet, aber dies umso effizienter, nämlich digital." [6] Systemtheorie und Kybernetik, die in Deutschland heute oft mit Agilität verbunden werden, schlugen sich in Maliks St. Galler Management-Modell nieder. "Agilität" als Begriff hat Malik meines Wissens nach dennoch nie benutzt. Ihm geht es um das Funktionieren, darum, dass Organisationen den flexiblen Rahmen für Operationen schaffen, die das bewirken, was sie bewirken sollen. Es geht also um Strukturen. Amerikanische Autoren neigen im Unterschied dazu, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, in Form des Menschen und Kunden. Die Scrum-Erfinder Ken Schwaber und Jeff Sutherland begründeten 2001 mit anderen Entwicklern das "agile Manifest". Es entstand aus der Erkenntnis, dass klassisches Projektmanagement versagt hatte. Grund war dessen fehlende Flexibilität; Projekte waren zu starr geplant und liefen auch seitens der Kosten stets aus dem Ruder. Schwaber und Sutherland erkannten die Ursache in fehlender Interaktion der Menschen untereinander und mit dem Kunden. Sie schufen daraufhin das Framework Scrum, das bei maximaler Strukturierung der Interaktionen maximale Selbstorganisation des Teams zuließ. Scrum war also nie als Methode gedacht, sondern nur als Interaktions-und Organisationsrahmen für Projektmanagement. Es basiert auf dem altbekannten PDCA-Zyklus (Plan, do, check, act), der schon 1970 entstand, etwa zeitgleich mit der Wasserfallmethode. Um die Jahrtausendwende wandelte das Lean Management sein in Deutschland verbreitetes Image von einer Ausbeutungs-und Effizienzmethode zu einem Ansatz, der in der Produktion zu mehr Transparenz und Individualität verhelfen konnte. Immer noch wird gern das Unternehmen Toyota zitiert, dem es in den 1970er-Jahren gelang, mit teilautonomen Arbeitsgruppen erfolgreiche Autos zu bauen. Gern unterschlagen wird dabei, dass das Konzept der teilautonomen Arbeitsgruppen sich allerdings in Deutschland nie wirklich durchgesetzt hat, wohl auch weil wir keine kollektivistische Kultur haben. Wenn wir heute agile Werte und Prinzipien betrachten, so handelt es sich meist um einen Mix aus dem Lean-und Softwareumfeld. Scrum bietet beispielsweise fünf Werte: c Das AGIL-Schema Talcott Parsons soziologisches AGIL-Schema entstand seit den 1930er-Jahren und wird in der Soziologie heute kaum noch verwendet. Die Ähnlichkeit mit "agile" ist zufällig, das Schema hat mit Business-Agilität direkt nichts zu tun. Es liefert nur eine nicht mehr ganz taufrische Theorie, in der soziale Systeme benannt und strukturfunktionalistisch erklärt sind. Später baute Niklas Luhmann seine Systemtheorie darauf auf. Dass die Anfangsbuchstaben AGIL ergeben, hat sprachliche Gründe. Praktiker übersehen bei ihrer Begeisterung für das Konzept, dass es Parsons nicht um Assoziationen mit Agilität, sondern um die Erklärung der Stabilität sozialer Systeme ging. Alle sozialen Systeme seien darauf angewiesen, sich an ihre Umwelt anzupassen, Ziele zu erreichen, Subsysteme zu integrieren und ihre kulturellen Normen zu erhalten. [8] 1.1. Das agile Projektmanagement beinhaltet unterschiedliche Frameworks, die alle ähnliche Grundelemente haben: die Iteration, verteilte Führung durch Rollen wie Scrum Master und Product Owner im Scrum sowie feste Meeting-Formate. Das bekannteste Framework ist Scrum. Laut der Studie "Status quo agile" [9] nutzen es über 80 % der Befragten. Meine Hypothese ist allerdings, dass damit etwas gemeint ist, was nicht das gesamte Framework meint. Wie das letzten Kapitel schon zeigte, hatten die Erfinder von Scrum keine Methode, sondern den Menschen im Fokus. Deshalb spielen Meetings eine besondere Rolle. Sie sind das Kernelement, der zentrale Interaktionsraum, der zugleich auf einen Fokus lenkt. Agile Meetings konzentrieren sich immer jeweils auf ein Thema, etwa die Planung im Planning Meeting. Im Daily geht es um den Status und in der Retrospektive um das rückblickende Lernen. Sie unterscheiden sich allein dadurch schon von traditionellen Meetings: In diesen werden typischerweise Topics besprochen, ein "Gemischtwarenladen". Die agilen Meetings sind besonders effektiv, weil sie sich an den agilen Werten und Prinzipien orientieren. Der wichtigste Unterschied ist aber die Haltung: In einem klassischen Meeting lässt sich jeder von einem Moderator beschallen, in einem agilen Meeting wirkt jeder mit. Die meisten Projekte verbinden inzwischen hybrid-klassische und agile Methoden. Agil, so die Erfahrung, ist nicht immer überlegen, es passt zwar gut zur Softwareentwicklung, aber nicht überall hin. Agile Meetings sind jedoch eine Bereicherung für nahezu jedes Unternehmen -vor allem wenn man diese genauso iterativ betrachtet und lernt, diese anzupassen und zu optimieren. Auf einem Vortrag bei einer Behörde meldete sich eine der 40 anwesenden Führungskräfte. "Das habe ich schon immer so gemacht. Was ist da neu?", fragte sie vorwurfsvoll. Ich fragte nach. Schon immer habe sie morgens Besprechungen gemacht, das sei ihr Daily. Wie das denn genau ablaufe, frage ich. Es stellte sich heraus, dass die Führungskraft morgens eine Art Verteilrunde macht, bei der sie die Aufgaben ausgibt und abhakt, was erledigt ist. Wir versuchen alles, was wir wahrnehmen, in unsere vorhandenen Strukturen, in Bekanntes einzugliedern und abzugleichen, was anders ist. Dabei blenden wir Aspekte aus, die nicht an Bekanntem andocken können, oder passen diese so ein, dass sie sich in unsere Denkmuster fügen. Auf diesem Weg wird sehr viel vereinfacht und geglättet. Und es entstehen Missverständnisse, wenn die Führungskraft nach einem selbstbestätigendem Vortrag zu seinem Team geht und sagt: "Wir sind ja schon agil." Das hat auch mit einer Haltung zu tun, wenn wir Neuem begegnen. Im Growth-Mindset-Modus werden wir eher nach dem suchen, was anders ist, im Fixed-Mindset-Modus eher nach dem, was uns bestätigt. ◄ Die Führungsinterpretation im Projektmanagement hat sich in den vergangenen Jahren auch dann verändert, wenn "hybrid" gearbeitet wurde. Im Selbstverständnis eines Projektleiters ist meiner Beobachtung nach inzwischen weniger das Führen von Excel-Tabellen verankert als vielmehr das Führen eines Teams oder einer Gruppe. Die Rollen aus dem Scrum haben teils dazu angeregt, über andere Herangehensweisen nachzudenken. Das sind Schritte in ein moderneres Führungsverständnis. Die Unterscheidung stammt von der Stanford-Professorin Carol Dweck [10] , die dazu seit Jahrzehnten forscht. Sie untersuchte, wie sich die Haltung eines Growth Mindsets, die Überzeugung also, immer dazuzulernen und selbst die Intelligenz verändern zu können, auf berufliche und Bildungserfolge auswirkt. Sie studierte auch die Wirkung der Mindsets in der Erziehung. Dabei stellte sie fest, dass allein die Einstellung erhebliche Unterschiede bewirkt. Wer sich selbst und andere mit einem Growth Mindset behandelt, fördert Entwicklung. Ein Fixed Mindset dagegen behindert diese. Fixiertheit zeigt sich schon in der Sprache. "Du bist eben so", schreibt genau dies zu. "Du kannst werden", öffnet dagegen Möglichkeitenräume. Die meisten Menschen haben ein Mixed Mindset, sind also in einigen Bereichen fixiert und in anderen offener. Beispielsweise kann ich glauben, jeder habe eine angeborene Berufung, was fixiert ist. Ich kann zugleich aber auch überzeugt sein, dass Menschen Gewohnheiten ändern können, was entwicklungsbezogen (growth) ist. Jede sollte sich bewusst machen, wo sie fixiert und wo growth-orientiert ist. Als Keimzelle von Agilität gilt das selbstorganisierte Team. "Agile Führung" ermöglicht einem Team maximale Autonomie, überträgt Freiheitsgrade für Entscheidungen bis hin zur Autarkie. Die Aufgabe der Führung ist also mehr die Gestaltung eines passenden Rahmens, als diesen selbst auszufüllen. Es gilt, ein Team zu ermächtigen -auch dabei, sich selbst zu führen und zu entwickeln. Agile Führung ist in diesem Sinn nicht an eine Person gebunden, sondern kann auch Führung über Strukturen oder verteilte Führung beinhalten. In "Agiler führen" [7] habe ich die Führungsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte zusammengefasst. Auf erst in jüngster Zeit entstandene Metaphern wie "Host Leadership" werde ich in Kap. 4 eingehen. Sie spiegeln das, was sich derzeit abzeichnet, wider: Das Bild von Führung wird einerseits vielseitiger. Andererseits versucht man sie nach wie vor zu vereinheitlichen, ein ideales Verhalten zu definieren. Dabei geht es um eine dem Kontext und seinen Herausforderungen angemessene Haltung. Dass Führung stattgefunden hat, lässt sich nur am Ergebnis erkennen, an der erzeugten Bewegung also, nicht am Handeln selbst. Agile Führung ist eine Führung im agilen Kontext. Da der agile Kontext schon sehr unterschiedliche Erscheinungsformen zeigt, gilt das auch für die Führung in diesem Zusammenhang. Zunächst stellt sich die Frage, was Führung überhaupt ist. Führung definieren wir auf der Basis verschiedener Ansätze der Führungspsychologie als das Bestimmen der Richtung von Bewegung, was ein erfolgreiches Intervenieren in kritischen Situationen beinhaltet (Abb. 1.1). Führungsbewegung kann aus unterschiedlichen Richtungen erzeugt werden. Von oben lockt sie mit Positionsmacht und Entscheidungsgewalt, von der Seite überzeugt sie und unterstützt sie bei der Übernahme von Verantwortung, von unten verändert sie die Bewegung durch die Kraft der vielen. Und schließlich führt sie aus der Mitte zu innerer Klarheit und der Fähigkeit, situativ zwischen Führen und Folgen zu wechseln. Führen beinhaltet sowohl das Führen als auch das Folgen! Das erfordert von der "Führerin" die Fähigkeit zur dialektischen Bewertung, die sich auf folgende drei Sätze herunterbrechen lässt: • Es braucht beide Seiten, aber nicht notwendig gleichzeitig und in einer Person konzentriert. • Das eine ist nicht besser als das andere, sondern nur situativ angebrachter. • Über allem steht das gemeinsame Ergebnis. Führung muss in diesem Verständnis als Beeinflussen oder Bestimmen der Richtung von Bewegung auf etwas zielen, eine Absicht haben -und sei es nur die, sich selbst überflüssig zu machen. Laissez-faire ist in diesem Sinne keine Führung. Bewegung Hat es diesen gemeinsamen Lernprozess nicht gegeben, setzt sich derjenige mit der höchsten Dominanz und dem stärksten Machtstreben durch, der gleichzeitig die höchste implizite Akzeptanz hat. Das ist im agilen Kontext sehr schön zu beobachten: Nicht selten sind es verdeckt autoritäre Persönlichkeiten, die sich auf ihre besondere Art und Weise durchsetzen. Teils ist diese dogmatisch -es geht so und nicht anders -, teils durch Expertise beeinflusst. Dann führt der mit dem größten Wissen, ganz gleich, ob das offen ausgesprochen ist oder nicht. Überhaupt zeigt sich Führung am besten, wenn man den Ton ausschaltet. Dann erkennen wir, zu wem die Blicke wandern und wie die einzelnen Personen zueinander stehen. "New Work" passt sich hier ein, denn in ihm zeigt sich eine andere Ausrichtung -an der menschlichen Natur. Es ist zudem kein reaktiver Ansatz. Vielmehr steht die Gestaltung im Vordergrund. Fritjof Bergmann will nicht weniger, als dass Menschen das tun, was sie wirklich, wirklich wollen. Das ist für ihn kein Spaßprogramm, sondern etwas, das gefunden werden will. Es ist das, was einen fordert, was einem auch Angst macht -und dem man sich trotzdem gern stellt. "Die große Mehrheit der Menschheit lässt sich verführen, eine Arbeit zu verrichten, die sie müde macht und kleinhält, um dann Dinge zu kaufen, die sie nicht braucht." [11] New Work bezieht sich auf die veränderte Arbeitswelt, in der Menschen durch die Digitalisierung Schritt für Schritt auch von der klassischen Lohnarbeit befreit werden. Es berührt Agilität eigentlich nicht, der Grundgedanke ist ein ganz anderer. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich das erste Mal im Zusammenhang mit agiler Arbeit davon gehört habe, erinnere mich aber gut, dass es mich irritiert hat. Denn eigentlich hat es nichts mit dem zu tun, was ich vorher beschrieben habe. "Anstatt auf einen immer fragwürdiger werdenden Arbeitsmodus beschränkt zu sein, nämlich der von Arbeitsplätzen, wird eine wachsende Zahl von Menschen etwa 10 Stunden pro Woche in Gemeinschaftsproduktion beschäftigt sein. Weitere 10 Stunden werden sie in einem der neuen Unternehmen arbeiten, die die erwähnten radikal innovativen Technologien nutzen, welche die industriellen Technologien der Vergangenheit ersetzen. Und an dritter Stelle, werden sie die wirklich Neue Arbeit tun, die die Menschen nicht auslaugt, sondern ihnen Vitalität und Kraft verleiht, sinnvolle Arbeit, die den Menschen die Überzeugung von einem wirklich gelebten Leben gibt: Arbeit, die die Menschen als ihre Berufung erfahren." [12] Bergmann geht es also um eine Kombination neuer technologischer Entwicklungen mit persönlicher Berufung und der Rückbesinnung auf die Gemeinschaftsproduktion. Bergmann dazu weiter: "Die Linderung und letztendliche Ausmerzung der Armut in allen Ländern, in jedem Winkel. Dies kann nicht durch die immer verzweifelteren Anstrengungen erreicht werden, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, sondern durch die weitere Entwicklung und die langsame globale Verbreitung der neuen Wirtschaftsform der Gemeinschaftsproduktion." [12] Bergmann will Körper und Geist lähmende Arbeit abschaffen und mehr Bewusstheit. Er sieht das Verhängnis der "Vier Tsunamis", die "Schlachtspaltung" zwischen unglaub- Wie werten wir Kundenorientierung, wenn es um subtile Beeinflussung des Kaufverhaltens geht? Ist das noch das, was im Agilen unter "Customer Centricity" gehandelt wird? Ethische Gedanken spielten in der agilen Methodologie bisher kaum eine Rolle. Sie müssten es aber, wenn wir Agilität auf ein anderes Level stellen und weiterentwickeln wollen. Business Agilität unterscheidet nicht zwischen guten und schlechten Umsätzen und Gewinnen. Ich kann jemanden zum übermäßigen Pizzakonsum verleiten und dabei sehr kundenzentriert sein. Denn Kunden haben Bedürfnisse, deren Erfüllung sie beispielsweise übergewichtig werden lassen kann. Die Kleidungsindustrie gilt als größter Klimasünder, doch sie lebt davon, zu immer neuen Käufen zu verlocken. Agile Vorgehensweisen können zu Erfüllungsgehilfen einer klimaschädlichen Wirtschaft werden, indem sie Bedürfnisse befriedigen, die sie zugleich erzeugen. Agilität wird von vielen als Möglichkeit angesehen, schneller zu reagieren -aber noch kaum als Chance, Wirtschaft ethischer zu gestalten. Das muss sich ändern. Leben wir wirklich noch in einer Wissensgesellschaft? Ist Wissen tatsächlich noch das, was wir brauchen? Ist es nicht so, dass immer klarer wird, wir wissen eigentlich zu viel? Wir können das Wissen nicht mehr katalysieren, wir sind völlig überfrachtet. Seit Peter F. Drucker diesen Begriff in den 1960er-Jahren prägte, wähnen wir uns in der Wissensgesellschaft. Aber leben wir wirklich noch darin? Ist Wissen noch das, was es zu Druckers Zeit war? Viele können das Wissen doch gar nicht mehr verdauen, wir sind völlig überfrachtet. Das Internet ist ein wunderbarer Wissensspeicher, doch enthält es auch viel Müll, und zudem häufen sich neben Fake News auch nicht entsorgte veraltete Informationen. Ehre den engagierten Wikipedia-Autoren, die ehrenamtlich an der Qualität dieses Wissensspeichers arbeiten, doch auch dort zeigt sich, dass aktuelle Erkenntnisse lange brauchen oder gar nicht ankommen. Wer soll Wissen auswählen, wer entscheiden, was richtig ist? Es kann nur jemand sein, der in der Lage ist, einzuordnen und kritisch zu bewerten. Das sind Superspezialisten, die aber dann keiner mehr versteht. Es geht schon jetzt nicht mehr darum, Wissen zu besitzen und dann anzuwenden, sondern dieses umzuwandeln, neu zu verbinden und fruchtbar zu machen. Das bedeutet auch das Ende der Wissensgesellschaft, wie wir