key: cord-0053913-amh10j1m authors: Butterwegge, Christoph title: Kinderarmut in Deutschland: Entstehungsursachen und Gegenmaßnahmen date: 2020-12-17 journal: Sozial Extra DOI: 10.1007/s12054-020-00344-w sha: 78bf8c575f21ebd030b9b1f631d1615ca5ef1097 doc_id: 53913 cord_uid: amh10j1m Bei der Kinderarmut handelt es sich um eine der verheerendsten Ausprägungen des Polarisierungsprozesses, der die sozioökonomische Ungleichheit als das eigentliche Kardinalproblem der Bundesrepublik, wenn nicht der ganzen Menschheit, verschärft hat. Daher muss Armutsbekämpfung auf sämtlichen Ebenen des föderalen Systems (Bund, Länder und Kommunen) sowie allen dafür geeigneten Politikfeldern ansetzen, von denen im Artikel exemplarisch die Arbeitsmarkt‑, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, die Familienpolitik, die Bildungs- und Schulpolitik sowie der Wohnungs‑, Wohnungsbau- und Stadtentwicklungspolitik behandelt werden. K inderarmut ist ein viel zu ernstes Problem, um seine Lösung den unmittelbar betroffenen Familien sowie meistenteils gleichfalls hilflosen Er-zieher_innen, Lehrer_innen und Sozialarbeiter_innen zu überlassen. Nur durch sozialstaatliche Intervention kann sie verringert und ihre Neuentstehung verhindert werden. Kinderarmut beweist, dass sich Armutsbetroffenheit in aller Regel nicht mit individuellem (Fehl-)Verhalten, sondern nur mit den gesellschaftlichen Verhältnissen erklären lässt, von denen Menschen abhängig sind. Maksim Hübenthal (2018) Auf welchen Politikfeldern, mit welcher Strategie und mit welchen Mitteln man die Armut von Kindern zu bekämpfen sucht, hängt primär davon ab, welche Ursache(n) man für das Phänomen verantwortlich macht. Wenn die Entstehung von (Kinder-)Armut nicht monokausal zu begreifen ist, sondern multiple, teilweise eng miteinander verknüpfte Ursachen hat, ist sie auch nur mehrdimensional zu bekämpfen. Michael Klundt (2019, S. 165) fordert daher ein "mehrdimensionales Anti-Kinderarmuts-Konzept", das mit einem grundlegenden Wandel der Regierungspolitik verbunden sein müsse, die oft genug bloß soziale "Trostpflästerchen" für strukturelle Probleme wie die wachsende Ungleichheit biete. Da die Kinderarmut öffentlich beklagt, aber nicht energisch bekämpft wird, sollte zunächst ein politisches Klima geschaffen werden, das ihre "strukturelle Unsichtbarkeit" beendet, von der Daniel März (2017, S. 14) spricht: "Kindheit in Armut kann sich zwar des Mitgefühls ihrer gesellschaftlichen Umwelt gewiss sein, jedoch nicht eines hinreichenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungswillens." Nötig sind mehr Sensibilität für Prekarisierungs-, Marginalisierungs-bzw. Pauperisierungsprozesse sowie eine höhere Sozialmoral, die aufgrund der Wohnungsnot und des Mietwuchers in Großstädten und Ballungsgebieten der Bundesrepublik allmählich bis in die Mittelschicht reichende Desintegrations-, Exklusions-und Deprivationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Eine konsequente Beschäftigungspolitik würde nicht nur die Arbeitslosigkeit verringern, sondern auch der Familienund Kinderarmut nachhaltig entgegenwirken. Sie müsste von einer Umverteilung der Arbeit durch den Abbau von Überstunden (mittels eines Verbots bezahlter Überstunden) und die sukzessive Verkürzung der Wochenarbeitszeit (bei einem Personal-und Lohnausgleich zumindest für Geringverdiener_innen) wie der Lebensarbeitszeit über Zukunftsinvestitionsprogramme des Bundes und der Länder bis zur Schaffung eines öffentlich geförderten Dienstleistungssektors alle Möglichkeiten der wirtschaftspolitischen Interventionstätigkeit für die Schaffung von mehr Stellen nutzen. Armutsverschärfend wirkt, "dass in Deutschland kein flächendeckendes Netz von tariflichen Mindeststandards zur Einkommensfestsetzung mehr existiert, auch wenn sich ein Teil der nicht