key: cord-0055615-765w3fep authors: Schäffer, Utz title: Leadership ist gefragt! date: 2021-01-26 journal: Control Manag Rev DOI: 10.1007/s12176-020-0351-8 sha: ac0f1fd2790c8d50fcf8546805272006a34e8858 doc_id: 55615 cord_uid: 765w3fep nan Im Einzelnen unterscheide ich vier große Entwicklungslinien: Erstens: Das organisatorische Grundprinzip in großen Unternehmen wechselt angesichts zunehmender Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität der Umwelt vom bewährten Muster dominanter Plankoordination langsam, aber sicher zu etwas, was die Organisationstheorie "dominante Koordination durch Selbstabstimmung" nennt. Populärwissenschaftlicher formuliert: Netzwerke, agile Teams und das Prinzip des Experiments ersetzen zunehmend Hierarchie und Plan. Diesem Trend kann sich auch die Finanzfunktion nicht entziehen. Gerade für Controller ist diese Entwicklung von ganz zentraler Bedeutung, da sie traditionell in einem Kontext dominanter Plankoordination beheimatet sind. Controller arbeiten in einem Umfeld, in dem Pläne dominieren und der kybernetische Regelkreis in Form eines Systems formaler Planungs-und Kontrollprozesse institutionalisiert ist. In kleinen Unternehmen, die dominant durch die Weisung des Chefs gesteuert werden, in Forschungs-und anderen Teams, die sich selbst abstimmen, und im Kontext programmkoordinierter Bürokratie sind Controller (die diesen Namen auch verdienen) hingegen kaum zu finden. Kein Wunder also, dass sich Controller mit dem Thema Agilität Zusammenfassung • Die Finanzfunktion kann in einer volatilen, unsicheren, komplexen und uneindeutigen Umwelt nur bestehen, wenn sie sich grundlegend verändert. • Vier zentrale Entwicklungslinien prägen die Transformation: Agilität, Nachhaltigkeit, Big Data und Transparenz. • Wer Veränderung als Residualgröße nach Erledigung des Tagesgeschäfts behandelt, wird letztlich scheitern. Es gilt, loszumarschieren und die Veränderung proaktiv zu gestalten. Alle vier skizzierten Entwicklungen haben grundlegende Implikationen für Unternehmenssteuerung und Controlling. Sie ergänzen und verstärken sich dabei zumindest in Teilen gegenseitig. Die Digitalisierung ermöglicht neue Formen der Datenanalyse und mehr Transparenz, diese ist wiederum eine wichtige Voraussetzung für mehr Agilität. Und Agilität spielt nicht nur im Kontext der digitalen Transformation, sondern auch im Konzept der Resilienz eine tragende Rolle. Für Finanzvorstände und Controlling-Leiter ist dies eine wichtige Einsicht, weil -folgt man dem Gedanken -es eben nicht um eine mehr oder weniger große Anzahl einzelner Projekte oder um eine neuartige Systemlösung geht, sondern um verschiedene Facetten einer grundlegenden Veränderung der Finanzfunktion, an deren möglichem Ende ein neuer eingeschwungener Zustand stehen könnte. Gleichzeitig stehen die meisten Unternehmen heute noch eher am Anfang der von den genannten Veränderungen ausgelösten Transformation. "Es geht eben nicht um einzelne Projekte oder um eine neuartige Systemlösung, sondern um eine grundlegende Verände rung der Finanzfunktion." Wenden wir uns zunächst dem durch die veränderte Umwelt induzierten Wandel von Strukturen und Prozessen zu. Die Notwendigkeit, tradierte Gestaltungsmuster zu hinterfragen und die Organisation an einen Kontext hoher Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität anzupassen, wird in der Finanzfunktion entweder immer noch ignoriert oder auf die Verschlankung oder marginale Anpassung bereits bestehender Prozesse und eine Handvoll mehr oder weniger "agiler" Veränderungsprojekte reduziert. Selbst bei den Pionieren steht eine agile Transformation der Finanzfunktion häufig noch in ihren Anfängen, und es besteht ein hohes Maß an Unsicherheit, wie weit Veränderungen gehen sollen. Während sich Management und Finanzfunktion so an neue Organisationsformen und die damit verbundenen Techniken und Denkmuster herantasten, bleibt der überwiegende Teil der Bestandsorganisation in Unternehmen unverändert plankoordiniert. Die damit verbundenen Routinen in Finanzfunktion und Unternehmenssteuerung sowie das viel zitierte Mindset werden nicht grundsätzlich infrage gestellt. In einem vergleichsweise stabilen Kontext macht dieses Vorgehen