sie kennen. Der Experte der Wissensgesellschaft verwandelt sich so bestenfalls in einen Wissenskatalysator. Nachdem Wissen verdichtet und von belastenden Schadstoffen wie Fake News befreit ist, wird es zu Erkenntnissen verdichtet. Die Herausforderung der Zukunft liegt darin, Kriterien zu generieren, wie Erkenntnisse gewonnen und arrangiert werden können. Eine Schlüsselrolle dabei spielt nicht die maschinelle Intelligenz, sondern der Mensch und das was er in Zukunft sein will. Die maschinelle Intelligenz ist lediglich der Treiber. Über deren Einfluss auf die Arbeitswelt bestehen Positiv-und Negativszenarien, denen ein jeweils unterschiedliches Menschenbild zugrunde liegt. Die positiven Interpretationen sehen eine Befreiung des Menschen: "In a 21st-century career, the individual and his or her experiences take center stage. Instead of a steady progression along a job-based pathway, leading organizations are shifting toward a model that empowers individuals to acquire valuable experiences, explore new roles, and continually reinvent themselves." [15] Die negativen Szenarien sagen ein neues digitales Proletariat voraus. Unbestrittene Tatsache Wenn ich T-Shape-Profile von vor 20 Jahren mit T-Shape-Profilen von heute vergleiche, so besteht ein enormer Unterschied in der Detailtiefe und den Spezialisierungen. T-Shape ist eine von IBM entwickelte Karriere-Modellierungstechnik, bei der der lange vertikale Balken des T das Spezialwissen und der kurze horizontale das Methoden-und Soft-Skill-Wissen kennzeichnet -also das, was Expertise in die Welt bringt. Data Scientists brauchen viele Jahre, um ihr Know-how aufzubauen und sich zu spezialisieren. Immer öfter werden in Bereichen, in denen maschinelle und künstliche Intelligenz immer wichtiger wird, zudem nicht mehr nur Master, sondern PhDs erwartet. Aus dem lebenslangen Lernen wird eine lebenslange Ausbildung. Nur wenige Jahre bleiben, um seine Expertise maximal zu nutzen, denn auch diese unterliegt Nachfrage und Angebot. Während Wissen immer spezieller wird, sinkt dessen Halbwertszeit in allen Fachgebieten. Kein Fachgebiet kommt zudem mehr ohne Verknüpfung zu informationstechnischen Themen aus. So ist die Qualität des von Einzelnen gestifteten Wissens zunehmend von der Wissenskatalyse und der Qualität der Verständigungen im Umfeld, von Teamarbeit und von "Übersetzung" und künstlerischem Arrangement in Form von Ideen oder Design abhängig. Während der Experte die anderen als "weniger wissend" begreift und ihnen somit einen "Objektstatus" zuschreibt, sieht der Wissenskatalysator die anderen als gleichwertige menschliche Subjekte. Objekt ist vielmehr der Computer, der zuliefert, analysiert, rechnet und extrahiert. Wissenskatalysatoren sind in der Lage, • sich kontinuierlich zu revidieren, • sich permanent als verbesserungsfähig anzusehen, • Wissen nicht als Wahrheit, sondern als Ressource zu betrachten, • das eigene Nichtwissen anzuerkennen. Darüber hinaus sollten sie: • Fachsprache übersetzen können • Die eigenen Denkmuster erkennen und anpassen können • Wissen arrangieren können, etwa in Form sprachlicher Narrative Wissenskatalysatoren transformieren Wissen in etwas, das anderen Wert stiftet. Zur Wissenskatalyse gehört es, etwas einschätzen und Querverbindungen ziehen zu können. Die induktive Betrachtungsweise wird bedeutsamer. Es gilt also, die einzelnen Phänomene zu beobachten und von ihnen auf das Ganze zu schließen, nicht umgekehrt. Das wäre deduktiv: Von einem Phänomen wird abgeleitet, was es sein muss oder wem es sich zuzuordnen hat. Dieses Prinzip liegt übrigens auch dem "agilen" Framework Design Thinking zugrunde. Vom Wissenskatalysator ist es nicht weit zur Erkenntnisgewinnerin, die das katalysierte Wissen hinsichtlich seines Wertes für die Entwicklung der Gesellschaft untersucht. Dies setzt voraus, dass erkannt ist, dass wir Wirklichkeit in unserem Sinn gestalten können. Damit dies nicht zu einer Fake-News-Gesellschaft führt, müssen wir uns immer wieder fragen, wonach und wohin wir streben. Und woran wir erkennen, dass etwas für uns Bestand haben, also wahr sein soll. Auf dem Weg zur Erkenntnis wird Dekonstruktion zunehmend wichtiger. Etwas zu dekonstruieren bedeutet, etwas zu zerlegen, seine Bestandteile sichtbar zu machen. Dekonstruiert zeigt sich, was ein Ding ausmacht -und dass aus ihm auch etwas ganz anderes entstehen kann als angenommen. Co-Kreation ist eine Folge vorheriger Dekonstruktion. Diesen Begriff hat im Managementkontext Venkat Ramaswamy definiert. Co-Kreation beinhaltet auch Vorgehensweisen in Teams, die nach bestimmten Mustern zerlegen und verbinden, etwa Design Thinking. Das alles fordert Menschen, die sich als werdend und veränderbar begreifen, und Bildung als Prozess. Vielleicht kommen wir auch zu einer neuen Art von Universalgelehrten zurück. Die Antike und das Mittelalter kannten solche Menschen, die viele verschiedene Gebiete berührten und ein breites Allgemeinwissen hatten. Die Informatik ist sicher einer Brücke dahin, weil sie Bestandteil von Allgemeinwissen werden muss, damit man sich mit anderen Erkenntnisfragen beschäftigen kann. Die neuere Hirnforschung hat festgestellt, dass allgemeingebildete Menschen ganz besonders viele Vernetzungen im Gehirn haben, was ihnen das schnelle Umschalten erleichtert. Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum ermittelten dies 2019 bei 324 Probanden mittels Diffusions-Tensor-Bildgebung, wobei die Nervenfaserverbindungen im Kopf sichtbar gemacht werden. Sie hatten zuvor einen Allgemeinwissen-Test absolviert, der 300 Fragen aus verschiedensten Themenbereichen wie Kunst, Architektur und Chemie beinhaltete. Versuchspersonen, deren Gehirn besonders effizient vernetzt war, schnitten auch besser im Wissenstest ab. [16] Verbindendes Wissen, das man früher gern als generalistisch diskreditierte, hat also durchaus einen großen Nutzen: Wer stärker vernetzte Nervenverbindungen hat, kann nicht nur schneller zwischen unterschiedlichen Themen hin-und herschalten, sondern diese auch kreativer miteinander verbinden. In Zukunft wird immer mehr Wissen sich nicht nur in einem Kopf abbilden, sondern sich über viele Köpfe verteilen. Expertise überschreitet individuelle Grenzen. Wissensarbeit wird in Teams geleistet werden. Erst dadurch wird es fruchtbar, vor allem, wenn es über die Anwendung hinausgeht und etwas Neues entsteht. Dabei arbeiten nicht mehr nur Menschen zusammen, sondern immer mehr Menschen mit Computern. Computer können z. B. blitzschnell analysieren, welche Ideen es schon gibt und welche nicht. Auf diese Weise challengen sie die Teams und werden zu einem Glied in einer Mensch-Maschine-Interaktion. Nach einer mittlerweile schon betagten Einschätzung des World Economic Forums aus dem Jahre 2016 [17] könnten 65 % der heutigen Schulkinder später in Jobs arbeiten, die heute noch nicht existieren. Einige Modellrechnungen gehen davon aus, dass in den kommenden zehn Jahren durch das Internet der Dinge, Automatisierung und KI-Systeme in manchen Branchen 50 % der Arbeitsplätze entfallen könnten. Es reicht nicht mehr, dass eine Person etwas weiß, Wissen muss ineinandergreifen können, dabei werden Maschinen mehr und mehr Teil unseres Wissenssystems sein -und nicht etwa ein eigenes bilden, denn wir sind es, die sie mit Algorithmen füttern. Entwickler prägen mit ihrem Denken auch die Algorithmen und dadurch sogar Stereotypen [18] . Im Zweifel agieren sie sogar schlimmer als ihre menschlichen Vorbilder, wie der von Microsoft entwickelte und alsbald wieder aus dem Verkehr gezogene Computer Tay zeigte, der via Twitter durch beleidigende Kommentare provozierte. Das Experiment zeigte bald die Grenzen künstlicher "Intelligenz". Der Bot wurde nicht schlauer, sondern zunehmend dumm und einfältig. Wie künstliche Intelligenz funktioniert, muss deshalb jedes Schulkind verstehen. Informationstechnologisches Wissen ist wie Mathematik oder Deutsch. Es liefert die Grundlage zum Verständnis der Welt, in der wir leben und leben werden. Dabei ist es immer noch ein Wahlfach für die Oberstufe, es sollte bereits in der Grundschule gelehrt werden. Die meisten Menschen denken, dass existent ist, worüber sie und andere reden. Doch wir schaffen Begriffe und damit auch Phänomene. Manchmal ist gar nicht zu ermitteln, was zuerst da war, das Wort oder das, was es beschreibt. Denn alles, was etwa unter den Begriff Agilität fällt, ließe sich auch mit anderen Worten beschreiben. Wir erkennen etwas, indem wir ihm einen Namen geben. Wir geben unseren Kindern Namen, und wir geben Phänomenen bzw. den Dingen, die vom bisherigen Wortschatz nicht abgedeckt werden, einen Namen. Dabei zeigt sich, dass solche Begriffe Karriere machen, die etwas Neues kennzeichnen, das einen Unterschied macht. Es braucht diese neuen Begriffe, sonst könnten wir uns nicht darüber verständigen. Wenn die Begriffe überholt sind, verschwinden sie wieder. In der Anwendung verändern sie ihre Bedeutung, wie etwa der Begriff "New Work". Begriffe können sich emotional einfärben oder sogar verbrennen. Ist ein Begriff verbrannt, wird ein neuer benötigt. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, an einem verbrannten Begriff festzuhalten, denn Emotionen sind anders als der Begriff real. Löst schon allein seine Nennung ein "Oh nein" aus, so sollte man ihn besser nicht verwenden. Deshalb macht "postagil" durchaus ein sprachliches Angebot. Allerdings sollten Begriffe wie etwa Agilität auch nicht zu früh aus dem Verkehr gezogen werden, denn mitunter sind sie falsch verwendet worden. Das sollte den Mitarbeitern dann auch bewusst gemacht werden. Für eine emotional belastete Agilität gibt es auch noch andere Varianten, die je nach gemachter Erfahrung besser passen könnten: • Neu-agil • Echt-agil • Unser agil • Jetzt-agil • Agil 2.0 • Und so weiter Wichtig ist, dass die Sprachspiele nicht überhandnehmen. Die meisten Menschen halten Worte für echt, sie glauben, dass es das, was sie bezeichnen, wirklich gibt. Entsprechend sind sie emotional damit verbunden. Immer neue Sprachspiele verwirren und kippen diese Bindung ins Negative. Wer sich des Sprachspiels bewusst ist, sollte es verantwortlich anwenden. Dabei sollte Sprache in ihrer umfassenden Bedeutung für das Menschsein verstanden werden: Was uns Menschen von den Tieren unterscheidet, ist unsere Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Diese Fähigkeit haben wir immer mehr vervollkommnet, wir haben immer mehr Wörter produziert und damit die eigene Komplexität erhöhten. 75.000 Wörter kennt die deutsche Standardsprache. Einige Experten sprechen sogar von 5,3 Millionen. Klar ist: Es werden eher mehr, und ich gebe zu, dass ich mit an einem weiteren Ausbau arbeite, wenn ich den Begriff "post-agil" salonfähig machen sollte. Sprache ist nicht zuletzt das wichtigste Mittel, um Menschen zu erreichen und ihre Wahrnehmung zu beeinflussen, etwa durch Bilder und Geschichten, Neudeutsch häufig "Narrative" genannt, da der Begriff "Storytelling" oft zu sehr mit Marketing assoziiert wird. Sprache ermöglicht Verständigung und erschwert sie zugleich. In der Wissensgesellschaft werden immer mehr Begriffe in unterschiedlichen Disziplinen und Teildisziplinen verwendet. Die Konstrukte unterscheiden sich, also die Systeme, aus denen heraus etwas betrachtet wird, beispielsweise "Agililtät": Es gibt die Softwareentwicklungs-, die Management-und die Projektmanagementkonstruktion für diesen Begriff. Nicht zuletzt prägt der Bildungs-und soziokulturelle Kontext die Wahrnehmung von Begriffen, ja sogar das Alter. Nehmen wir etwa den Begriff "Macht", der ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Und dennoch meinen sich Menschen zu verstehen, die über Macht reden. Ich halte es für eine wichtige Führungsaufgabe, Begriffe zu klären und sich auf ein gemeinsames Verständnis zu einigen. Damit kann vermieden werden, dass Begriffe verbrannt werden können. Das geschieht typischerweise, wenn etwas sehr vereinfacht wahrgenommen wird und zudem implizite Versprechen darin transportiert werden wie "Agilität macht uns innovativer". Egal, was Sie tun: Seien Sie sich dessen bewusst, mit welcher Brille Sie darauf schauen. Wechseln Sie diese öfter und reden Sie mit Mitarbeitern über die Tatsache, dass Worte eben nur Worte sind, solange sie nicht mit einem Inhalt gefüllt sind, den alle verstehen. Eines der größten Probleme von Agilität ist und war die Zuschreibung als "Wundertüte": Bei jedem ist etwas anderes drin. Das wäre an sich unproblematisch, wenn genau dies die Botschaft bliebe: Es ist immer anders. Aber es geht um Folgendes: Beweglichkeit in einer komplexen Umwelt. Wissen ist Macht. Der Experte ist zugleich auch ein Speicher des durch Erfahrung verdichteten Wissens eines Fachbereichs. In Zukunft werden Menschen immer mehr mit anderen Menschen und Computern interagieren. Teams übernehmen die Rolle von Wissenskatalysatoren: Wie wird etwas ausgewählt, gedeutet, verbunden und arrangiert? Führung schafft dazu den Rahmen. Die Teamarbeit hat ihre Bedeutung, ihre Stellung und ihr Image in den letzten Jahren radikal verändert. Vorbilder der Selbstorganisation im Lean Management stammen aus einem kollektivistisch geprägten Kulturraum wie Japan. Gleichzeitig wird genau das ignoriert: In individualistischen Kulturen steht eben nicht die Gruppe über dem Einzelnen, sondern der Fokus liegt auf Einzelnen. Viele Konflikte und Missverständnisse erklären sich schon dadurch. Denn immer noch betonen wir das Individuum, beispielsweise wenn wir mit Persönlichkeitstests Personalauswahl betreiben oder individualistischen Logiken folgen. So gibt es Unternehmen, die die Teamrollen nach Meredith Belbin nicht als das gruppendynamische Modell verstehen, das es ist, sondern als Diaganoseinstrument zum Bauen von Teams in einer 1+1+1+1+1+1+1+1+1=9-Logik. Belbin kannte neun Teamrollen, die Teamaufgaben verteilen und in unterschiedlichen Phasen dem Team bei seiner Selbstentwicklung helfen. Diese Rollen sind aber nicht mit individueller Persönlichkeit zu verwechseln, es sind vielmehr Aufgaben, die sich dynamisch verteilen. Menschen springen in Gruppen typischerweise in Lücken, die unbesetzt sind -das ist nur sehr bedingt an Eigenschaften geknüpft. Unternehmen, aber auch Berater mit oberflächlichen Kenntnissen glauben in ihrer individualistischen Prägung oft, sie könnten einen "Gestalter" mit einem "Teamplayer" und "Neuerer" kombinieren um so ein Team zu bauen. Doch das ist naiv. Trotz dieser Stolpersteine ist Teamarbeit durch einen regelrechten Wertewandel hindurch gegangen, der mit einer Erkenntnis einherging: Einer allein kann die Komplexität nicht beherrschen und fruchtbar machen, es braucht dafür Teams. Bald war vom "WeQ" die Rede. Geprägt hat den Begriff der Neurobiologe Gerald Hüther. "Der Begriff ,WeQ' entstand durch eine Studie, die das Genisis Institute for Social Innovation 2014 durchführte. Deren Fragestellung lautete: ,Was sind die gemeinsamen Merkmale nahezu aller neueren zukunftsweisenden Trends und Phänomene in allen Bereichen der Gesellschaft, von den sozialinnovativen und digitalen Szenen bis in die Wirtschaft und engagierte Zivilgesellschaft, von Open Source bis Co-Creation, von Carsharing bis Social Entrepreneurship?' Annähernd 200 derartiger Einzelphänomene wurden untersucht. Das Ergebnis: Alle diese Trends zeichnen sich durch eine signifikante Gemeinwohl-Orientierung in ihren Zielen und eine signifikante kollaborative und Team-Orientierung in ihrer Arbeitsweise aus. Das Genisis Institute leitete daraus die Identifikation eines Paradigmenwechsels ab und kennzeichnete diesen mit der Formel ,WeQ -More than IQ'." [19] Seit den 1980er-Jahren nahm die Teamforschung an Fahrt auf, in den USA waren vor allem Andersen und West prägend. Sie untersuchten das "Teamklima für Innovation" und entwickelten ein Inventar. Es war die Basis für eine erste agile Studie, die 2016 in mein Buch "Agiler führen" einging [7] . Damals ermittelte ich, dass agile Teams über ein besseres Teamklima berichteten. Das Interesse für das Team wuchs in den vergangenen Jahren permanent. Bis dahin stand immer der einzelne Mensch im Mittelpunkt. Dieser ist Untersuchungsgegenstand der Differentiellen Psychologie, die sich statistischer Methoden bedient und deren blinder Fleck die Tatsache ist, dass der Mensch niemals losgelöst vom Kontext betrachtet werden kann. Teamarbeit war dagegen Untersuchungsgebiet der Sozialpsychologen, die anders als die Differentiellen Psychologen überwiegend mit Experimenten arbeiten. Die Betriebswirtschaft dagegen hat sich als mathematisch geprägte Wissenschaft kaum mit Teams auseinandergesetzt. Betrachtete sie Management, so war auch das auf Einzelpersonen ausgerichtet. