key: cord-0056112-fbntfsh8 authors: Gandjour, Afschin title: Die Rolle der Zahl verfügbarer Intensivbetten bei der Bewältigung der ersten COVID-19-Welle date: 2020-12-10 journal: Gesundheitswesen DOI: 10.1055/a-1306-0494 sha: 00a45972da791d6dffa8c5efcb8aa7437bc5c3c0 doc_id: 56112 cord_uid: fbntfsh8 Häufig wird gefragt, ob die im internationalen Vergleich hohe Zahl verfügbarer Intensivbetten in Deutschland dazu beigetragen hat, eine Überlastung deutscher Krankenhäuser während der ersten COVID-19-Welle zu vermeiden. Eine Antwort darauf ergibt sich durch folgende Überlegung. Betrachten wir die norditalienische Region Lombardei, in der es bekanntlich zu einem Engpass bei der intensivmedizinischen Versorgung kam. Nehmen wir an, Deutschland hätte (nur) über die Intensivbettenzahl der Lombardei verfügt (korrigiert für deren Einwohnerzahl). Wäre es unter dieser Voraussetzung zu einer Überlastung der Intensivstationen gekommen? Die Region Lombardei hat 10 Mio. Einwohner und verfügte im März nach Ausbau der Bettenkapazität über 1202 Intensivbetten 1 . In Deutschland lag der Höchststand an COVID-19-Intensivpatienten bei 2922 am 17. April 2 . Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl der Lombardei hätte sich somit ein Bedarf an 365 (2922/8) Intensivbetten ergeben. Dies entspricht einer Beanspruchung von 30% (365/1202). Es wäre jedoch wahrscheinlich nicht machbar gewesen, durch Verschiebung planbarer Eingriffe und andere Maßnahmen 30% der Intensivbetten für COVID-19-Patienten freizuhalten. Der Grund liegt darin, dass bereits alle Intensivbetten durch Nicht-COVID-19-Patienten belegt wären (selbst bei Korrektur für die Einwohnerzahl). So gab es am 26.4. (d. h. einen Tag vor Empfehlung des Bundesgesundheitsministeriums Elektiveingriffe wiederaufzunehmen 3 ) einen Bedarf an 1980 Intensivbetten für Nicht-COVID-19-Patienten (korrigiert für die Differenz der Einwohnerzahl) 4 . Daher lag zumindest ein Grund für die Vermeidung einer Überlastung deutscher Intensivstationen in der relativ hohen Bettenzahl. Häufig wird gefragt, ob die im internationalen Vergleich hohe Zahl verfügbarer Intensivbetten in Deutschland dazu beigetragen hat, eine Überlastung deutscher Krankenhäuser während der ersten COVID-19-Welle zu vermeiden. Eine Antwort darauf ergibt sich durch folgende Überlegung. Betrachten wir die norditalienische Region Lombardei, in der es bekanntlich zu einem Engpass bei der intensivmedizinischen Versorgung kam. Nehmen wir an, Deutschland hätte (nur) über die Intensivbettenzahl der Lombardei verfügt (korrigiert für deren Einwohnerzahl [10] . Im Zeitraum der maximalen 14-tägigen COVID-19-Fallzahlen lag die Rate positiver Tests in der Lombardei zwischen 30 und 67 %, während für Deutschland in demselben Zeitraum nur eine Rate von 3 bis 5 % berichtet wurde [11] . Würden wir für diesen Unterschied korrigieren, läge die für Deutschland äquivalente COVID-19-Fallzahl, auf die dann die 7,5 %-ige Wahrscheinlichkeit einer intensivmedizinischen Behandlung zutrifft, höher als in der Lombardei. Selbst wenn nur ein kleiner Teil der Differenz in der Fallsterblichkeit auf unterschiedliche Testhäufigkeiten zurückzuführen wäre, hätte Deutschland eine COVID-19-Welle wie die in der Lombardei wohl nicht bewältigen können, da trotz Verschiebung planbarer Eingriffe und anderer Maßnahmen Nicht-COVID-19-Patienten bereits 50 % (und mehr) aller Intensivbetten in Deutschland beansprucht haben [12] . Zusammenfassend lässt sich damit aus beiden Analysen Folgendes ableiten. Deutschland hätte mit der für die Einwohnerzahl korrigierten Intensivbettenzahl der Lombardei wahrscheinlich nicht die erste Welle bestehen können. Gleichzeitig wäre die tatsächliche vorhandene Reservekapazität an Intensivbetten selbst mit Absage planbarer Eingriffe und anderen Maßnahmen vermutlich nicht ausreichend gewesen, um eine Überlastung abzuwenden, wäre es zu einem Ausbruch wie in der Lombardei gekommen. Somit lag der Grund für die Vermeidung einer Überlastung in Deutschland nicht nur an der höheren Bettenzahl, sondern auch an COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen wie z. B. das Absagen von Großveranstaltungen und der extensiven Teststrategie. Auch freiwillige Kontaktbeschränkungen vor den gesetzlichen Verordnungen können eine Rolle gespielt haben. Für sich genommen jedoch waren weder die relative hohe Intensivbettenkapazität (inklusive Absage planbarer Eingriffe) noch die COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen ausreichend. Die beiden Analysen zeigen aber auch, dass nur geringfügige Änderungen der Annahmen bzw. die Nichtberücksichtigung einzelner Details die Schlussfolgerungen leicht ändern können. Die Ergebnisse können für die zukünftige Planung von Spitzenkapazitäten ("Surge capacity") von Bedeutung sein. Eine Erweiterung der Spitzenkapazität ist im Hinblick auf mögliche Pandemien und Epidemien nach der COVID-19-Pandemie zu erwägen. Mit Einschränkung könnte dies auch für die COVID-19-Pandemie gelten. Obgleich einer Überlastung der Intensivbettenkapazität zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unwahrscheinlich scheint, sind im Katastrophenschutz Mittelwerte weniger relevant als Extremwerte. Stattdessen spielt das sog. fat tail risk, das heißt eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass es zur Katastrophe kommt, eine wichtige Rolle. In der Tat ist ein solches dickes Ende der Verteilung in der Gesamtheit bisheriger Pandemien der Menschheitsgeschichte beobachtet worden [13] . Weitere Gründe für eine Erweiterung der Spitzenkapazität sind das Vermeidenwollen erneuter Absagen bzw. Aufschiebungen planbarer Eingriffe und die akzeptable Kosteneffektivität einer Kapazitätserweiterung, selbst wenn bereitgestellte Betten mit hoher Wahrscheinlichkeit ungenutzt bleiben sollten [14] . Ein bekanntermaßen wichtiger limitierender Faktor bei der Steigerung der Spitzenkapazität ist jedoch die Verfügbarkeit von Intensivpflege personal. Siehe Fußnote 2 Case-fatality rate and characteristics of patients dying in relation to COVID-19 in Italy Siehe Fußnote 2 Siehe Fußnote 3 Tail risk of contagious diseases Publikationshinweis Leserbriefe stellen nicht unbedingt die Meinung von Herausgebern oder Verlag dar