durchaus Sinn und entspricht zudem den etablierten Denkmustern. Es stößt aber an Grenzen, wenn es darum geht, die Innovationsund Anpassungsfähigkeit der Organisation auch mithilfe der Finanzfunktion substanziell und schnell zu erhöhen. Zahlreiche Unternehmen der deutschen Automobil-und Finanzindustrie können bereits ein Lied davon singen. Und sie sind nicht die einzigen. Ein noch deutlicheres Bild ergibt sich mit Blick auf die Konzepte der Nachhaltigkeit und der Resilienz. Beide werden weithin immer noch primär als Marketing-Instrumente und/ oder regulatorische Nebenbedingung betrachtet, weniger als eine grundsätzliche Veränderung des Denkens. Und ähnlich wie im Fall der organisatorischen Veränderung war auch diese Praxis bislang durchaus nicht irrational. Präziser formuliert: Sie entspricht dem vorherrschenden Verständnis von Rationalität, nach dem Unternehmen nur dann in Resilienz oder Ökologie investieren können, wenn sich das auch kurzbis mittelfristig rechnet oder Gesellschaft und Kapitalmarkt gewisse Mindeststandards einfordern. Ein Mehr an Nachhaltigkeit ist also (nur) erlaubt, wenn sich ein nachhaltiges Produkt profitabler verkaufen lässt, wenn sich eine Sparmaßnahme unter Verweis auf die Ökologie besser begründen lässt, wenn ein soziales oder ökologisches Image die Kundenbindung messbar steigert oder wenn sich die gesetzlichen Anforderungen erhöhen. Doch langsam scheint sich etwas zu ändern: Die Fridays-for-Future-Bewegung, die Forderungen des einen oder anderen Großinvestors und der Auftritt mancher Vorstandssprecher beim Weltwirtschaftsforum in Davos signalisieren, dass der aktuelle Umgang mit dem Thema der ökologischen Nachhaltigkeit die gesellschaftliche Betriebserlaubnis auf Dauer gefährden könnte. Ein weiterer Aspekt ist nicht zu vernachlässigen: Der Zusammenhang zwischen finanziellen Steuerungsgrößen und nichtfinanziellen Variablen ist immer geschäftsspezifisch. Wer auf der Ebene eines Geschäftsmodells datengetrieben steuern will, muss deshalb fundierte Geschäftskenntnisse besitzen. Bleibt das zugrunde liegende Geschäft über viele Jahre im Wesentlichen unverändert, kann sich genügend gemeinsames Wissen aufbauen, um eine weitgehend separate Finanzperspektive zu ermöglichen. In einer durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität und nicht zuletzt die starke Veränderung von Geschäftsmodellen geprägten Welt ist dies aber hochgradig problematisch. Schnell findet die finanzielle Steuerung in einer Scheinwelt statt. Finanzvorstände und Controller müssen daher stets die Geschäfte im Detail kennen und auch deren Veränderungen unmittelbar begleiten. Dann und nur dann sind sie in der Lage, den Zusammenhang zwischen vor-und nachlaufenden Steuerungsgrößen zu beherrschen und erfolgreich als Brücke zwischen dem Management und der Analyse von Big Data zu fungieren. In den vergangenen Jahren konnte man aber bisweilen den Eindruck gewinnen, dass die finanzielle Steuerung in manchen Unternehmen eher ein Eigenleben führt und der Kontakt zur zugrunde liegenden Realwirtschaft nicht mehr vollumfänglich belastbar ist. Werfen wir abschließend noch einen Blick auf den vierten Trend, die Entwicklung hin zu mehr Transparenz. Zahlreiche Unternehmen sind vollumfänglich damit beschäftigt, im Maschinenraum die Voraussetzungen für mehr Transparenz zu schaffen, das heißt ihre Systemlandschaften zu harmonisieren und die Defizite in der Data Governance durch aufwendige Projekte zu beseitigen. Aber noch bewirkt die Vision voll integrierter Systemlandschaften oder auch das Bild eines umfassenden "Data Lakes" im Regelfall das gleiche müde Lächeln wie das Versprechen, dass manuelle Brückenarbeiten in Excel überflüssig werden. Und auch die zahlreichen auf mehr "Self-Service" im Management zielenden Pilotprojekte resultieren eher selten in einem weitgehend de-mokratisierten Informationszugang. Gelegentlich ist sogar zu beobachten, wie im Zuge solcher Projekte bereits erweiterte Zugangsberechtigungen wieder revidiert werden. Der Status quo der Informationsversorgung des Managements steht damit trotz schöner Frontend-Lösungen in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Postulat der meisten neueren Management-Konzepte, die in