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert, beeinflusst durch die Agilitätswelle. Denn die Keimzelle des agilen Arbeitens ist das selbstorganisierte Team, gesteuert von einem "agilen Mindset", das die agilen Werte umsetzt. Doch was ist Teamarbeit eigentlich? Ich erinnere mich an Zeiten, als Teamarbeit eine Art "Fake News" war. In allen Stellenanzeigen stand etwas von "teamfähig", aber gearbeitet wurde in losen Gruppenverbänden, Wettbewerb untereinander wurde absichtlich geschürt. Die Fake News war, dass Arbeitgeber in Wahrheit gar keine Teamarbeiter suchten, dies aber in ihre Stellenanzeigen schrieben, um möglichst anpassungsfähige Mitarbeiter zu gewinnen. Erfolgreich jedoch waren die, die sich vor den relevanten Persönlichkeiten positionierten, ihre Leistungen zeigten, Netze schmiedeten -und hinter dem Rücken des Teams für die eigene Sichtbarkeit sorgten. Ist das heute noch so? Zum Teil. Die Überzeugung, dass einem Unternehmen in Wahrheit nur deshalb an teamfähigen Mitarbeitern gelegen ist, weil diese sich anpassen und nun mal nicht alle Karriere machen können, dürfte immer noch in manchem Kopf herumspinnen. Sehr stark war diese Überzeugung noch in den 1990er-Jahren bis hinein in die 2000er-Jahre und hat viele derjenigen geprägt, die heute Unternehmen leiten. Ein Artefakt -manifestierter Wert -dieses Glaubens ist etwa das Buch "Wahnsinnskarriere" von Wolfgang Schurr und Günter Weick, das 1999 erschien und immer noch erhältlich ist. Darin wird dargestellt, dass man den Versprechen von Team und Gemeinschaft besser keinen Glauben schenkt. Sie dienten nur dazu, die Leute ruhig zu halten. Wenn Unternehmen in heutigen teilagilen Zeiten über Teamarbeit sprechen, so meinen sie es ernster. Aber immer noch ist Teamarbeit etwas für "die da unten". Führungskräfte sehen sich nach wie vor nicht als Teil eines Teams. Dabei sollten sie mit gutem Vorbild vorangehen. Doch sie kommen nicht auf die Idee, dass Teamarbeit auch sie betreffen könnte, was wohl auch ihrer Prägung aus der Vergangenheit geschuldet ist. Heute sehe ich vor allem erhebliche Unterschiede zwischen den Branchen. Je digitaler, je IT-näher, desto mehr ist der Teamgedanke angekommen. Das liegt daran, dass dort Teamarbeit auch in ganz besonderem Maße erforderlich ist. Experten sind hier zugleich immer auch Wissenskatalysatoren, das haben in solchen Unternehmen auch die Top-Manager erkannt. Dennoch Die meisten aktuellen Teams sind Haufen, also Gruppen von Menschen, die zufällig zusammenkommen, aber jeweils eigene Interessen verfolgen. Sie haben nicht die Rahmenbedingungen, agil oder gar postagil zu werden. Führung beginnt mit der Schaffung von Rahmenbedingungen. Der erste Schritt danach wäre die Schaffung von Strukturen, in denen Teams wachsen können. Die Abb. 1.2 und vertiefend die Tab. 1.2 zeigen eine Gegenüberstellung der Teams, wobei es sich bis 2.0 in unserer Definition um Gruppen handelt. Wir führen Teams 1.0 und 2.0 dennoch in dieser Bezeichnung so auf, weil Unternehmen gewohnt sind, dieses Wording zu verwenden. Sie denken, sie hätten Teams, und sind oft überrascht, selbst festzustellen, dass es keine sind. Agilität ist erst ab einen Team 3.0 wirklich möglich. Typischerweise sind hier oft noch funktionale Einheiten mit Experten besetzt, die aber bereits in Teamstrukturen arbeiten. Echte Co-Kreation ist erst in einem Team 4.0 möglich. Es setzt crossfunktionales Arbeiten zwingend voraus, also ein Arbeiten entlang der Wertschöpfungskette und nicht entlang funktionaler Einheiten wie Vertrieb und Finance. Im Gesundheitswesen wird auch der Begriff interprofessionelles Team verwendet. Tab. 1.3 zeigt die unterschiedlichen Facetten der Begriffe. Oft gilt es, die Statusgrenzen etablierter Professionen zu überwinden. Vor allem im deutschsprachigen Bereich sind die Ausbildungsdünkel stark ausgeprägt, das heißt, mit der Profession gehen Haltungen einher, die eine professionenübergreifende Zusammenarbeit erschweren. Diese ist in der Industrie eher an Hierarchieebenen festgemacht als an Berufsgruppen. Hier ist eine der größten Herausforderungen zudem die "Funktionsdenke", die bei einer Ausrichtung an der Wertschöpfung nicht mehr zur Abgrenzung, sondern zur Zusammenarbeit führen muss. Wenn ein Team sich selbst organisiert und dabei eben auch weitere unternehmerische Aspekte integriert, ist es ebenso crossfunktional tätig. An dieser Stelle zeigt sich wieder, dass jedes Umfeld durch spezifische Organisationsformen und Perspektiven auch eine eigene Sprache formt. Abb Gruppen, die Haufen sind, also Teams 1.0 und 2.0, können unserer Erfahrung nach grundsätzlich nicht in die Performing-Phase nach Bruce Tuckman kommen, also jene Phase, in der stete Selbstverbesserung und damit auch High Performance möglich wird [20] . Performance wurde in der Vergangenheit jedoch allzu oft als "soziales Miteinander" missverstanden. Dieses legt aber nur die Basis für individuelle Leistungen, nicht für gemeinsame Wissenskatalyse und Erkenntnisgewinn. In jedem Team herrschen Werte, die Impulse für Handlungen setzen. Jedem Wert steht ein typischer Gegenwert gegenüber, der erst zeigt, dass der Wert selbst existiert -denn nur wenn dieser eindeutig gelebt wird und der andere nicht, existiert er. Paradoxe Werte können aber auch verbunden werden, dann zählen beide Werte in einem Unternehmen. So kann es sein, dass ein Unternehmen sehr auf Fleiß bedacht ist und jene fördert, die sich mehr als andere anstrengen. Es ist dann sehr wahrscheinlich, dass Menschen, denen Dinge zufallen und die nicht viel tun müssen ("Talente"), bekämpft werden, wobei "bekämpfen" Dies stellt uns vor einige Herausforderungen. Um in Teams kooperativ und kreativ arbeiten zu können, brauchen wir Menschen, die eine starke Persönlichkeit entwickeln konnten, die wissen, wer sie sind. Und was sie wollen. Um mit Fritjof Bergmann zu sprechen: Sogar das, was sie wirklich, wirklich wollen. Was also auch ihren Stärken entspricht, den Ehrgeiz anstachelt, Grenzen überwinden lässt. Denn die besten Teams bestehen aus Menschen, die ihre Stärken für etwas Gemeinsames bündeln. Persönlichkeitsentwicklung ist somit die Voraussetzung für Teamentwicklung -und geht gleichzeitig mit dieser einher. Sozialisierung ist die Anpassung an die Gesellschaft, Bildung die Vermittlung der Fähigkeit, diese zu gestalten. Aus diesem Blickwinkel bilden wir unsere Kinder immer weniger. Unser derzeitiges Bildungssystem fördert fast ausschließlich eine Außenorientierung. Fächer, die zusätzlich eine Introspektive ermöglichen -also Wege der psychologischen Selbsterkenntnis weisen, etwa durch Musik -, gelten als weniger wichtig als etwa Naturwissenschaften. Dadurch fehlen vielfach Grundlagen. Die Entwicklung wird abgekürzt und endet in einem "so sollst du sein". Das war angebracht, so lange es galt, Menschen für die Industrie auszubilden, die irgendwelche Jobs machen. Das ist nicht mehr angebracht, wenn wir anfangen, darüber hinaus zu denken und Wirtschaft neu zu gestalten. Standards gelten schon früh als ideal: Die Musterlösung ist schon in der Schule das, was "richtig" ist. Später setzen Zielgrößen der Branche oder Berufsgruppe den gewünschten Rahmen. Das funktioniert solange, wie Menschen in ihren "Kästchen" denken und arbeiten. Das gerät an Grenzen, wenn sie darüber hinausgehen müssen. Co-kreative Teamarbeit fordert ein solches Hinausgehen über Grenzen, weil sie auf gegenseitigem Vertrauen aufbaut und wirkliches Vertrauen nur jemand geben kann, der sich innerlich und in sich selbst sicher fühlt. Es ist ein Zeichen von Unreife, wenn Menschen sich im Team und anderen Kontexten nicht abgrenzen können, wenn sie aufgehen in Gemeinschaften oder sich übertrieben schützen müssen. Wenn sie nicht "Nein" sagen können oder sich keine eigene Meinung bilden. Viele Unternehmen berichten davon, dass das agile Arbeiten, wenn es ernsthaft betrieben wird, Konflikte sichtbar macht. Wenn Menschen nie gelernt haben, sich diesen zu stellen, um Lösungen wie um Verständigung zu ringen, sind sie auch nicht zu fortgeschrittener Teamarbeit fähig. Doch sie können lernen, am besten von Menschen, die das können und andere mitziehen. Deshalb ist es gut, Teams so zu mischen, dass zwei, drei Menschen, die in ihrer Persönlichkeitsentwicklung weiter sind, mit Menschen zusammenkommen, die noch Schritte zu gehen haben. Nur zu groß sollte der Abstand nicht sein. Agiles Arbeiten sei selbstorganisiertes Arbeiten -so der allgemeine Konsens. Das agile Framework Scrum basiert auf dem Gedanken, dass sich ein Team innerhalb eines Rahmens (Framework) selbstorganisiert. Doch was meinen die unterschiedlichen Autoren, Redner und Berater, wenn sie von Selbstorganisation sprechen? Die Vorstellungen schwanken zwischen "Eigenverantwortung" und einer kompletten Selbstverwaltung. Deshalb ist häufig unklar, was gemeint ist, wenn jemand deklariert "wir sind ein selbstorganisiertes Team". Wir durften einige Male hinter die Kulissen schauen, und fast immer entsprach das, was wir sahen, nicht den Vorstellungen von Selbstorganisation, die z. B. der Scrum Guide vermittelt. Aus systemtheoretischer Sicht sind alle Organisationen selbstorganisiert und erhalten sich autopoetisch. Der systemische Blick offenbart also eine andere Perspektive. Begriffe sind auch zu verstehen, wenn wir sie über ihr Gegenteil abzugrenzen suchen. Wenn wir uns dem Begriff dialektisch nähern, grenzt sich Selbstorganisation gegen Fremdsteuerung ab. Ein selbstorganisiertes Team in diesem Sinn sollte das "WIE" in der Hand haben, also selbst darüber entscheiden, wie es seine Ziele erfüllt und welche Methoden es nutzt. Das scheint alles andere als selbstverständlich -selbst bei denen, die sich selbst als agil bezeichnen. Nur 22,9 % können laut unserer Studie "Beyond agile" über Prozesse und Methoden selbst bestimmen. Noch seltener können die Teams selbst bestimmen, mit wem sie zusammenarbeiten (unter 3 %). Tab. 1.4 zeigt diese Abgrenzung. Dabei ist Selbstorganisation eine wichtige Voraussetzung für effektive Aufgabenerledigung. "Specifically, task effectiveness within the experimental condition was found to correlate significantly with the degree to which groups developed the properties or design features specified by the self-organization paradigm." [21] Kooperationen in Netzwerken stärken die Innovationsfähigkeit. Für einen Zusammenhang von Selbstorganisation und Innovation gibt es aber meines Wissens keinen Beleg. Der Kunde und die Wertschöpfung auf turbulenten Märkten steht im Zentrum aller agilen Anstrengungen. Agil heißt, schnell und innovativ auf seine Bedürfnisse zu reagieren. Unternehmen sind in Zukunft nicht der reinen Bedürfniserzeugung und -befriedigung verpflichtet, sondern auch der Erde und ihrer Zukunft. Ob Nokia oder Imtech, Kodak oder der Berliner Flughafen: Viele Pleiten, Pannen und Insolvenzen hatten mit fehlender Beweglichkeit und einer starren Kultur zu tun. Imtech etwa hatte zuletzt mit 22.000 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von vier Milliarden Euro erreicht und war 2015 an der Börse gerade noch 15 Millionen Euro wert [22] . Solche Beispiele gibt es viele, die Ursache für Scheitern ist aus der Überheblichkeit früherer Gewinner entstanden, die sich in starren Strukturen festsetzen konnte. Lässt sich Wirtschaft anders denken, Kultur lockern, Führung neu interpretieren? Seit Jahrzehnten schon finden sich Beispiele für Menschen, die etwas anders machen, meist Unternehmer. Einer dieser Alternativ-Unternehmer ist Lars Kolind, der in den 1990er-Jahren die erste papierlose Organisation führte und mit seinen Visionen umbaute. Sein Buch "Unboss" zeigte, wie er Führung versteht: "The unboss sees employees as family members." [23] Der HR-Manager ist für Kolind ein Community Manager, und Talente werden ausschließlich nach ihren Stärken besetzt. "In the unbossed organization, everybody should do what they like best and are best at." [23] Dabei basiert alles auf einem Growth Mindset, also dem Streben der Mitarbeiter, sich weiterzuentwickeln. "In Business people can be divided in two camps: those who know and those who learn (…) We are well aware that it requires great intellectual effort to question your own mindset in general and your own thoughts on management in particular." [23] Ja, es ist wichtig, sich selbst als "größte Intervention" zu sehen. Die eigene Haltung ist entscheidend, vor allem gilt das für Gründer und Inhaber. Ihre Organisation ist schließlich fast immer ein Spiegel ihrer Selbst. Ein Unboss-Konzept funktioniert deshalb bei kleinen und mittleren Unternehmen, vor allem wenn diese aufgrund Ausrichtung und Branche intrinsisch motivierte Menschen anziehen und Sinnbindungen bieten. Ein solches Konzept scheitert meiner Erfahrung nach in größeren Kontexten, bei fehlender Sinnbindung und wenn die Sicherheitsmotivation die intrinsische Motivation überwiegt. Das ist nicht selten eine Frage der Zugehörigkeit und des gewohnten Komforts. Der Haken an Kolinds Unboss oder ähnlichen Modellen ist, dass sie nicht von systemischer Geschlossenheit ausgehen, sondern ihre Herangehensweise für allgemein übertragbar halten. Eine Organisationsentwicklerin erzählte mir kürzlich von einer Umfrage, die sie im Unternehmen gestartet hatten. Es ging darum, was sich die Mitarbeiterinnen für die Zukunft wünschten. Das Unternehmen gehört einer der vielen Branchen an, die es 2025 nicht mehr geben wird. Doch das schien niemand zu tangieren. Die meisten Mitarbeiterinnen wünschten sich in der Umfrage eine planbare Karriere, ein gutes Gehalt und flexible Arbeitszeiten. Kaum jemand wünschte sich das, was nötig wäre, z. B. gemeinsam mit anderen an Ideen für neue Geschäftsmodelle zu arbeiten. Es gibt viele solcher Beispiele, die zeigen, dass von Belegschaften und Management verkannt wird, in welcher Umbruchphase wir stecken. Bereichsleiterinnen von Banken, deren Unternehmen absehbar in drei Jahren so wie bisher nicht mehr existieren kann, halten den eigenen Bereich für sicher. Intellektuell scheinen viele verstanden zu haben, dass etwas passiert, was an Dynamik einem Meteoriteneinschlag nahekommt, aber Wissen ist nicht gleich Verstehen. Hinzu kommt die Beschränktheit der menschlichen Wahrnehmung, die Komplexität nicht verarbeiten und zu exponentiellem Denken nicht in der Lage ist. Wir suchen immer wieder zu vereinfachen. Doch es gibt so viele Variablen, so viele Einflussgrößen, dass niemand alle sehen und erst recht nicht berechnen kann. Wer wirklich versteht, der erkennt zuerst seine eigenen Grenzen an und besinnt sich dann auf echte Stärken. Diese liegen nicht in der Analyse, nicht in der Planung und überhaupt nicht dort, wo viele sie derzeit suchen. Sie liegen in der menschlichen Natur, die einzigartig kreativ ist. Damit große Organisationen das aktuelle Geschäft erhalten und gleichzeitig neue Geschäftsideen erkunden können, empfiehlt es sich oft, nicht alles, sondern nur Teile der Organisation