an Tarifverträge gebundenen Arbeitgeber an den bestehenden Branchentarifverträgen orientiert." (Bispinck und Schäfer 2006 Bildung spielt eine wichtige Rolle, wenn es um bessere Aufstiegschancen für junge Menschen aus sozial benachteiligten Familien geht, wiewohl sie nicht verabsolutiert und zum gesamtgesellschaftlichen Wunder-mittel im Kampf gegen die Kinderarmut stilisiert werden darf (vgl. Butterwegge 2019). Ganztagsschulen, die (beitragsfrei zur Verfügung gestellte) Kindergarten-, Krippen-und Hortplätze ergänzen sollten, haben einen Doppeleffekt: Einerseits werden von Armut betroffene oder bedrohte Kinder umfassender betreut und systematischer gefördert, andererseits können ihre Eltern leichter als sonst einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was sie finanzielle Probleme eher meistern lässt. Durch die Ganztags-als Regelschule lassen sich soziale Benachteiligungen insofern kompensieren, als eine bessere Versorgung der Kinder mit Nahrung (gemeinsame Einnahme des Mittagessens), eine gezielte Förderung leistungsschwächerer Schüler_innen etwa bei der Erledigung von Hausaufgaben und eine sinnvollere Gestaltung der nachmittäglichen Freizeit erfolgen würden. Wer von der Gesamt-bzw. Gemeinschaftsschule, die Kinder aller Bevölkerungsschichten länger gemeinsam unterrichtet, nicht sprechen will, sollte auch von der Ganztagsschule schweigen. Letztere degeneriert zur bloßen Verwahranstalt, wenn sie nicht in ein bildungspolitisches Alternativkonzept integriert wird, das bemüht ist, den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. In "einer Schule für alle" nach skandinavischem Vorbild wäre kein Platz für die frühzeitige Aussonderung "leistungsschwacher" oder "bildungsferner" Kinder, die arm sind bzw. aus sog. Problemfamilien stammen. Mit einer inklusiven Pädagogik, die keine "Sonderbehandlung" für bestimmte Gruppen mehr kennt (vgl. dazu : Reich 2014; Ottersbach et al. 2016) , könnte man sozialer Desintegration und damit dem Zerfall der Gesellschaft insgesamt entgegenwirken. Nötig wäre eine sehr viel intensivere Zusammenarbeit bzw. eine stärkere Verzahnung von Schule und Jugendhilfe, als sie bisher besteht (vgl. dazu: Henschel et al. 2009 ). Chassé et al. (2007, S. 342 ) formulieren eine doppelte Aufgabe: "Öffnungen der Schule gegenüber dem Stadtteil bzw. dem Freizeitbereich könnten einerseits zu einer gemeinwesenorientierten Schule führen. Auf der anderen Seite müssten die Institutionen der Kinder-und Jugendhilfe -sicherlich oft in Kooperation mit den Schulen, vor allem im Kontext von Ganztagsschulen -lebensweltnahe attraktive Freizeit-, Förder-und Bildungsangebote entwickeln, mit denen die Kinder erreicht werden können, die von herkömmlichen Vereinen und kommerziellen Angeboten keinen Gebrauch machen können." Sinnvoll ist nach Überzeugung der Verfasser_innen "eine Neubestimmung des Verhältnisses von Bildung und Jugendhilfe" (ebd., S. 343), die sich an einer übergreifenden Integrationsperspektive orientieren muss. Aufgrund der zunehmenden Wohnungsnot und des Mietwuchers in Groß-bzw. Universitätsstädten sowie Ballungszentren finden heute selbst Normalverdiener_ innen oft keine bezahlbare Mietwohnung mehr. Während der Wohnungsmarkt dereguliert wurde, erfasste den sozialen Wohnungsbau eine gleichfalls politisch herbeigeführte Schwindsucht: Momentan fallen jährlich viermal so viele Wohnungen aus der Belegungsbindung heraus, wie neu hinzukommen. Lange bevor Wohnungsmangel und Mietwucher als "Neue Soziale Frage" bzw. als eine zentrale politische Herausforderung des 21. Jahrhunderts entdeckt und zum Thema in den Massenmedien wurde, gelangte die Fuldaer Soziologin Monika Alisch (2009, S. 51 ) zu dem Schluss, dass sich die Verschärfung der (Kinder-)Armut nicht zuletzt als "Ergebnis stadtentwicklungspolitischer