einem Kontext ständiger Veränderung auf dezentrale Initiative und das "Empowerment" sich flexibel zusammensetzender Teams setzen. Hier stoßen veraltete Systemlandschaften und eng gefasste Zugangsberechtigungen genauso an Grenzen wie ein überkommenes funktionales Mindset. Eine hinreichende Transparenz ist die notwendige Voraussetzung für mehr dezentrale Initiative in einem Kontext hoher Veränderung. Mit Blick auf alle vier Entwicklungen gilt es also festzuhalten, dass die Unternehmenspraxis in aller Regel noch eher am Anfang der postulierten Transformationspfade steht und dass inkrementelle Veränderungen im gegebenen Rahmen von tradierten Rollen und Strukturen dominieren. Das ist nicht verwunderlich. Zum einen erfordert die grundlegende Veränderung von Systemlandschaften, Strukturen, Routinen und tief verankerten Denkmustern in bestehenden Organisationen viel Zeit: Jahre, vielleicht auch eine ganze Generation von Managern und Controllern. Zu groß sind die Beharrungskräfte auf der einen und der Veränderungsbedarf auf der anderen Seite. Zum anderen stehen Finanzvorstände und Controlling-Leiter heute mehr denn je unter einem enormen Effizienzdruck, der Veränderung und Experiment scheinbar nur in wohldefinierten Nischen und im Rahmen von etablierten Organisations-und Rollenmodellen sowie weitgehend gegebener Kultur möglich macht. Veränderungsprojekte innerhalb eines durch Struktur und Kultur geprägten Rahmens mögen ein guter Ansatz sein, um die genannten Herausforderungen trotz kurzfristigen Erfolgsdrucks anzugehen und die Organisation überhaupt in Bewegung zu versetzen. Um das Unternehmen wirklich agil, nachhaltig und resilient zu machen, um das Potenzial der Digitalisierung wirklich in vollem Umfang zu heben, reichen instrumentelle und prozessuale Veränderungen in einem ge-"Transparenz ist die notwendige Voraus setzung für mehr dezentrale Initiative." gebenen Kontext auf Dauer aber nicht aus. Sie stoßen (sehr) schnell an Grenzen -auch und gerade mit Blick auf die Finanzfunktion und den Prozess der Unternehmenssteuerung. Die verschiedenen Bausteine der Steuerung -Informations-, Planungs-, Kontroll-und Anreizsysteme, aber eben auch Organisation und Kultur -greifen ineinander und müssen konsistent und aufeinander abgestimmt gestaltet werden. Bei entsprechendem Veränderungsbedarf ist die Veränderung der Unternehmenskultur und der mit ihr verbundenen Denkmuster zumindest auf Dauer unabdingbar und gleichzeitig in aller Regel die zentrale Barriere im Transformationsprozess: "Culture eats strategy for breakfast", wusste Peter F. Drucker schon früh zu berichten. Warum ist das so? Tradierte Denkmuster und eine fest im Unternehmen verankerte Kultur sind träge. Es bedarf viel Energie, sie zu verändern, und wie wir aus der Literatur zum Veränderungs-Management lernen können, wird ihre Mobilisierung in der Regel nur erfolgreich sein, wenn die Dringlichkeit der Veränderung intellektuell und emotional verstanden wurde, sei es im positiven Sinnedie sich bietenden Möglichkeiten lassen keinen anderen Weg zu -oder im negativen Sinne -wenn wir diesen Weg nicht gehen, ist unsere Existenz gefährdet. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Das gewünschte Maß an Veränderung lässt sich nicht beliebig portionieren. Die Entwicklung von Kultur und Mindset beinhaltet Schwelleneffekte, das heißt, es gibt so etwas wie eine kritische Masse an notwendiger Veränderung. So lassen sich 20 Prozent agil und 80 Prozent bürokratisch vielleicht organisatorisch abbilden, kulturell stößt eine solche Lösung aber an Grenzen und droht, das zarte Pflänzchen Agilität im Keim oder spätestens im nächsten Winter ersticken zu lassen. Daran ändert auch das an dieser Stelle gelegentlich bemühte Konzept der Ambidexterität nichts. Inselprojekte und primär instrumenten-und prozessorientierte Ansätze bleiben in der Regel weit von den kritischen Schwellenwerten der Kulturveränderung entfernt und sind genau deshalb am Ende so oft zu Wirkungslosigkeit und Scheitern verurteilt. Um es nochmals ganz deutlich zu sagen: In einem vergleichsweise stabilen Umfeld ist das wenig dramatisch, in dem Maße, wie die Einschätzung einer ganz grundlegenden Veränderungsnotwendigkeit trägt, aber