zu verändern. Ein mögliches Modell ist das 2. Betriebssystem nach John Kotter. Danach konstituiert sich ein selbstorganisiertes Team, das fortan direkt in der Wertschöpfungskette agiert, also unmittelbar beim Kunden. Es wird mit Ressourcen ausgestattet und bekommt einen klaren Rahmen, innerhalb dessen es sich frei bewegen kann. Die traditionelle Hierarchie darf nicht dazwischenfunken. Das Team wird an seinen Ergebnissen gemessen, wobei es Kennzahlen selbst festlegen oder vorschlagen kann [13] . Der Vorstand hatte entschieden: Dieses Team, genannt A-Team, sollte jederzeit Zugang zur Geschäftsführung haben. Es sollte selbst entscheiden und sein Budget verwalten. Auch, wo es arbeitete, oblag allein ihm selbst. Seine Aufgabe war klar: Es sollte alternative Geschäftsmodelle für die Bank entwickeln. Welche Methoden es dafür verwendete, wie es vorging, wen es sich zeitweise mit ins Team dazuholte oder wie es Entscheidungen traf: alles selbstorganisiert. Also wurde das Team aus der klassischen Hierarchie genommen und mit eigenen Rechten ausgestattet. Nur eines konnte es nicht: über die Geschäftsidee entscheiden. Es sollte vielmehr einen Vorschlag präsentieren, der dann iterativ weiterentwickelt wurde. ◄ Die Grundfrage bei der Organisations-Remodellierung lautet, wie Organisationen es schaffen können, beweglich zu sein und auf die globalen Veränderungen der Märkte schnell zu reagieren, ohne das Bestandsgeschäft zu gefährden. Die Digitalisierung treibt, aber noch sichern vordigitale Geschäftsmodelle die Existenz. Die Antwort darauf ist Ambidextrie, also Beidhändigkeit. Unternehmen müssen so aufgestellt sein, dass sie widersprüchliche Bedürfnisse wie die nach Innovation und Beständigkeit zugleich bedienen können. Ambidextrie bedeutet Zweihändigkeit, genau genommen "mit zwei rechten Händen". Im organisationalen Kontext heißt das, dass die Unternehmensführung scheinbar widersprüchliche Bestrebungen zugleich vorantreibt. Und so liegt die Kunst der Unternehmensführung nicht darin, alles zu agilisieren, sondern vieles zu flexibilisieren und zu verbinden. Dies bedeutet nicht, alles agil zu machen, sondern das eine so und das andere so zu gestalten -beidhändig, mit Ambidextrie. Gern fällt in diesem Zusammenhang der Begriff VUCA-Welt, für Volatilität, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. Organisationen müssen in der VICA-Welt bestehen können. Diejenigen, die ihn verwenden, vergessen allerdings öfter, dass nicht alles gleich volatil und komplex ist und auch Unsicherheit viele Facetten hat. Das Modell hat auch Grenzen, da es existenzielle Herausforderungen wie durch die Klimakrise ausblendet. Diese aber werden alles bestimmen, was wir in Zukunft tun. Neue Ökologie wird Zukunftstrend und Wirtschaft entscheidend beeinflussen [24] . Das bedeutet auch, dass Organisationsmodelle einen individuellen Zuschnitt und Anpassung erlauben müssen, was bei den derzeit gehandelten Modellen aber nur teilweise der Fall ist. "Agil werden" ist teilweise mehr ein Glaubensbekenntnis als eine Entscheidung für ein "Wohin wollen wir?". Im Folgenden stelle ich einige Ansätze vor und schildere deren Entwicklung sowie die derzeitigen Grenzen, die ich vor allem in dem Versuch sehe, agile Blaupausen ziehen zu wollen. Ich beginne mit dem prägnanten Spotify-Modell. Es ist weiterhin anzunehmen, dass die Mitarbeiter bei Spotify auch lernen wollen und grundlegend neugierig sind. Zudem ist das Organisationsmodell im Unternehmen gewachsen. In anderen Kontexten ist es dagegen von oben "eingeführt" worden, was einen großen Unterschied ausmacht. So zitiert Dominic Lindner in seinem Blog einen Telekom-Mitarbeiter: "Wir haben das Spotify-Modell für uns adaptiert. Die Herausforderung dabei ist, dass die Struktur nicht, wie bei Spotify, organisch gewachsen ist. Sie wurde vielmehr aufgesetzt und wir als agile Coaches müssen dafür sorgen, dass das funktioniert." [26] Nicht nur, dass hier ein bestimmtes Coachingverständnis zum Ausdruck kommt. Es stellt sich auch die Frage, warum Menschen Apfelbäume im Dschungel pflanzen wollen. Lindner berichtet aber auch, dass in seiner eigenen Firma das Modell gut funktioniert. Einzelne Bestandteile des Modells erweisen sich öfter als sinnvoll. So haben wir erlebt, dass Gilden -so oder anders benannt -helfen können, die persönliche Weiterentwicklung der Mitarbeiter und fachübergreifende Vernetzung zu fördern. Es bleibt vor allem eine Erkenntnis: Lösungen müssen organisch wachsen und aus einer Firma heraus entwickelt werden, Blaupausen kann es nicht geben. So kann das Modell durchaus als Anregung für einen eigenen "Organisationsprototyp" dienen. In diesen Fällen testen Firmen Elemente erst einmal in begrenzten Bereichen, um dann aus der Erfahrung zu lernen. Mitarbeiter sind eingebunden und wirken an der Umsetzung mit. Wenn dagegen beraterinnengesteuert etwas von oben nach unten ausgerollt wurde, stößt das in der Regel auf Widerstände. Mitarbeiterinnen schaffen es zudem oft, das neue System in das vorhandene perfekt einzupassen. Zwar kursieren dann neue Begriffe, jedoch ändert sich das Denken dahinter nicht. Ein Tribe Lead kann also genauso statusorientiert unterwegs sein wie ein Bereichsleiter zuvor. Nur die Namen haben gewechselt, nicht die Rollen. "Wir haben einen Traum. In diesem Traum sind Organisationen Orte, in denen Menschen täglich Sinn stiften durch das, was sie miteinander tun -nicht nur für sich und die Organisation, sondern auch für ihre Stakeholder und die Gesellschaft. Menschen gehen mit Freude dorthin, begegnen sich als Menschen und entfalten ihr Potenzial. Die Organisationen lernen jeden Tag dazu, werden kontinuierlich besser und die Menschen kehren mindestens genauso energiegeladen und erfüllt nach Hause zurück, wie sie am Arbeitsplatz erschienen sind. Die Dinge, die sie in Organisationen tun, tragen nicht nur zu ihrem eigenen Leben und Wohlbefinden bei, sondern gleichermaßen zu dem ihrer Kundinnen, Geschäftspartnerinnen und Kapitalgebenden. Sie sorgen für eine positive Entwicklung des gesellschaftlichen Umfelds und schonen Umwelt und natürliche Lebensgrundlagen." [27] Franziska Fink und Michael Möller von der Beratergruppe Neuwaldegg formulieren diese Aussage in ihrem Buch "Purpose Driven Organizations", Purpose als dominante Entscheidungsprämisse. Im Zuge dessen spielt auch Holakratie eine Rolle. Sie unterstütze den Prozess hin zu mehr Flexibilität und Autonomie. Neuwaldegg ist als Holakratie organisiert und hat sich dem Thema "Agilität" vor allem unter dem Sinnaspekt auch in den eigenen Angeboten verschrieben. Ein holakratisches Unternehmen hat die Holacracy-Verfassung ratifiziert. Diese wird als soziale Technologie beschrieben, als ein "Betriebssystem". Brian Robertson hat sie entwickelt, um sein eigenes Unternehmen umzustrukturieren -das er allerdings bald verlassen hat, um dann als Berater damit Geld zu verdienen. Die Holakratie basiert auf der Soziokratie einer Organisationsform, mit der Organisationen verschiedener Größe -von der Familie über Unternehmen und NGOs bis zum Staat -Selbstorganisation umsetzen können. Das bedeutet für Positionen wie Verwaltungsrat und Geschäftsleitung, dass sie ihre persönlichen Entscheidungsbefugnisse in ein transparentes Regelwerk übertragen haben. Dieses beinhaltet eine Sammlung von Praktiken, Prozessen und Strukturelementen, die Mitgliedern einer Organisation helfen, eine Arbeitsorganisation kontinuierlich zu ent wickeln. Es ist schwierig, konkrete Informationen über Erfahrungen mit Holakratie zu erhalten. Die Masterarbeiten und Promotionen, die ich zu dem Thema finden konnte, sind meist wenig kritisch; es geht fast immer um Fallstudien. Die Geschäftsführerin einer Agentur berichtete mir, das holakratische Experiment sei schnell beendet gewesen, als deutlich wurde, dass sich das Klima eher verschlechterte und das eigentliche Thema des Unternehmens die fehlende Konfliktkultur war. Es fehlte die Bereitschaft, um gute Lösungen zu ringen, es fehlte Sinnbindung. Stattdessen waren alle auf harmonisches Miteinander ausgerichtet, eine Tatsache, die die recht bürokratische Struktur der Holakratie nicht ändert. Unternehmen, die Holakratie einführen, wiederum berichten offiziell meist nur von "ersten Erfahrungen". Öffentlich über Irrtümer und Fehlentscheidungen zu sprechen, ist nach wie vor nicht üblich, wenn man damit das eigene Geschäftsmodell beschädigen könnte. c Wer nutzt Holakratie? Oft erscheinen Unternehmen in den Medien, die gar nicht in der offiziellen Übersicht vertreten sind. Sie finden auf http://structureprocess.com/holacracy-cases/ eine Übersicht von Unternehmen, die die "Verfassung" auch wirklich gezeichnet haben. Unter den Links finden sich oft Case Studies. Holakratie unterscheidet sich vom Spotify-Ansatz grundlegend darin, dass sie kommerziell vermarktet wird. Der Holakratie-Entwickler Brian Robertson und die im System ausgebildeten Berater verdienen damit Geld, ein entscheidender psychologischer Unterschied: Während ich das eine Stück für Stück selbst ausprobieren und individuell anpassen kann, ist das andere eine teure Entscheidung, die nicht so ohne Weiteres rückgängig gemacht werden kann. Die Organisation muss sich zudem auf die Berater und deren Knowhow verlassen. Da diese sich wiederum einem System angeschlossen haben, das Existenzgrundlage ist, ist eher nicht zu erwarten, dass sie auch eine kritische Perspektive einnehmen können, selbst wenn sie wollten. Zappos wurde laut Wikipedia 1999 gegründet und 2009 von Amazon übernommen [28] . 2013 machte Tony Hsieh, Chef des Online-Schuhhändlers, die neue Organisationsstruktur Holakratie bekannt und experimentierte mit einem Piloten für 150 Mitarbeiter. 2015 führte Hsieh Holakratie überall ein und schaffte damit Führungskräfte ab. 14 % aller Mitarbeiter nahmen das Angebot einer Abfindung an und verließen Zappos. Die Mitarbeiter entwickelten die Organisationsstruktur genauso wie das Produkt selbstorganisiert weiter. Die Call-Center-Agents etwa bestimmen selbst über ihre Arbeitszeiten. Das Gehalt wird in einem Peer-Rating-Prozess bestimmt. In "Zappos Innovation Lab" in San Francisco arbeitet ein Team an neuen Geschäftsmodellen. [29] Ob das Modell aber auch wirtschaftlich erfolgreich war, ist schwer zu sagen, Amazon weist die Zahlen nicht aus. Die letzte bekannte und veröffentlichte Zahl sind zwei Milliarden US-Dollar Umsatz 2015. [28] ◄ Die Soziokratie will ohne Abstimmungen auskommen, es sollen Argumente zählen und nicht die Anzahl von Stimmen oder die Position von Personen. Sie ist organisiert in autonomen, aber miteinander verknüpften Kreisen. Jedes Kreismitglied kann durch ein besseres Argument die Entscheidung zu einem ungeeigneten Vorschlag verhindern. Es reicht nicht, einfach zu sagen "Geht nicht" oder "Will ich nicht". Dieses Konsens-Prinzip bei Entscheidungen ist sinnvoll. Wer eine Entscheidung verhindern will, muss eine bessere Lösung vorbringen. Das setzt allerdings die Motivation aller Teilnehmer voraus. Aus einer Dienst-nach-Vorschrift-Haltung entstehen keine besseren Argumente. Nun werden Holakratie-oder Soziokratie-Befürworter möglicherweise einwenden, dass allein die Beteiligung schon Motivation entstehen lasse, was ich aber, schlicht aus Erfahrung, bezweifle. Es fordert auch die Bereitschaft, über einen kritischen, anstrengenden Punkt hinauszudenken, was viele Menschen nicht gewohnt sind. Der Begriff Holakratie (auch Holokratie) bezieht sich auf das Wort Holon, "Teil eines Ganzen". Stellen gibt es bei Holakratie nicht, kontinuierlich wird das Unternehmen verändert, und alle Mitarbeiter und Unternehmensteile werden dabei einbezogen. Entscheidungsverantwortung obliegt den erwähnten Kreisen, Abteilungen sind abgeschafft. Statt Positionen gibt es Rollen, einige sind in der Holakratie vorgegeben, etwa der Link Rep, der das Know-how aus den Kreisen verknüpft. Es ist aber auch möglich, Rollen zu entwickeln, diese anzupassen und auch wieder abzuschaffen, wenn sie sich nicht bewähren. Die Rollen sind an den Aufgaben des Unternehmens ausgerichtet und an klare Verantwortlichkeiten geknüpft. Manche Organisationen haben gute Erfahrungen mit Elementen aus dem System gemacht. Holakratische Ideen eignen sich für überschaubare Organisationen, die in komplexen Zusammenhängen agieren, in denen die Mitglieder strukturiert zusammenarbeiten wollen. Das Spotify-Modell und Holakratie sind nur in einem Punkt zu vergleichen, auch wenn sie beide Agilität ermöglichen sollen: Es geht jeweils um Modelle zur Ermöglichung von Selbstorganisation, bei denen Mitarbeiter und Teams autonom agieren. In Spiral Dynamics wäre Holakratie deutlich "blauer", in seiner Wertestruktur also mehr auf Prozesse und Vorgaben ausgerichtet, während das Spotify-Modell in seinem Grundanliegen grün-gelb ist, also flexibler mehr auf Kommunikation und Weiterentwicklung einer gemeinsamen Wissensbasis (zu Spiral Dynamics siehe Kap. 2). Auch das Spotify-Modell lässt sich als Plug&Play-Organisationsdesign zweckentfremden, und am Ende bleibt ein nicht geschützter Produktname, der für "Äpfel und Birnen" gebraucht wird, die nicht vergleichbar sind. Selbstorganisation im dialektischen Sinn -also in Abgrenzung zur Fremdsteuerung -verlangt ein demokratisches Grundverständnis. Ein demokratisches Grundverständnis wiederum baut darauf, dass Menschen sich einigen und gemeinsame Lösungen in den Mittelpunkt stellen können. Dafür brauchen sie Organisationsstrukturen, die das fördern. Kollegiale Führung ist ein von Bernd Oestereich und Claudia Schröder entwickelter Ansatz, der vor allem für kleinere Firmen und Einheiten passen kann. Eigentlich ist es kein eigener Ansatz, sondern vor allem eine Sammlung von strukturierten Herangehensweisen und Methoden, deren Wert vor allem in den grafisch sehr gut ausgearbeiteten und offen verfügbaren Modellen, Postern und Tools liegt. Diese basieren überwiegend auf vorhandenen Ansätzen wie etwa Spiral Dynamics. Auch Klassiker wie die Themenzentrierte Interaktion (TZI) von Ruth Cohn fließen in die Modelle ein. Der Fokus liegt darauf, Strukturen für Austausch und Entscheidungen zu schaffen. Der Ansatz ist offen und lässt eigene Interpretationen zu, was ihn pragmatisch macht. Im Kern beruht die Idee der beiden Organisationsberater darauf, dass Führungsaufgaben von Kolleginnen gemeinsam wahrgenommen werden. Statt in Abteilungen arbeitet man in an der Wertmaximierung für den Kunden, auf den die Kreisstruktur ausgerichtet ist. Es sind durchaus Kombinationen von Kreisen mit klassischer Linien-oder Matrixorganisation möglich. Oesterreich und Schröder lassen unterschiedliche Organisations-und Führungsformen zu. Sie gehen von einer schrittweisen Organisationsentwicklung aus. Alle Materialien aus den Büchern sind öffentlich verfügbar und können von jedem verwendet werden. Oestereich versteht Führung nicht als exklusive Tätigkeit von Führungskräften, die anweisen, verteilen und beurteilen. Stattdessen sieht er eine Führungsarbeit, die selbstverständlicher und integraler Teil der Arbeit jedes Mitarbeiters -Oestereich nennt sie Kollegen -sein kann. "Kollegiale Führung ist die auf viele Kollegen dynamisch und flexibel verteilte Führungsarbeit an Stelle von zentralisierter Führung durch einige exklusive Führungskräfte." [30] Eine zentrale Unterscheidung ist dabei die zwischen Push und Pull. Laut Oestereich sind nur Pull-Organisationen agil, denn sie nutzen den Sog. Dies ist auch ein Prinzip agilen Arbeitens. Push-Organisationen dagegen teilen zu. Das ist das traditionelle Prinzip. Oestereich unterscheidet operativ-inhaltliche (Arbeit im System) und organisationale Ebene (Arbeit am System). Organisationsentwicklung wird damit Bestandteil einer "Metaführung". "Wenn eine große Menge von Menschen kooperieren möchte, braucht sie auch hierarchische Strukturen. Der