Entscheidungen" darstellt. Das im Baugesetzbuch verankerte Politikfeld der "sozialen Stadtentwicklung" gewinnt daher zunehmend an Bedeutung. "Soziale Stadtentwicklung knüpft an die These an, dass Städte nur eine Chance haben, die Auswirkungen ökonomischer Umstrukturierung sozialverträglich zu beantworten, wenn sie einen sozialen Ausgleich anstreben." (Alisch 2001, S. 52) Ob eine Bund-Länder-Offensive, wie sie das 1999 aufgelegte und zuletzt ausgeweitete Gemeinschaftsprogramm "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf -die Soziale Stadt" darstellt, geeignet ist, strukturelle Probleme nach Art der sozialen Benachteiligung bzw. Verarmung von Alleinerziehenden und kinderreichen Familien zu lösen oder zu mildern, bleibt umstritten (vgl. Walther 2002; Greiffenhagen und Neller 2005; Hanesch 2011 Armutsbekämpfung sollte auf sämtlichen Ebenen des föderalen Systems (Bund, Länder und Kommunen) sowie allen dafür geeigneten Politikfeldern ansetzen, wiewohl nur ausgewählte behandelt werden konnten. Bloß durch eine konzertierte Aktion im Bereich der Wirtschafts-, Steuer-und Finanzpolitik, der Arbeitsmarkt-und Beschäftigungspolitik, der Sozial-und Gesundheitspolitik, der Familienpolitik, der Bildungspolitik sowie der Wohnungs-, Wohnungsbau-und Stadtentwicklungspolitik sind dauerhafte Erfolge möglich. Dabei müssen auch Landes-und Kommunalpolitik mehr Verantwortung übernehmen (vgl. dazu: Gintzel et al. 2008; Lutz 2010 Stadtteilmanagement. Zwischen politischer Strategie und Beruhigungsmittel. In M. Alisch (Hrsg.), Stadtteilmanagement. Voraussetzungen und Chancen für die soziale Stadt (2. Aufl. S. 7-22) Wege aus der Kinderarmut. Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und sozialpädagogische Handlungsansätze Niedriglöhne und Mindesteinkommen: Daten und Diskussionen in Deutschland Mindestlöhne in Europa Krise und Zukunft des Sozialstaates (6. Aufl.) Bildung -ein probates Mittel zur Bekämpfung der (Kinder-)Armut in Deutschland? -Was getan werden muss, damit sich die Kluft zwischen Arm und Reich wieder schließt Handbuch Bildungsarmut Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland Ungleichheit in der Klassengesellschaft Kinderarmut in Ost-und Westdeutschland Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen (3. Aufl.). Wiesbaden: VS Kinderarmut und kommunale Handlungsoptionen Praxis ohne Theorie? Wissenschaftliche Diskurse zum Bund-Länder-Programm "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf -die Soziale Stadt Die Zukunft der "Sozialen Stadt Jugendhilfe und Schule. Handbuch für eine gelingende Kooperation Sinngebungen zwischen Erziehung, Bildung, Geld und Rechten Gestohlenes Leben. Kinderarmut in Deutschland. Köln: PapyRossa Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement? Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebensbedingungen junger Menschen Wege aus der Kinderarmut. Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und sozialpädagogische Handlungsansätze Kinderarmut in Deutschland und die Gründe für ihre Unsichtbarkeit Soziale Ungleichheiten als Herausforderung für inklusive Bildung Bilanz des Mindestlohns: deutliche Lohnerhöhungen, verringerte Armut, aber auch viele Umgehungen Inklusive Didaktik. Bausteine für eine inklusive Schule Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns -eine erste Zwischenbilanz Bürger ohne Obdach -Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum. Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit Generationen-und Geschlechtergerechtigkeit oder: Familienarbeit neu bewerten -aber wie? In C. Butterwegge & M Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien-und Sozialpolitik im demografischen Wandel (2. Aufl. S. 213-223) Soziale Stadt -Zwischenbilanzen. Ein Programm auf dem Weg zur Sozialen Stadt Kinderarmut und Existenzsicherung im Sozialstaat