schon. Das Dilemma, vor dem sich viele Führungskräfte sehen, erscheint damit offensichtlich: Die Transformation der Finanzfunktion lässt sich nicht auf prozessuale, instrumentelle oder systemseitige Anpassungen reduzieren, und die notwendige kulturelle Veränderung benötigt viel Energie und Zeit, die aber im Regelbetrieb nicht zur Verfügung stehen. Was also tun? Die Beyond Budgeting Community, die sich seit rund 20 Jahren mit der Frage befasst, welche Implikationen eine zunehmende Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität der Umwelt auf Management und Unternehmenssteuerung haben, ist von Kindesbeinen an durch die Diskussion geprägt, in welcher Reihenfolge Steuerungsprozesse auf der einen und Organisation und Kultur auf der anderen Seite verändert werden sollten. Schon im Entstehungsprozesses des Bestsellers von Jeremy Hope und Robin Fraser von 2003 hatten Autoren und Verlag an dieser entscheidenden Stelle unterschiedliche Vorstellungen, und auch seitdem ist die Entwicklung der Community von der Diskussion geprägt, ob man die beiden großen Bausteine gleichzeitig oder in der einen oder anderen Reihenfolge adressieren sollte. Das Problem ist -wenig überraschend -bis heute nicht abschließend gelöst, weder im Kontext des Beyond Budgeting noch an anderer Stelle. Aber der (vermeintlich) pragmatische Ansatz, dominant auf die Prozessebene zu setzen, scheint empirisch doch klar zu überwiegen. Und damit schließt sich der Kreis und wir stehen wieder am Anfang dieses Absatzes. Was heißt das aber nun für Führungskräfte in der Finanzfunktion? Ich meine: Leadership ist gefragt! Weil die oben skizzierten Herausforderungen ineinandergreifen, alle Branchen betreffen und sich gegenseitig verstärken, ist der Veränderungsbedarf in der Regel groß. Und wenn dem so ist, wird eine Transformation, die Veränderung als Residualgröße nach Erledigung des Tagesgeschäfts behandelt, letztlich scheitern. Der zuvor beschriebene Weg inkrementeller Veränderungen innerhalb des gegebenen Rahmens greift zu kurz, und kulturelle Versäumnisse lassen sich nicht "bei Bedarf " schnell aufoder nachholen. Es gilt also, loszumarschieren und die Veränderung der Finanzfunktion als Change oder Transformation Agent proaktiv zu gestalten und dabei nicht zuletzt die eigene Funktion im Sinne eines "Role Makings" weiterzuentwickeln. Ohne echtes Leadership, ohne Vision und ein gerüttelt Maß an Frustrationstoleranz, Rückgrat und vor allem auch Energie und Stehvermögen wird das aber nur in wenigen Fällen gelingen. Führungsqualitäten werden so zum kritischen "Die Veränderung der Unternehmens kultur und der mit ihr verbundenen Denkmuster ist unabdingbar im Transformationsprozess." Dabei müssen sie sich neben dem intensiven Bemühen um ein besseres Verständnis des zugrunde liegenden Geschäfts und neuer Technologien auf ihre ureigenen Stärken besinnen, nicht zuletzt auf die Fähigkeit, durch zahlen-und datenbasierte Analysen und eine Rolle als kritischer Counterpart die Rationalität des Managements auch und gerade in Zeiten der Veränderung sicherzustellen. Die Rahmenbedingungen und die Herausforderungen ändern sich Björn Radtke und Marko Reimer. Angaben zum Autor Prof. Dr. Utz Schäffer ist Direktor des Instituts für Management und Controlling (IMC) der WHU -Otto Beisheim School of Management Springer Professional Veränderung Finanzfunktion Hrsg.) (2020): Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis Führen und Managen in der digitalen Transformation -Trends, Best Practices und Herausforderungen Controlling -Aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen. Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Spezialaspekte Zehn Thesen zur Entwicklung des Controllings € (D) sind gebundene Ladenpreise in Deutschland und enthalten 7% für Printprodukte und für elektronische Produkte. € (A) sind gebundene Ladenpreise in Österreich und enthalten 10 % für Printprodukte bzw. 20% MwSt. für elektronische Produkte. Die mit * gekenn-zeichneten Preise sind unverbindliche Preis-empfehlungen und enthalten die landesübliche MwSt Gundram Controlling-Praxis im Mittelstand Aufbau eines Controllingsystems ausgehend von Lexware • Anleitung zur Konzeption eines Controlling-Systems im