Unterschied einer kollegialen Führung gegenüber einer Führung mit festen Führungskräften in einer Linienorganisation besteht darin, dass die Verantwortungsbereiche von den Beteiligten selbst weiterentwickelt und neu ausgehandelt werden können." [30] Im Kern geht es darum, Menschen zu Verantwortung zu bringen, indem man sie beteiligt. So entsteht Sinnbindung. Oesterreich und Schröder propagieren die Wertbildungsrechnung (WBR) als alternativen Ansatz zur Kostenrechnung. Die WBR hat der dm-Drogeriemarkt mit Götz Werner entwickelt und 1993 eingeführt. Ziel war eine monatliche Ergebnisrechnung, die Prozesse des Unternehmens transparent abbildet. Dabei fokussiert die WBR vor allem den Unterschied zwischen Eigen-und Fremdleistungen. Gewinnmaximierung steht nicht im Vordergrund. Die Unternehmensdemokratie legt einen Fokus auf die Beteiligung der Mitarbeiter. Sie fusst auf der Vorstellung von einer demokratischen Verfassung von Unternehmen und Non-Profit-Organisationen. Dabei ist die Belegschaft in die betrieblichen Entscheidungsprozesse eingebunden. Sie wirkt also mit und ist beteiligt, auch am Erfolg. In Deutschland hat Andreas Zeuch das Konzept bekannter gemacht. Seine Definition: "Unternehmensdemokratie ist die Führung und Gestaltung von Organisationen durch alle interessierten Mitglieder, um den jeweiligen Organisationszweck zu verwirklichen. Sie ist verbindlich verfasste Selbstorganisation, die kein alleiniges Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung ist. Deshalb achten demokratische Organisationen bei der Erzeugung und dem Vertrieb ihrer Produkte und Dienstleistungen auf das Gemeinwohl aller Stakeholder." [31] Dabei geht es ebenso nicht um Gewinnmaximierung, sondern um ein nachhaltigers und menschlicheres Wirtschaften. Es liegen Welten zwischen diesen Ansätzen und den zuvor beschriebenen. Sie machen nicht die Ausrichtung an einem beweglichen Markt zum Ankerpunkt wie viele von Business Agility geprägte Ansätze. Sie passen besser zu einer holistischen, methodenoffenen Haltung, die Zukunft als Gestaltungsraum sieht. Und dabei auf die Kraft demokratischer Strukturen setzt. Das ist in einer Welt, die sich derzeit eher im Demokratieabbau befindet, alles andere als profan. Gleichzeitig eignen sich diese Ansätze eher für kleinere und mittlere, inhabergeführte Unternehmen; sie passen weniger in Konzernstrukturen. Während dieses Buch entsteht, entstehen auch weitere Frameworks. Einige werden weiter entwickelt, andere entpuppen sich als "Rohrkrepierer". Letztendlich ist die Entwicklung neuer Ansätze des Organisationsdesigns auch ein Geschäftsmodell: Die damit verbundene Beratung bringt Unternehmen Geld. Die Frameworks haben dabei unterschiedliche Schwerpunkte. Ein Beispiel für ein solches Framework für den Bereich "Enteroprise Agility" ist FLEAT von Haufe. Es arbeitet mit der Metapher einer Flotte und zielt vor alle auf Innovation. Damit soll sich die Innovationstätigkeit im Unternehmen ankurbeln und kanalisieren lassen. Mitarbeiter sollen "Intrapreneure" werden, Ideen einreichen und im geschützten Rahmen einer Festanstellung umsetzen können. Dafür dürfen sie Floße bauen, die -sollten sie sich bewähren -durch Schleusen fahren und dann zu Schnellbooten werden. Vielleicht entsteht irgendwann einmal ein Kreuzfahrtschiff, also eine große Idee, die vielen Mitarbeitern eine Aufgabe gibt. Gleichzeitig zeigt das Bild die Vergänglichkeit von Metaphern, denn in die Coronakrise passt es nicht. Ob sich solche Rahmenwerke wirklich durchsetzen, bleibt abzuwarten. Das Grundprinzip, eine Metapher mit einer Struktur zu verbinden und in die Abläufe einer Organisation zu "hängen" lässt sich oft passgenauer selbst machen. Eine "Konservenstruktur" mag in Einzelfällen Inspiration liefern und dem Selbstgemachten überlegen sein. Da aber jede Organisation anders tickt, scheinen der Standardisierung in diesem Gebiet doch enge Grenzen gesetzt. Die fünf Manager saßen am großen eckigen Eichentisch. Sie redeten über die unbedingte, ja dringende Notwendigkeit, einen Kulturwandel anzustoßen. Man habe ja bereits eine Strategie ausgearbeitet und wisse genau, wo man hinwolle. Alles sei exakt und detailgenau dargelegt. So solle auch die Transformation erfolgen: durch eine Beschreibung des Weges vom Ist zum Soll. Als ich versuchte, die Vorgehensweise zu hinterfragen, wurde ich entrüstet angesehen. Man habe auch das Thema Agilität berücksichtigt. Dafür habe man einen "agilen Coach" eingekauft, der das agile Arbeiten einführen werde. Der Gedanke, dass eine Transformation ein grundlegender, nicht planbarer Wandel sei, schien den Anwesenden ebenso absurd, wie meine Abgrenzungsversuche auf Unverständnis stießen. Niemand dachte an einen Paradigmenwechsel, der dazu führen müsste, grundsätzlich alles -auch die eigene Herangehensweise -zu hinterfragen. Genau das ist aber das Wesen der Transformation. Change, Transformation, Kulturwandel, alles wurde dem Boden gleichgemacht. Werte seien auch ausgearbeitet und auf der Website bereits abrufbar. Die Idee, dass es kein Soll geben könne, klang aberwitzig -auch wenn durch Lektüre agiler Literatur gewisse Begriffswelten angekommen waren. Es konnte aber nicht in eigenes Verhalten übersetzt werden. "Nicht planbar" und "iterativ" bedeutete dann einfach: "Wir passen das Konzept gegebenenfalls an, wenn es nötig sein sollte. Aber erst mal wird es so gemacht." Meine Frage WOHIN WOLLEN SIE? wurde ebenso einfach, schnell und unkompliziert beantwortet: "Wir müssen neue Geschäftsmodelle entwickeln, die das Verhalten jüngerer Nutzer berücksichtigen!" Das Wollen war ein Müssen, die Kunden eher Zielgröße als Prozesswesen. Als Gestalter verstand man sich jedenfalls nicht. Der Glaube an Planbarkeit ist in der Betriebswirtschaft tief verwurzelt. Er fußt auf der Annahme, dass alles berechenbar sei, Produktionsmittel, Prozesse. Der Mensch müsse nur anwenden und steuern. Ihre Herkunft als Handlungswissenschaft schlägt sich in der Suche nach praktischen und unmittelbaren Lösungen nieder. Das betriebswirtschaftliche Planungsdenken ist tief verankert in den Köpfen. Die Folge: Agile Methoden werden integriert und den vorhandenen Denkstrukturen angeglichen. So werden diese dabei schnell "entagilisiert". Begriffsklärung ist lästig, aber nötig in einer Zeit, in der Worte schnell zu Hülsen werden. Sie ist allein deshalb essenziell, weil die Organisation ein gemeinsames Verständnis braucht. Und da hat die bisherige agile Welle für viel Verwirrung gesorgt. Mit ihr kamen neue Bedeutungen der Begriffe Change, Kulturwandel, Transformation und Evolution (siehe Tab. 1.4). Wie die Tabelle zeigt, ist keine genaue Abgrenzung möglich, da jeweils aus unterschiedlichen Brillen auf Veränderung geschaut wird. Alle haben ihre Berechtigung. Sinnvoll ist es allerdings, sich für eine zu entscheiden, da zu viele "Konstrukte" durcheinanderbringen und kaum in die Fläche kommuniziert werden können. Der Begriff Change Management wurde in der Praxis meist für Planungsmaßnahmen gebraucht, die mit dem ursprünglichen Gedanken wenig zu tun haben. Der enthaltene Begriff Management suggeriert neben dem Planungsaspekt, es lasse sich etwas organisieren, also von oben vorgeben. Change Management dürfte bei den meisten Mitarbeitern zudem kein gutes Image haben, wie neben den eigenen Erfahrungen diverse Studien und Buchpublikationen nahelegen. Es fügt sich zudem nicht so gut in den agilen Kontext -geht es doch nicht um Planung und Organisation von Veränderung, sondern um Begünstigung von Bedingungen für ein Verhalten, das einem Unternehmen sein Überleben sichert. Change findet im Rahmen des bisherigen Paradigmas statt, also davon ausgehend, dass die Rahmenbedingungen einer Organisation bestehen bleiben. In dieser verlangen Unternehmen nach Lösungen für Probleme, stellen sich aber nicht die entscheidende Frage WOHIN WOLLEN WIR? Die Antworten auf das WAS finden Unternehmen in Scrum, Kanban, skaliertem Scrum oder Organisationsformen wie Spotify. Ihr Wert ist "Lösung", was man daran erkennt, dass absolut vermieden wird, einen Zustand auszuhalten, in dem es keine Lösung gibt. In dieser Phase ist Anleitung der wahre Wert, nach dem man strebt, was niemand wirklich gern zugeben mag. Als völlig unangebracht sieht man das freie, experimentelle Vorgehen an, wiewohl man seine eigene Herangehensweise dafür hält. Experimentelles Vorgehen wäre aber zugleich das, was den gültigen Wert auflösen und transformieren könnte. Freies Vorgehen löst in Phase 1 gleichwohl Irritation aus. Diese könnte sich zeigen, wenn auf die Frage "Was genau ist denn jetzt sinnvoll?" mit einer Gegenfrage geantwortet würde: "Was genau spüren Sie denn, was sinnvoll wäre?" Antworten wird man jedoch kaum auf der organisationalen Ebene finden, sondern vor allem auf der individuellen, bei einzelnen Personen. Mit dem Zweifel an der eigenen Vorgehensweise öffnet sich der Raum, und ein Übergang in Phase 2 wird möglich. "Das haben wir in einem Workshop erarbeitet, das gilt!", sagte mir die Bereichsleiterin. Ihr Chef hatte sie beauftragt, endlich das Mindset in den Vordergrund zu stellen. Das Ergebnis waren 120 PowerPoint-Charts. Die Schulungen sollten schließlich an ein bis zwei Tagen stattfinden. In meinem Buch "Das agile Mindset" habe ich versucht, das Thema in seiner Komplexität angemessen zu behandeln [13] . Mein Ziel war, dass Leserinnen differenzierter an die Thematik herangehen. Eine wichtige Botschaft ist, den Kontext zu verändern, die Spielregeln und dazu gehörtauch, Personen an Schalt-und Schnittstellen zu setzen, die in ihrer Persönlichkeitsentwicklung bereits systemisch denken können, also den "Richtig-Modus" überwunden haben. Ein "Growth Mindset" entsteht nicht im Handumdrehen; das Gegenteil "fixed" wird durch das Umfeld erzeugt. Die Etablierung von Growth Mindset zeigt sich nicht im Erkennen der "Fixed Mindsets", die sonst so durch das Unternehmen laufen, sondern in der systematischen Beschäftigung mit den eigenen Begrenzungen und der uneingeschränkten Bereitschaft zu lernen. Es ist mehr ein Prozess, in dem einem gewahr wird, wie wichtig das eigene Lernen und Reflexion sind. Dieser Prozess wurde in manchen Organisationen gar nicht gefördert, was bestimmte Menschen anzieht, die "Know-it-alls". Agilität braucht aber "Learn-it-alls" -wie Microsoft-Chef Satya Nadella konstatiert. "If you take two kids in school, let's say one has a lot of innate capacity but is a know-it-all. The other person has less innate capacity but is a learn-it-all. You know how that story ends. Ultimately, the learn-it-all will do better than the know-it-all. And that I think is true for CEOs. It's true for companies." [34] Wird Mindset in Verbindung mit Neugier und Lernbereitschaft gesetzt, bekommt es eine andere Qualität. Wird es zudem von ganz oben vertreten und vorgelebt, bildet es das Fundament, auf dem eine neue Kultur wachsen oder sich wandeln kann. Nun ist aber Mindset keine technische Einstellungssache, sondern eine menschliche. Mindset bildet sich durch Erfahrung. Die Kontexte der Vergangenheit prägen die "Einstellung" von heute. Anpassung ist möglich, erfordert aber neues Lernen. Wenn Menschen lernen, kollidiert das "Alte" immer mit dem "Neuen". Das "Neue" sorgt für Irritationen. Wenn Sie früher Französisch gelernt haben und jetzt Spanisch, grätscht das Französische immer wieder rein. Bei Denkweisen kommt noch eine stärkere emotionale Prägung dazu. Wenn ein Mensch sich bisher über die Anerkennung der Position "Führungskraft" definiert hat, fällt dies nicht einfach mit neuen Informationen weg. Es erfordert eine Art Identitätsumbau. Das ist ein psychischer und emotionaler Prozess, bei dem sich Irritationen, Ängste und Widerstände gar nicht vermeiden lassen. Deshalb ist dieser Prozess ohne Einbeziehung von Emotionen, ohne Offenheit und Benennung von Widersprüchen nicht möglich. Das bedeutet auch, dass es nicht nur um Schulungen gehen kann, sondern um einen Prozess, in dem systematisch neue Anreize geboten werden, die ein "Growth"-Verhalten fördern. Eine entwicklungsorientierte Haltung ist damit die Basis. Das beinhaltet zweierlei: • Menschen lernen, über sich und ihre Handlungen offen zu reflektieren • Menschen lernen, zu lernen, also sich freiwillig immer neuen Lern-Herausforderungen zu stellen Da gibt es viele neue hilfreiche Ansätze. Wer nicht so gern liest, kann mit Podcasts auf den Geschmack kommen. Auch Videos bei YouTube können lehrreich sein. Nicht zuletzt sind es Gespräche mit Menschen, die anders ticken. Auch Erwachsene lernen durch Imitation, am liebsten durch Vorbilder. Besonders wirksam sind auch alle Lernformen, die den Körper einbeziehen. Es gibt sehr viele Übungsmöglichkeiten, einige beschreibe ich in "Mindshift" [35] . Das Growth Mindset ist die beste Basis für ein "agiles Mindset", ein Learn-it-all-Mindset, das unter veränderlichen Marktbedingungen beweglich bleibt. Es ist auch die beste Basis für Selbstorganisation, denn diese setzt voraus, dass Menschen lernen wollen. Diese Phase scheitert meistens an der zu geringen Komplexität, mit der die Verantwortlichen Mindset ausstatten. Sie reduzieren das agile Mindset auf die agilen Werte. Ein weiterer Grund für Scheitern ist die Einzelorientierung. Geht es um Teams, müssen diese in den Mittelpunkt rücken. Das bedeutet auch, dass Entscheidungen zugunsten von Teams und nicht von Einzelinteressen getroffen werden. Microsoft hat eine erfolgreiche Transformation hinter sich. Satya Nadellas Vorgänger Steve Ballmer hatte wenig Raum für Innovationen gelassen, das Unternehmen hatte nach der erfolglosen Übernahme von Nokia erhebliche Probleme. Die Kultur musste beweglicher sein, ein eher sturer Typ wie Ballmer war nicht mehr gefragt, hatte er doch trotz anderer Ratschläge dem Kauf zugestimmt. Und bekanntlich spiegelt sich die Führungskultur immer auch im CEO wider. Eine Folge der Fehlentscheidung war unter anderem der uneingeschränkte Siegeszug des iPhones von Apple. Innovationen konnten sich nicht durchsetzen, Neugier und Lernen waren nicht gefragt. Es hatten sich eine Sattheit und Arroganz eingeschlichen. Die Inspiration für die Art und Weise der Transformation gab Nadellas Frau, die ihm ein Buch von Carol Dweck überreichte: "Mindset". Darin beschreibt sie die beiden unterschiedlichen Mindsets. Das Fixed Mindset meint alles zu wissen, das Growth Mindset möchte unbedingt lernen. Das Fixed Mindset vermeidet Feedback, das Growth Mindset sucht es geradezu, um sich zu entwickeln. Das ist es! Nadella entschied, das Modell als strategische Grundlage für kulturelle Maßnahmen und Personalentwicklung heranzuziehen. Das war nicht von Anfang an von Erfolg gekrönt. So beobachtete Nadella bald, wie Mitarbeiter den Kollegen Fixed-Mindset-Denken unterschoben und das Modell missbrauchten. Nadelle und sein Team ließen das nicht einfach laufen. Genau diese Art zeige eben das Fehlen eines Growth Mindsets, sagt Nadella in einem Interview. Heute ist die Frage nach dem eigenen Growth Mindset eine Interview-Frage für Bewerber. Aus einem Interview: "Dachten die Microsoftis nicht über Jahrzehnte, sie wissen eh alles besser? Zumindest dachte früher jeder, er sei der Klügste im Raum (lacht). Allerdings passierte nach meiner Ansage Folgendes: Mitarbeiter baten mich zum Gespräch und sagten: ,Satya, wir haben die zehn Leute in der Firma ausgemacht, die kein Growth Mindset haben.' Nett. Und absolut falsch, denn es geht darum zu erkennen, wenn man selbst kein Growth Mindset hat." [36] ◄ Zeigen sich weder Methoden-noch Mindset-Bemühungen als erfolgreich, kann es weitergehen, oft ist dafür ein äußerer Anlass gegeben -etwa die Bedrohung durch einen neuen Wettbewerber. Auch die Coronakrise hat viele Organisationen in diese Phase geworfen, denn Home Office ist vielfach nur möglich, wenn die Teams sich innerhalb eines Rahmens selbst verwalten. Weder Methoden noch Mindset-Strategien allein werden der Komplexität des eigentlichen Problems gerecht, selbst wenn sie nun professionalisiert worden sind. Sie sind immer noch von zu geringer Komplexität, denn die Strukturen halten die Menschen fest in Schach. Wichtig ist allerdings, dass die vorherigen Phasen zu einer Erkenntnis geführt haben: • Die Methodologie zu der Erkenntnis, dass erst das Warum geklärt sein muss, Methoden je nach Herausforderung unterschiedlich sind, agile Methoden nicht automatisch überlegen sein müssen und dass Methoden ein längeres gemeinsames Lernen und Anpassen erfordern. • Die Mindsetologie zu der Erkenntnis, dass es um Kulturwandel und Lernkultur geht, oft andere Personen als bisher Schlüsselfunktionen übernehmen sollten und strukturelle Anreize sich verändern müssen. Bei Mindset stand noch oft eher der einzelne Mensch oder die Führungskraft im Mittelpunkt. Nun kann das Augenmerk auf das Team fallen. WIE schaffen wir es, uns so zu organisieren, dass wir Kundenbedürfnisse schnell bedienen können? Wie gehen wir vor? Wie variieren wir das unter WAS Gefundene für uns und hinsichtlich dessen, was wir erreichen wollen? Wie verbinden wir Mindset als Fantasiewort ohne konkreten Inhalt und Strukturals etwas, das man sehen kann? Typischerweise kommt man nun auf das Thema Selbstorganisation. Das Team und seine Dynamiken rücken ins Blickfeld. Der Umgang mit Methoden wird experimenteller, das Wesentliche am agilen Arbeiten wird erkannt: Befähigung und Empowerment von kleinen Einheiten, Netzwerkstrukturen, Kundenbedürfnisse erfüllen -sofort und ohne viele Freigaben. In dieser Phase sucht niemand mehr nach Blaupausen. Im Mittelpunkt stehen Impulse und Anregungen, gerne auch aus anderen Branchen. Der Kunde ist ins Zentrum gerückt, und zwar ganz konkret. Der Wert von Kommunikation ist gestiegen, Reflexion als wertvoll erkannt, Retrospektiven sind nicht mehr nur eine lästige Pflicht oder werden vom Scrum Master in Projektmanager-Manier "geleitet". Die Suche nach Kochrezepten hat aufgehört, auch wenn man sich immer noch gern an etwas orientiert. Doch nun geht es ums Customizen, ums Anpassen und Weiterentwickeln. Der Wert ist nun der Kunde selbst. Schwierig wird es, wenn neue Geschäftsmodelle anstehen. Hier können Ansätze wie "Effectuation" helfen, bei denen nicht geplant, sondern steuernd aufgrund eigener Ressourcen und verfügbarer Mittel gestaltet wird. Effectuation wurde von der heutigen Entrepreneurship-Professorin an der University of Virginia, Saras D. Sarasvathy, entwickelt. Es ist keine Lösung für alles. Nützlich jedoch der Gedanke, dass jedes Unternehmen und jede Situation anders sind und Antworten sich aus der Gegenwart des Unternehmens ergeben -was erfordert, diese überhaupt wahrzunehmen. In dieser Phase wird echtes agiles Arbeiten möglich, eine wirkliche Einbeziehung des Kunden. Das kann zu Erfolgserlebnissen führen und das Geschäft oder Teile davon neu beleben. Allein in der Interpretation von Selbstorganisation liegt viel Potenzial und Lernerfahrung: Wo ergibt diese Sinn? Wie ergibt sie Sinn? Welche Voraussetzungen braucht es wirklich? Eine in dieser Phase schwer zu überwindende Grenze ist der Sinn, der über allem liegt und sich nach und nach vom Kunden lösen kann oder den Blick auf diesen verändert. Möglicherweise tauchen Fragen auf, wie: "Wollen wir diese Kundenbedürfnisse nach Luxuslimousinen überhaupt noch erfüllen, wo damit doch Ressourcen zerstört werden?" Übernimmt diese Frage die Führung, wird sich Phase 3 öffnen. In dieser Phase geht es nicht mehr um Methoden, nicht um WAS und nicht um WIE. Jetzt geht es um die Frage WOHIN WOLLEN WIR? -und wie können wir Unterschiedliches vereinbaren? Der Begriff des Ökosystems könnte aufkommen, in dem viele unterschiedliche Pflanzen wachsen und das ein Fließgleichgewicht benötigt, damit nicht eine Kraft dominiert. Oder das evolutionäre Unternehmen. Auf jeden Fall aber der Hybridgedanke -wir brauchen nicht nur eine Sorte "Sprit" für das agile Zeitalter, sondern mehrere. Lösungen sind nicht ganz klar, sie entstehen. Es wird philosophischer, tiefgründiger, auch wenn die Antwort durchaus pragmatisch ausfallen kann. Jetzt sollte bewusst geworden sein, dass "Agile" kein einheitliches Konzept ist und die grundlegende Entscheidung an einem wichtigen Punkt getroffen werden mussgeht es uns weiter um die klassische Wirtschaftslogik der Gewinnmaximierung oder auch um eine lebenswerte Arbeitswelt der Zukunft? Ließe sich beides sogar verbinden? Weshalb existieren wir überhaupt? Höchstwahrscheinlich nicht dafür, dass alle Menschen zwei Autos auf dem Grundstück parken. Jedenfalls gehört das zu den Zwecken, die sich nicht mehr in das Bild fügen, das in gemeinsamer Visionsarbeit gestaltet worden ist. Zugleich zeichnet sich meist auch ab, dass das eine und das andere wichtig sind, zum Beispiel Bestand und Neugeschäft, Innovation und Tradition. Einseitiges Effizienzdenken ist damit nicht mehr möglich. WOHIN WOLLEN WIR? Diese Frage sollte nicht (nur) aus der Perspektive des Marketings beantwortet werden. Sie beinhaltet das WIR und damit die Einbeziehung aller. Wer nicht daran glaubt oder sich mit der Antwort nicht identifiziert, bleibt zurück. Gleichzeitig ist WOHIN? Keine Frage, die auf den Purpose, sondern auf die Richtung der Bewegung generell zielt, auch in kleinen Fragen wie "wohin wollen wir mit Remote-Work in unserem Team?". Der Wert ist jetzt Zukunftssicherung -und das, was dem entgegensteht, nennt sich Sinnlosigkeit. Zukunftssicherung ist nur möglich, wenn wirtschaftlich übergeordnete Gedanken einfließen. Sinnlosigkeit deutet auf fehlende Zukunftssicherung, denn diese ist nicht mehr nur ökonomisch zu verstehen. So bildet die Grenze jetzt die Ökonomie, die Geschäftsmodellen Grenzen setzt, die verschoben werden wollen. Es zeigen sich Lösungen hinter dem klassischen Gewinnstreben, kreative Modelle, die die Gesellschaft als Stakeholder sehen. Flexibilisierung erfordert den Blick auf das, was im Moment für ein Unternehmen vor dem Hintergrund seiner individuellen Herausforderungen wichtig und richtig ist. Dabei hilft es, sich vor Augen zu führen, dass es Tanker und Schnellboote gibt und einiges dazwischen. Tanker und Schnellboote haben unterschiedliche Aufgaben. Ein Schnellboot bringt Abenteuer oder die Rettung, ein Tanker transportiert Güter. Gemeinsam ist ihnen nur, dass sie auf dem Meer fahren. So fahren auch Start-ups und Konzerne auf dem Meer des Systems "Wirtschaft", buhlen bisweilen um die gleichen Kunden oder die blauen Ozeane der neuen und innovativen Geschäftsideen -das ist aber auch schon das Einzige, was sie verbindet. Auf dem roten Ozean des Wettbewerbs können sie gar nicht miteinander konkurrieren, da siegt ohnehin das Schnellboot. Es muss also ein Miteinander geben. Die einen (Start-ups) müssen sich am Markt bewähren und dafür wendig sein. Die anderen (Tanker) halten ihre Stellung. Auch die Menschen, die in Konzernen anheuern, unterscheiden sich für gewöhnlich erheblich von denen, die Start-ups attraktiv finden: Die einen suchen Abenteuer und Freiheit, die anderen Sicherheit und Bindung. Die einen motiviert der schnelle Wettbewerb, das Siegen und Gewinnen; den anderen macht das eher Angst. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Schnellboote und Tanker auf die gleiche Weise erfolgreich gemanagt werden sollten. Agiles Management versucht oft, die Konzepte des einen auf das andere zu übertragen. Ab Phase 4 beginnen Unternehmen, diesen Unterschied immer deutlicher zu sehen -und Management selbst in Frage zu stellen. Die Geschäftsführerin war für fünf verschiedene soziale Einrichtungen zuständig. Unter ihr arbeiteten die jeweiligen Einrichtungsleitungen und ihre Stellvertretungen. Das eigentliche Team bestand aus zehn bis 15 Mitarbeitern, die verschiedenen Fachaufgaben nachgingen. Die Mitarbeiter, die für die Bewohner der einen Einrichtung zuständig waren, arbeiteten im Schichtdienst. Gemeinsame Aufgaben gab es nicht. Jeder konnte unabhängig vom anderen seinem Job nachgehen, einzig zur Übergabe beim Schichtwechsel war etwas Kommunikation nötig. Begeistert vom agilen Arbeiten und vor allem von der Kombination aus Taskboard und Daily, regte die Geschäftsführerin an, diese agilen Methoden doch einmal selbst anzuwenden. Dass das eher wie eine Anordnung wirkte, war ihr ebenso wenig bewusst wie die Tatsache, dass das Vorhaben ohne strukturelle Änderungen kaum Sinn ergab und mehr noch sogar kontraproduktiv war. Nach wenigen Wochen hatten sich mehr Aggressionen aufgebaut, als dass wirklich eine gemeinsame Linie für den Umgang mit dem Meeting gefunden worden wäre. Keiner wusste, was er genau sagen sollte, und das Notieren von Aufgaben auf bunten Postits empfanden alle nach anfänglicher, sehr kurz währender Faszination schon bald als überflüssig und sogar lästig. Die hier beschriebene Einrichtung ist weit entfernt von einem agilen Unternehmen. Trotz Daily und Board wird die Organisation ganz traditionell gemanagt. Würde man die Mitarbeiter aber fragen, ob sie bereits agil arbeiten, so würde dem sicher zugestimmt werden. So stellt sich die Situation bei vielen Unternehmen dar. ◄ Alle müssen sich ändern. Jeder braucht seine Lösung. Doch in vielen Organisationen vollziehen sich notwendige Veränderungen zu langsam, wenn sie inkrementell vorgehen: Diese Einsichten haben sich durchgesetzt, wenn es in Phase 5 geht. Sie lässt wieder starke Führung zu, die bis dahin verpönt war. Der Purpose kann jetzt das sein, was den Drive gibt, mitreißt und motiviert. Er übernimmt einen wichtigen Teil der Führung, aber ersetzt die starke Führung nicht, die es jetzt dringend braucht. Denn in vielen Unternehmen hat bis hierhin Führung einen ganz schlechten Ruf, vor allem "die oben" und erst recht das Mittelmanagement. Ich erlebe, dass immer weniger Menschen Führung übernehmen wollen; und das deckt sich mit Ergebnissen von Studien. Niemand will mehr so sein wie "die da oben". Aber an das Neue traut sich auch keiner heran. Die Folge sind Schiffe ohne Kapitän und ohne Klarheit in der Ausrichtung. Begreifen wir Agilität als Gegenpol vom Rigidität, muss jetzt auch etwas Rigidität einziehen, zeitlich begrenzter Wahnsinn und damit einhergehenden Starrsinn sogar. Die Verrückten, die das Boot umdrehen. Der Purpose muss verkörpert, mit Leben und vor allem mit Glaubwürdigkeit gefüllt werden. Die Phase 5 sehe ich überall dort kommen, wo schon länger mit Selbstorganisation experimentiert wurde. Es ist der Wunsch, dass endlich jemand die Richtung vorgibt, den Weg weist, nicht mehr alles diskutiert wird. In dieser Phase sehen wir, dass jede Entscheidung für auch eine Entscheidung gegen etwas ist. Es kann sein, dass jetzt auch wieder jemand von der alten Schule übernimmt, für den Agilität Unsinn ist und der nicht lange fackelt. Nach zu vielen Diskussionen kann der Boden dafür durchaus bereitet sein, erst recht, wenn es wirtschaftliche Engpässe gibt, etwa in einer Rezession. Es mag also einen Rückfall geben, typischerweise aber nicht, wenn Unternehmen bereits Phase 4 erreicht haben. Ich erlebe das eher dort, wo noch in Phase 1 "gerührt" wird. "Lasst den Quatsch", heißt es dann manchmal. Phase 5 ist bestenfalls die Phase, in der klar wird, dass nicht alles miteinander vereinbar ist, aber manches einfach entschieden werden muss. Möglicherweise machen andere Länder uns vor, was das bedeutet -Länder, die nicht erst über den Abbau tayloristischer Strukturen gehen müssen, weil sie noch gar keine aufgebaut haben, und die deshalb viel schneller sind und Erkenntnisse früher haben. Die könnten dazu antreiben, entschiedener voranzugehen. Hier erlebe ich oft, dass es weniger Probleme gibt, den Gedanken starker Führung mit Agilität zu vereinbaren, was möglicherweise auch eine Folge von weniger Demokratie in den entsprechenden Ländern ist. Klarheit und Demokratie werden möglich, wenn man alles zeitweise, verteilt, situativ und kontextbezogen denkt. Und jedem Gewicht ein Gegengewicht zur Seite stellt. Kennen Sie eine Organisation, die derzeit nicht in der Transformation steckt? Gibt es in Ihrem Umfeld irgendein Unternehmen, das sich nicht bemüht, sein "Mindset" zu ändern? Mir ist keines bekannt, ob Stadt, ob Land, klein oder groß, alle strengen sich an, agil zu werden. Nur, was tun sie genau? Im Jahr 2018 setzten 50 % aller deutschen Unternehmen mit mindestens 500 Mitarbeitern im IT-Bereich agile Methoden im Projektmanagement ein. Unter den Firmen mit 2000 Mitarbeitern oder mehr sind es mit 56 % sogar noch mehr. Gerade mal für 14 % aller bundesdeutschen Firmen sind agile Projektmanagementmethoden kein Thema, sagt Bitkom. Nur etwa 8 % aller Unternehmen gaben in der Umfrage "State of Agile" an, komplett agil zu arbeiten, und dabei soll die Frage erlaubt sein, was sie damit eigentlich meinen. Alle anderen nutzen zusätzlich oder ausschließlich Hybridformen oder traditionelles Projektmanagement [9] . Doch wie sieht es auf Managementebene aus? Was ist das Ergebnis dessen, was seit den 2010er-Jahren bei uns passiert ist? Es gibt zuhauf agile Storys: Manche wurden als billige PR geschrieben, über andere erfährt man nur unter der Hand. Allen gemeinsam scheint eines: Die größten Hürden sind das "alte" Denken und Strukturen. Den nachhaltigsten Erfolg melden jene Firmen, die relativ klein und überschaubar sind -oder neu angefangen haben. Die zudem die Prozesshaftigkeit von Agilität erkennen und die Notwendigkeit, es mit dem Thema "neue Arbeit" zu verbinden. "Aus unserer Studie auf die Frage ,Worauf beziehen Sie Ihren Erfolg?': Täglich stabiler wachsende Beziehungen. Zwischen allen Beteiligten, z. B. Kollegen, Kunden, Partnern (Subunternehmer, Zulieferer, Behörden). Die wachsende Akzeptanz, dass wir (unser gesamtes Team) keinen ,Trip' gestartet haben, sondern eine ,unendliche Geschichte' zu meistern lernen. Natürlich wurden gerade zu Beginn die, tiefhängenden Früchte' geerntet. Kundenzufriedenheit, Wertschöpfung, Mitarbeiter Zufriedenheit, all das ist gestiegen. Ähnlich wie die harten Faktoren, wie Ertrag und Qualität. Der größte Erfolg ist jedoch nach meiner Einschätzung die Akzeptanz des Weges und die Leidenschaft, um Beziehungen auszubauen." [33] Agilwerden als unendliche Geschichte. So sehen das diejenigen, die nicht erwarten, dass sofort alles anders ist, die den Never-Ending-Story-Charakter erkannt haben, Agilität als eine endlose Reise sehen, zu der eben auch gehört, dass die begrenzte und durch Methoden eingeengte Agilitätsvorstellung überholt wird. Doch diese Sichtweise setzt sich erst langsam durch. Es dominieren Unsicherheiten und die Frage: "Was ist richtig?" Es ist schwierig, wirklich ehrliche und echte Fallgeschichten zu erfahren, denn überwiegend sind "Case Studies" aus PR-Gründen initiiert. Das führt dazu, dass in Zusammenhang mit "Agile" oft über immer die gleichen Firmen geredet wird, wie über das auch von mir vorgestellte Düsseldorfer Unternehmen Sipgate. [7] Weiterhin werden viele Cases nach einer ersten Phase beschrieben -die längerfristige Entwicklung ist jedoch unklar. Wenn wir mit Unternehmen arbeiten, unterschreiben wir typischerweise eine "Non disclosure". Es ist deshalb für uns nicht möglich, über konkrete Projekte zu sprechen. "Der Begriff aus den Mitarbeiter-Feedbacks, der es für mich auf den Punkt gebracht hat, war der der zähen Masse", sagte Herbert Schuler, Senior Vice President Manufacturing and Engineering. Alle waren nett zueinander, aber weiter kam man nicht. Das ist die übliche Geschichte in den "netten" Unternehmen, in denen man kollegial zusammenarbeitet. Doch Swarovski musste sich ändern, die Wettbewerber waren oft schneller. Schuler erkannte, dass sich das Management verändern musste. Aus der neuen Perspektive gewinnt auch das Feedback der Mitarbeiter plötzlich eine neue Bedeutung. Hier nahm die Zähigkeit ihren Anfang: Hier stockte es, bevor überhaupt "agile" Bewegung entstehen konnte. Swarovski entschied sich für Circles, selbstorganisierte Teams, in denen Entscheidungen kollektiv nach dem Konsent-Prinzip getroffen werden. Die Circles arbeiten crossfunktional und direkt am Kunden. Konsent bedeutet, dass eine Entscheidung auch widerlegt werden kann -wenn jemand eine bessere Argumentation hervorbringt. Bei Bedarf holt sich der Circle einen Experten dazu, der beraten kann. Eine "Facilitatorin" unterstützt den Kreis, kümmert sich um die Agenda und achtet darauf, dass sich der Kreis regelmäßig trifft, physisch oder virtuell. Swarovski hat bei seiner Agilisierung also keine bestimmte Struktur vorgegeben und sich auf das konzentriert, was vorhanden war. Das Management hat bei sich angefangen und mit der Iteration die wichtigste agile Grundlage verankert. [ "Wir gehen im Kern unserer ,Unternehmens-Familie' davon aus, dass alle Probleme Probleme aus zwischenmenschlichen Beziehungen sind. Manchen ist das in der Gänze bewusst, einige handeln unbewust an diese Kollegen angelehnt und tragen zum Lernprozess bei. Natürlich gibt es auch die ,Verlorenen', die jedoch vom Rest nicht ohne ernsthafte Bemühungen aufgegeben werden. Ich betrachte Organisation als organisch wachsende Kollaboration." [33] Wir wollten herausfinden, wie der Stand in Sachen Agilität derzeit ist, was Menschen umtreibt und wie sie auf Agilität blicken. Die Umfrage führten wir vom 15. August bis 15. Oktober 2019 über eine Online-Plattform durch. Wir riefen dazu auf, dass die Umfrage möglichst nicht in einer Firma verteilt würde, um verschiedene Einschätzungen zu erhalten. Deshalb vergaben wir den Link vor allem über unsere Kontakte in unterschiedlichen Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wir veröffentlichten den Link auch bei Xing, Linkedin und im eigenen Newsletter. Am Ende lagen uns zum Zeitpunkt der Manuskriptabgabe rund 200 Datensätze vor. Diese verteilten sich auf rund 55 % männliche und 45 % weibliche Teilnehmer, niemand gab "divers" an. 14 % hatten eine Ausbildung, 5,5 % hatten eine Promotion, 60 % Master oder Diplom. 80 % waren zwischen 35 und 60 Jahren alt. 14,9 % waren eine Führungskraft der ersten, 9 % der zweiten und 16 % der dritten (Team-)Ebene. 14,6 % waren Agile Coach, 3,5 % Product Owner. Berater fallen mit 22,9 % stärker ins Gewicht. 32 % arbeiteten in internationalen Konzernen, 40 % im Mittelstand und der Rest verteilte sich auf Start-ups (5 %), Selbstständigkeit (13 %) und NGO oder Sozialunternehmen (10 %). Die Branchen verteilten sich wie in Abb. 1.8 dargestellt. Es zeigte sich, dass trotz vieler kritischer Stimmen die bisherigen Fortschritte durchaus gesehen und positiv bewertet wurden. Kaum 20 % sahen den Begriff "Agilität" als verbrannt an (Abb. Im Modell der Flughöhen nach Klaus Leopold, das wir in "Agiler Kulturwandel" beschrieben haben, waren die meisten also auf einer Ebene 1 und nur wenige auf Ebene 2. Oft schreiben Teilnehmer, dass Agilität bei den Mitarbeitern noch kaum angekommen sei, unsere Teilnehmerstruktur spiegelt das Bild, dass vieles sich im IT-und Beratungsbereich abspielt. Die meisten Unternehmen experimentieren bei der Einführung, nur eine Minderzahl von 9 % rollt aus. Unklar ist allerdings, was genau mit Experimentieren gemeint ist und wie beliebig es ist. Bei den Organisationsformen zeigte sich, dass individuelle Lösungen mit 55 % dominierten, gefolgt von Holakratie 13 %), Spotify (8 %)m Viable Systems (4 %) und SAFe oder andere Scrum-Skalierungen (3 %). Der Rest (17 %) gab an, "Da findet gar nichts statt" (Abb. 1.11). Bei der Frage, "Mit welchem Mindset (Handlungslogik) treibt Ihr Unternehmen Agilität?" nannte fast die Hälfte Effizienz und Performance, nur 13,9 % nennt Innovation, nur weniger als 12 % Purpose, wobei unklar blieb, wie dieser Begriff im individuellen Kontext Anwendung findet (Abb. 1.12). Auf die Frage "Angenommen, Agilität käme an Grenzen. Was müsste postagiles Denken vor allem berücksichtigen?" nennen mehr als 22 % Purpose und mehr als 40 % New Work, soziale und ökologische Verantwortung erzielen jeweils für sich ebenso weit über 40 % (Abb. 1.13). Das deutet darauf hin, was derzeit am meisten vermisst wird und wo Agilität in einer "Post-Interpretation" ansetzen könnte -auch wenn, und das zeigt die Umfrage mehr als deutlich, wir von Agilität noch sehr weit entfernt sind. Künftige agile Bewegungen könnten diese Themen bereits von Anfang an berücksichtigen, also den Kreis direkt größer ziehen. "Wir arbeiten schon sehr lang agil. Unsere Softwareabteilung nutzt Scrum." Es wird wenige Unternehmen geben, die das nicht von sich sagen können. Ob "agil" oder nicht gearbeitet wird, wird typischerweise von den Mitarbeitern und unteren Führungskräften auf Methodenebene und von der obersten Führungsebene auf Ergebnisse bezogen. Es wird als Lösung betrachtet -nicht als Antwort auf eine ganz individuelle Entwicklung und auf unterschiedlichen Ebenen. Wenn wir diesen Blickwinkel verschieben, können wir das Gestaltungspotenzial, das in Agilität liegt, viel besser nutzen. Bei Lösungen geht es um die Anwendung, und der Anwendung entspringt die Frage: "Was genau soll ich tun?" Antworten sind immer persönlich, individuell und beruhen auf der eigenen Intuition, die sich aus tiefer Wahrnehmung ergibt. Sie sind nicht standardisierbar. Grundlegende Entscheidungen können dann nicht auf der Methodenebene fallen, sondern tangieren den inneren Kern, aus dem Verhalten wächst, also die Struktur. Die Kunst liegt dabei darin, die richtigen Fragen zu stellen. Es auszuhalten, dass Antworten Zeit brauchen und sich wandeln. Und dass sie widersprüchlich sein können und sogar müssen. Deshalb ist die Forderung der Abschaffung von Hierarchie im Sinne einer Entscheidungs-Rangordnung auch so unsinnig. Basisdemokratische Entscheidungen sind wichtig und möglich. Für die Visionen und großen Ideen aber braucht es Menschen, die dafür stehen und diese auch durchaus rigide und nicht agil umsetzen. Und die mehr Verantwortung übernehmen als andere. Schon aus rechtlichen Gründen. Dass diese Entscheidungen sinnvoll sind und dem Unternehmenszweck entsprechen, lässt sich dabei ja regeln, wie Sie in späteren Kapiteln lesen werden. Macht braucht immer Kontrolle, sonst wuchert sie und speist den Übermut. Kundenzentrierung ist der Schlüssel der Agilität 1.0. Aber wer ist der Kunde wirklich? Viele nähern sich dem Thema mit Personas. Ich sehe in einigen Unternehmen, dass sich hier Grenzen zeigen. Denn von der Persona ist es nicht mehr weit zum Stereotyp. Denn wir wissen, wer und wie der Kunde jetzt ist, aber nicht, was ihn in Zukunft ausmacht. Wir reduzieren seine Eigenschaften und gehen davon aus, dass diese statisch seien. Wir nehmen den Kunden in seinen Bedürfnissen, in seinem "Pain" und "Gain" wahr, aber blicken nicht darauf, wie er sich mit der Gesellschaft verändert und wir selbst zu dieser Veränderung beitragen können. Viele Management-Vordenker gehen davon aus, dass Führungskräfte Zirkusdompteure sind, die Mitarbeiter auf ein bestimmtes Verhalten hin dressieren. Sie sollen motiviert oder befähigt werden, sich selbst zu organisieren, je nach "Schule" auf unterschiedliche Weise. Ich bin der Ansicht, dass wir den Zirkus abschaffen müssen, auch den agilen Zirkus, in dem Scrum oder andere Methoden angeblich Selbstorganisation ermöglichen. Mindset kann man schon gar nicht aufsetzen, denn es ist die grundlegende Einstellung des Fühlens, Denkens und Handelns, das bereits früh geprägt wurde und nicht einfach ausgelöscht werden kann. Ein agiles Mindset entspricht der Haltung des "Learn-it-alls" (Growth Mindset) und nicht mehr des "Know-it-alls", um die Worte des Microsoft-CEOs Nadella zu nutzen. Doch Lernen ist grundlegend nur auf zweierlei Art und Weise möglich: durch Imitation von neuem Verhalten (Imitationslernen) und durch Umlernen bisheriger Gewohnheiten (Extinktionslernen) [14] . Das ist ein mühsamer und langsamer Prozess, der nur selbstorganisiert funktioniert und der am einfachsten gelingt, wenn sich das Umfeld ändert -und durch Krisen. Selbstorganisiertes Umlernen bedeutet auch, dass jeder seine eigenen Ansätze finden muss -und die können sich von Person zu Person sehr unterscheiden. Die im agilen Kontext der Agilität 1.0 verbreitete Vorstellung vom einfachen Umschalten greift hier zu kurz. Deshalb kommt man dem Thema auch nicht mit Workshops bei. Diese können Impulse setzen und Denkanstöße geben, werden aber versanden, wenn sich nicht strukturell etwas ändert. Die wichtigsten Ansatzpunkte dabei bieten die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden, und die Gestaltung der Umgebung, wie ich im Folgenden noch darlegen werde. Hier nur ein Beispiel: Wenn jeder im Team eine neue Regel einführen darf, davor aber verpflichtet ist, sich mit mindestens drei internen und externen Experten zu beraten, verändert das seine/ihre Herangehensweise sehr wahrscheinlich. Sehr hilfreich ist dabei, wenn Menschen besser verstehen, wie sie funktionieren, und damit meine ich nicht nur ihre Biologie, sondern die systemischen Zusammenhänge. "Du bist, wo du warst", sagt der Autor und Hirnforscher John Bargh und meint damit, dass wir durch das erlebte Umfeld geprägt sind. Gehen wir über das Gewohnte hinaus, verändern wir uns automatisch mit. Wer versteht, dass er sich seine Wirklichkeit täglich neu bauen kann, wird leichter ein anderes Selbstverständnis entwickeln können -das Growth Mindset (Hofert [39] ). Wir kennen zwei Spielarten des Managements und deren jeweilige Kernfragen: • Traditionelles Management: Wie produzieren wir mehr Gewinne? Hier ist der Bezugsrahmen der Organisationsegoismus, bisweilen verkörpert in nur wenigen Kräften, die das Unternehmen ausbeuten oder voranbringen können. Typischerweise sind die Ergebnisse von beidem -in Form von Organisationskultur und -gesundheit -erst langfristig sichtbar. • Agiles Management: Wie stiften wir mehr Wert für den Kunden, um Gewinne zu erzielen? Wie gewinnen und halten wir Kunden in Zeiten technologischer Umbrüche? Es fehlt dabei eine wie auch immer geartete Führung, sich auch für die größeren Zusammenhänge verantwortlich fühlt -und auch verantwortlich gemacht werden kann, von allen Stakeholdern, nicht nur Aktionären. Mit Führung meine ich keine Einzelperson, sondern eine größere Idee, die von einer oder mehreren Person verkörpert wird. Wenn wir also in dieser Art und Weise denken, kommt eine neue Spielart dazu: • Postagile Führung: Wie stiften wir nachhaltigen Wert für unsere Stakeholder und sichern dabei die Zukunft und den Lebensraum aller? In diesem Verständnis stecken die Stakeholder den Bezugsrahmen ab, wobei sich der Begriff der Stakeholder viel weiter fassen lässt (Abb. 1.14). In welcher Welt wollen wir leben? Auch solche Fragen gehören dazu. Agilität bietet Transparenz: Wenn alle Prozess offen liegen, braucht es unendlich viel Vertrauen. Denn von der Transparenz zur Kontrolle durch Daten-und Mustererkennung ist es nur ein schmaler Grat, der von einer freiheitlichen Ordnung bewahrt werden kann, die in Deutschland im Grundgesetz verankert ist. Doch wie ist es anderswo? Das digitale Punktesystem in China, wo soziale Vertrauenswürdigkeit amtlich erhoben wird, setzt bewusst auf soziale Kontrolle. Wirtschaftssysteme sind immer Teile der gesellschaftlichen Systeme. In einer globalen Wirtschaft verlangt das noch mal ganz andere Blickwinkel, die bisher selten eingenommen werden, die für Entscheidungen aber höchst relevant sind. Dabei sind es immer auch die Entscheidungen auf politischer Ebene, die die größte Wirkung erzielen. Litauen etwa hat in seiner Region die Führung in Sachen Digitalisie-rung übernommen. 55 % ausländischer Investoren wählen das Land aufgrund seines Talentpools. Dies ist eine Folge mutiger und klarer Entscheidungen, die auch die Bereitschaft zu mutigen Experimenten beinhalten [40] . Begegnung auf gleicher Augenhöhe wird, wie wir gesehen haben, gern als Bestandteil in die agile Thematik gemixt. Dabei ist es eigentlich eine Selbstverständlichkeit und eigentlich zugleich nicht möglich. Wie das? Gleiche Augenhöhe kann bedeuten, dass ich andere als gleichwertige Subjekte wahrnehme, wie der Neurobiologie Gerald Hüther nimmermüde fordert. Das heißt übersetzt: mehr Empathie und Menschlichkeit -weg mit den ewigen Bewertungen und Abwertungen. Oft wird der Begriff aber anders verwendet: Dann ist es eine Art Synonym zu "keine Macht gebrauchen". Das kann kein Ziel sein und funktioniert auch in Selbstorganisation und mit noch so viel Regelung durch Prozesse nicht, selbst dann nicht, wenn man sie Holakratie-Praxis nennt. Macht ist nötig und sie zeigt sich vor allem da, wo man sie zu ignorieren sucht. Macht ist nicht notwendig an eine Person gebunden. Auch mehrere Personen können Macht haben, ihrer aber auch wieder entledigt werden, wenn sie sie missbrauchen. Damit Macht wirken kann, braucht sie eine Idee, mit der sie sich verbindet Abb. 1.14 Stakeholder 1.4 Acht Einsichten auf dem Weg ins Postagile sowie die Autorität, diese zu verkörpern Sie ist also eine Folge von Beziehungsqualität und braucht Vertrauen. Wer Macht im positiven Sinn nutzt, braucht Autorität. Frank Baumann-Habersack nennt das "neue Autorität" [41] . Ich orientiere mich in meinem Machtbegriff an Hannah Arendt [42] . Arendt unterschied Macht und Gewalt: Macht sah sie als das Einflussnehmen im Sinne von etwas, das Menschen nützt. Wenn wir vom alten auf einen neuen Weg führen, dann sollte dies den anderen nützen. Macht in diesem Sinne ist deshalb Befreiung und Hinführung zu Autonomie. Diese entsteht nämlich nie aus gleichverteilten Kräften, sondern immer aus dem Ungleichgewicht. Paradoxerweise kippt die Diskussion um gleiche Augenhöhe stellenweise in Richtung Gewalt, da das Wort Macht nicht zugelassen wird oder vielmehr die Diskussion darüber von schneller Abwertung erstickt wird. Mich erstaunt dabei immer wieder, wie um Wörter gerungen wird, die nie Begriffe geworden sind, weil sie gar nicht mit allgemein geteilter Bedeutung gefüllt, also definiert wurden. Wer um leere Wörter streitet, dem geht es nicht um Erkenntnis, sondern um rigides Rechthaben, nicht um Verbindung, sondern Entzweiung. Es ist jene Gewalt im Spiel, die ja eigentlich gar nicht gewollt ist. Aber auch eine erbittert ausgefochtene Inhaltsdiskussion zeigt gewalttätige Züge, wenn das Gegenüber verbal "plattgemacht" wird, was mir im agilen Kontext öfter begegnet ist. Gewalt zwingt auf Wege, die Autonomie unterbinden. Arendt sah Gewalt als Beherrschen, Unterdrücken, Nichtzulassen anderer Positionen. Auf solchen Wegen geht man im Gleichschritt, Abweichler werden bestraft. Diese Gewalt bedeutet Herrschaft, merzt Widersprüche aus. Sie macht Paradoxien unsichtbar. Gewalt bringt das Autoritäre mit sich, das Dunkle, Unterdrückende -auch wenn es als "Gutes" getarnt im Mantel von Rechthaberei und Dogmen daherkommt. Gewalt ist ein Verhinderer und macht mundtot. Gewalt üben gern argumentativ starke, aber im Grunde unter dem Deckmantel des Agilen handelnde autoritäre Charaktere aus. Auch wenn dann von Vertrauen die Rede ist, geht es doch um Misstrauen anderen Positionen gegenüber. Gute Macht dagegen ermöglicht es uns, sich mit Widersprüchen auseinanderzusetzen, sie anzunehmen. nimmt zeitweise die Zügel in die Hand, um eine Richtung zu geben, die Neuausrichtung möglich macht. Macht ist aus einem psychologischen Blickwinkel ein Motiv, ein Treiber. Es bindet sich an einen Wert, den wir selbst wählen, vielleicht aus dem Angebot, das unsere westliche Gesellschaft und Kultur für uns vorgesehen hat, vielleicht aus dem erweiterten Kreis auch fernöstlicher Gesellschaften, Kulturen und Religionen. Werte führen die Art und Weise, wie Macht sich zeigt. Die gute Macht, die ich meine, verbindet. Sie muss nur eines bewerten: Ob sie sich für diese oder jene Richtung entscheidet. Ansonsten bewertet sie nicht und unterdrückt keine anderen Meinungen, sondern nimmt sie natürlich an. Sie öffnet für Perspektiven und nutzt eine kreative und fantasievolle Kraft, andere mitzunehmen. Sie gestaltet und ruft zur Gestaltung auf. Sie vermag, in jedem Moment zurückzutreten und sich die Macht teilen, sie kann führen und folgen im Wechsel, weil der Blick nicht auf sich selbst, sondern auf das gerichtet ist, was werden soll. Sie weiß. dass sie selbst kontrolliert werden muss, denn sie kennt die Verführung von zu viel Macht. Widerstand, Ablenkung, Weglaufen oder Festhalten. Die meisten Unternehmen glauben noch, dass ließe sich vermeiden. Sie glauben, es ginge ohne die klare Position und das Mandat dazu. Weitermachen wie bisher lässt uns im Hintertreffen geraten -wo Deutschland in der Digitalisierung und auch der Automobilwirtschaft, selbst im Versicherungswesen längst steht. Es braucht größere Einschnitte und die Erkenntnis, dass diese eine andere staatliche Rahmengestaltung benötigen und für jede Branche außerdem etwas anders aussehen müssen. Auch müssen wir aufhören, kleine, mittlere und große Unternehmen in dieselbe Kategorie einzuordnen oder die Bedingungen einer Verwaltungsorganisation mit einem Start-up zu vergleichen. Alle Organisationen brauchen mehr Beweglichkeit. Alle benötigen Innovationen, auch um effizienter zu sein. Doch die Herangehensweisen sind vollkommen unterschiedlich. Das kollegiale und genossenschaftliche Prinzip kann genauso funktionieren wie die persönlichkeitsgetriebene Markteroberung, die im Übrigen immer noch erfolgreich Jeff Bezos von Amazon oder Elon Musk verfolgen, wenn auch mit unterschiedlichen Visionen. "Amazon Prime" hatte niemand gewollt, der in dessen Produktentwicklung eingebunden wurde, das Elektroauto zum damaligen Zeitpunkt auch nicht. Neues entkoppelt sich oft vom unmittelbaren Kundenbedürfnis. Dabei eine muss neben dem anderen existieren, in jeweils spezifischen Umfeldern. Methoden passen mal zum Tannenwald und mal zum Torfmoor: Geölte Maschinen braucht es genauso wie co-kreative Entwicklung. Auch innerhalb von Unternehmen sind der Fokus und die Kultur niemals überall gleich. Betrachten wir also Organisationen als Ökosysteme, in denen unterschiedliche Gewächse Raum haben und wachsen -in denen es aber auch ein Gleichgewicht geben muss. In einem Ökosystem, also einem Wirkungsgefüge, muss aussterben, was sich den geänderten Bedingungen nicht mehr anpassen kann. Weiterhin kann sich Neues entwickeln, wenn der Boden dafür bereitet wird. Führung ist damit auch die Bewirtschaftung von Ökosystemen -und nicht deren Ausbeutung. Sie sorgt für ein Gleichgewicht. Damit sind Führungspersonen und Führungsteams -ich möchte wegkommen von der personengebundenen Interpretation von Führung -eher Designerinnen und Architektinnen einer fruchtbaren Umwelt. Der Innovation kommt im Ökosystem die Schlüsselrolle zu: Sie ist das, was auf fruchtbarem Boden wachsen kann, um das System zu erhalten. Vor dem Hintergrund dessen, was auf uns zukommen wird, etwa durch klimatische Veränderungen, muss auch die disruptive Innovation Platz haben. Das ist laut Harvard-Professor Clayton Christensen eine Innovation, die ein bisheriges Produkt, eine Dienstleistung oder auch eine Organisationsform ersetzt [43] . Sie entwickelt nicht etwas Vorhandenes einfach nur weiter. Disruptiv wäre eine Erdkugel, die etwa das Flugzeug als Fortbewegungsmittel ersetzt. Die anderen beiden Innovationsformen, die effiziente und inkrementelle, lösen die großen Probleme nicht oder zu langsam. Vergessen wir dabei aber nicht, dass Innovation niemals im Konsens entsteht, kein demokratischer Aushandlungsprozess ist -weshalb Methoden wie Design Thinking hier an Grenzen stoßen. Das Neue kommt als Widerspruch zur "Normalität" zur Welt, und Widerspruch ist auch das Wesen der Innovation. [44] Vergessen wir auch nicht, dass es für Systeme unmöglich ist, das Neue zu erkennen und wertzuschätzen. Innovation kann deshalb nicht dort entstehen, wo nach den vorhandenen Maßstäben gemessen wird, sie muss raus aus dem "Tannenwald" und dort angepflanzt werden, wo sie wuchern darf. Das Dilemma der Innovatoren ist, dass ihre Erneuerungsarbeit stets mit altem Maß gemessen wird. [44] Machen wir uns auch bewusst, dass es unmöglich ist, mehreren Werten gleichzeitig zu folgen. Sie können nicht zugleich auf Effizienz und Kreativität achten. Es braucht in einem organisationalen Ökosystem also Verschiedenartigkeit. Die Verbindung fordert Vertrauen in das Gleichgewicht und in den jeweils anderen. Aber lieben werden sich derjenige, der die Regeln einhält, und derjenige, der sie bricht, eher nicht. Innovation braucht ein Stück vom Wahnsinn, das Feuer und den Brand im Wald. Es sind bestimmte Charaktere, die etwas früher als andere etwas erkennen und davon besessen sind. Nicht ohne Grund entstanden fast alle großen Ideen der Computerzeit aus dem Zusammenspiel eines nerdigen Tüftlers mit einer begeisterungsfähigen Visionärin. Innovatoren sind keine Durchschnittspersönlichkeiten. Und selbst wenn alle durch Praktiken wie Design Thinking im Durchschnitt kreativer werden sollten, so verändert sich dadurch die Gauß'sche Normalverteilung nicht. Eine echte Innovation verändert das Denken ihrer Benutzer. [44] Vielmehr legen dogmatisierte Methoden wie Design Thinking solchen Extremcharakteren eher Steine in den Weg, das liegt weniger an der Methode als am Gesetz der Gruppe. Zu viel undifferenziertes "Wir" führt zu Konformismus, der in einer kreativen Form als Kreativ-Konformismus daherkommen kann. Design Thinking gibt Werte vor, die ohne Frage wichtig und hilfreich sind. Es erhöht die Anzahl der Ideen, was eine wichtige Voraussetzung für die Wahrscheinlichkeit von Innovation ist. Es setzt Fantasie und Ideen frei, aber die eigene Fantasie beflügelt es vermutlich nicht. Ob es aus einem konvergenten einen divergenten Denker macht, bezweifle ich. Das Umgestalten von Organisationen in Ökosysteme erfordert mutige Schritte auf allen Ebenen. Und noch einmal: Diese Schritte müssen sich auf Rahmenbedingungen beziehen, die zu gestalten sind. Beginnen wir damit, Führung als Design von Systemen zu betrachten, in denen Neues entstehen kann, aber auch das Alte bestehen darf, in dem es Wildwuchs gibt und auch in Form geschnittene Hecken. In einer Verwaltung erlebte ich eine sehr offene und unglaublich aktive und fantasievolle Abteilungsleiterin, die eine völlig andere Kultur lebte als der Rest. Von ihr flogen Ideen wie Blütenstaub in andere Abteilungen. Die Voraussetzung für Innovationstätigkeit ist, dass Menschen Raum für Kreativität bekommen. Sie braucht genügend Muße, Freiraum und Anregungen, vor allem aber einen freien Geist. In Europa haben wir dahingehend einen Vorteil gegenüber totalitären Staaten. Schon baut China sein Bildungssystem völlig um, vom reinen Auswendiglernen zu dosierter Gruppenarbeit und Fantasieförderung. China hat verstanden, dass Technologietransfer und Kopieren auf Dauer nicht reichen werden, aber möglicherweise noch nicht verstanden, dass man Ideen nicht verordnen kann. Der Umbau der Industrie in Deutschland ist eine riesige Aufgabe, die sich nicht mit ein paar agilen Frameworks bewältigen lässt. Dafür sind vor allem Führungspersonen vonnöten, die zu klaren und strukturellen Schritten bereit sind -und sich als Designer und Architekten sehen und nicht oberste Fachkräfte. In Innovation und deren Voraussetzungen zu investieren, bedeutet für Organisationen, in etwas zu investieren, dessen Outcome nicht berechenbar ist. Auch der Staat muss investieren, in Bildung und Infrastruktur. Dabei kann es nicht mehr nur um immer mehr Wachstum gehen, sondern muss auch um Lösungen gegen die immer größere Ungleichverteilung gehen. Die Architektenaufgabe von Führung bezieht sich dabei auch auf den Umgang mit Zeit. Führung muss kurz-, mittel-und langfristig zugleich denken, aber das Langfristige zuerst in den Blick nehmen. Sie muss dabei hoch divers sein und sich den kulturellen Gegebenheiten ebenso wie den derzeit größten Herausforderungen anpassen können. " The key is to deploy the right kind of fiscal initiatives that support demand in the short run and supply in the long run and address not just growth challenges but also inequality concerns. These include soft investments in education and R&D along with hard investment in public infrastructures. Such fiscal initiatives would improve outcomes for demand and supply potential even more for economies suffering from long-term unemployment, when undertaken collectively, and when fiscal initiatives are complemented by country-specific structural policies put together in a coherent package. The mix is different for different countries." "Agile" kann ein paar Ideen liefern, wie sich Kreativ-und Selbstorganisationsprozesse gestalten lassen. Es kann Denk-und Handlungsweisen anbieten. Aber es wächst auch nicht überall gleich. Abb. 1.15 fasst die Einsichten zusammen und formuliert sie als Prinzipien. • In welchem Agilitätsverständnis finden Sie und Ihre Organisation sich wieder? • Wo stehen Sie zwischen Agilität 1.0 und 2.0? • Welche Phasen von Agilität haben Sie bisher erlebt? Ich habe einiges über Servant Leadership geschrieben und den Trend auf meine Weise mitbefeuert, aber mein Störgefühl verstärkte sich in letzter Zeit. Irgendwann wurde mir klar, warum. Es fehlt jener Aspekt, der Transformation ermöglicht. Es fehlt die Klarheit, die es eben auch braucht, wenn man unbequeme Dinge durchsetzen muss Es kann sein, dass Führung zeitweise eine Dienstleistung ist, die sich am Wohl orientiert. Es kann aber auch sein, dass dieses Wohl zeitweise in den Hintergrund treten muss Das dienende Führen mit dem Begriff "agil" zu verbinden, halte ich für ebenso kontrainduziert wie den Versuch, Macht aus so genannten agilen Unternehmen zu bannen Siebte Einsicht: Wir müssen mit Gewohnheiten brechen Die typisch deutsche partizipative Orientierung ist nicht geeignet, um Routinen zu brechen. Man kann nicht alle mitnehmen -schon deshalb nicht, weil Menschen die Veränderung in ihre Gewohnheiten integrieren werden. Sie verändern sich nur, wenn es wirklich ungemütlich wird, sich der Rahmen ändert und keine andere Möglichkeit bleibt, am Gewohnten festzuhalten. Deshalb sind Kuschelkurse vor allem da nicht hilfreich, wo ohnehin schon viel gekuschelt wird • Arbeit an Details (keine mutigen und kreativen Entscheidungen) Keine Beteiligung der Mitarbeiter an grundlegenden Entscheidungen • Keine Teamorientierung in der C-Suite • Anpassungs-und Mitläuferverhalten auf allen Ebenen • Orientierung an der Aufbauorganisation noch an den Prozessen (Ablauf) • Key-Performance-Indikatoren (KPI), die falsche Anreize setzen • Feedback als die agiles Arbeiten unterlaufen, sind zum Beispiel Keine Identifikation mit den ausgegebenen Werten, z. B. weil diese nicht den eigenen entsprechen • Richtig-Falsch-Denken Alle angeführten Punkte laufen letztendlich auf eines zu: Werte, also Handlungsqualitäten. Handlungsqualitäten sind nirgendwo schriftlich festgehalten Organisationsentwicklung ist oft auch eine "verordnete" Persönlichkeitsentwicklung, was durchaus ethische Fragen aufwirft Transitioning to agility: Creating the 21st century enterprise Building agility, resilience and performance in turbulent environments Die Psychologie der Moralentwicklung The leader's guide to radical management: Reinventing the workplace for the 21st century Agiler Führen (2. Aufl.). Heidelberg: SpringerGabler Manager deuten das AGIL-Schema von Talcott Parsons um, FAZ Status quo agile 2017 Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung Zukunft der Arbeit: Der Visionär. PWC next Beschreibung auf der eigenen Idee auf der Website Der agile Kulturwandel Mindshift. Mach dich fit für die Arbeitswelt von morgen INGs agile transformation (1 The neural architecture of general knowledge Ausgabe 2, Beta-Version, ePub Wie Sie die besten Mitarbeiter finden Die Teambibel. Wiesbaden: Gabal Team-level predictors of innovation at work: A comprehensive meta-analysis spanning three decades of research Imtech-Insolvenz -Chronik eines beispiellosen Absturzes. Handelsblatt Unboss. Deventer: Management Impact Der wichtigste Megatrend unserer Zeit, Zukunftsinstitut Blog Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 4. Juni 2020 Was ist das Spotify-Modell und wie agil ist es? Purpose driven organizations Wikipedia, Die freie Enzyklopädie Holakratie. Vom Scheitern eines Betriebssystems Blogserie Bausteine agiler OE (Teil 3): Kollegial verteilte und ziehende Führung Alle Macht für niemand The alchemy of growth Beyond Agile. Online Umfrage This is the book that inspired Microsofts Turnaround, 26.11 Deutsche Bahn schafft Führungskräfte ab. CIO 27.06 24 Minuten mit Mr ING Diba: Mitarbeiter moppern gegen Radikalumbau Agile Transformation bei Svarovski. Das Eckige und das Runde Das agile Mindset Was Berlin bei der Digitalisierung von Litauen lernen kann The Innovators Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren Macht und Gewalt, Bd. 1. Reprint der Erstausgabe von 1970 Mit neuer Autorität in Führung Innovation. Hamburg: Edition Körber Agility is about flexibility and the ability of an organization to rapidly adapt and steer itself in a new direction. It's about minimizing handovers and bureaucracy, and empowering people. The aim is to build stronger, more rounded professionals out of all our people.Kann man Professionals "bauen?" Die Mitarbeiterzufriedenheitswerte in Deutschland sind 2019 deutlich gesunken, wie die Finanzszene berichtete. Dabei hätten einige Manager das Unternehmen verlassen, aber es ist unklar, ob dies auf die Veränderungen aufgrund des Umbaus zu einem agilen Unternehmen zurückzuführen ist."Gleichwohl räumt ein Sprecher ein, dass die Transformation zuletzt für Unsicherheit und auch Unruhe gesorgt habe. Allerdings sei das in den Ländergesellschaften wie Spanien, Polen oder Rumänien in ähnlichen Situationen kaum anders gewesen -bevor sich die Zufriedenheitswerte dort bald wieder erholt hätten. Zudem wird darauf verwiesen, dass der agile Umbau zum Zeitpunkt der jüngsten Mitarbeiter-Befragung (also im Oktober 2018) gerade in vollem Gang war. Auch deshalb seien die Zustimmungswerte so niedrig ausgefallen." [37] Ich habe dazu versucht, über Linkedin Stimmen von Mitarbeitern einzuholen. Die meisten sind verhalten und sehen es eher kritisch, dass "ausgerollt" wird. Betont wird außerdem, dass Deutschland nicht die Niederlande sei. Niemand äußert sich direkt, das wird vertragliche Gründe haben.Jede Veränderung, auch die zum letztendlich Guten, geht zunächst mit einer Klimaverschlechterung einher. Eine Veränderung ist niemals ein gerader Weg, sondern immer verschlungen und verzahnt. Es ist mit Brüchen und zeitweisem Chaos zu rechnen. Die Abb. 1.7 soll das verdeutlichen, sie zeigt, was die meisten Organisationen wünschenaber die Wirklichkeit ist eben etwas anderes.Das ist ganz normal, es muss nichts heißen. Dass Führungskräfte gehen, gehört dazu und ist sogar wünschenswert. Veränderung geht leichter, wenn man neu anfängt. Nun ist die Bankenbranche typischerweise keine mit hoher Fluktuation, was Veränderungen nicht einfacher macht. Die Motivation, in einer Bank zu arbeiten, unterscheidet sich stark von der Motivation in einem sinnstiftenden Umfeld, etwa der Musikbranche. Es gibt andere Gründe, dort zu arbeiten, typischerweise sind diese vernunftbezogener. Damit geht fast logisch einher, dass das Menschen anzieht, die sicherheitsorientierter sind. Diese wiederum haben mehr Angst, denn Sicherheitsstreben ist ein Ausdruck von Angst und fehlendem Mut. Die Persönlichkeiten prägen das Umfeld, und die Umfeld die Persönlichkeiten.