key: cord-0053152-3n30qf41 authors: Broll, M. title: Europa date: 2020-11-24 journal: Kolner Z Soz Sozpsychol DOI: 10.1007/s11577-020-00722-y sha: a113ca009f1ccbba67be7c522b828e55c57392f5 doc_id: 53152 cord_uid: 3n30qf41 nan Wie solidarisch ist Europa? Diese Frage stellt sich mit der Covid-19-Pandemie mit neuer Brisanz und womöglich aktueller denn je. Es geht dabei um die wechselseitige Übernahme von Intensivpatienten und -patientinnen, die Zusammenarbeit bei der Entwicklung eines Impfstoffes, jedoch auch um das anfängliche Zurückhalten von Schutzausrüstung und nationale Alleingänge und Schließungen. In den Verhandlungen über den Corona-Wiederaufbaufond der EU, der die ökonomischen und sozialen Folgen der Pandemie auffangen soll, wurden die verschiedenen Positionen zu Ausmaß und Konditionalität europäischer Solidarität deutlich. Während die deutsche Regierung von ihrer Position (auch im Vergleich zur letzten Wirtschaftskrise) abrückte und sich gemeinsam mit der französischen Regierung für ein umfassendes Hilfspaket aussprach, sind es die sogenannten sparsamen Vier (Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden), die ihre Solidarität an starke Auflagen für die Empfänger knüpfen wollen. Es stellt sich dennoch die (auch politische) Frage, wie die Diskrepanz zwischen hoher Solidaritätsbereitschaft einerseits und dem dieser Haltung widersprechenden Verhalten andererseits zu erklären ist. Warum wählen Menschen regelmäßig Parteien mit einer politischen Agenda, die ihren Einstellungen und Interessen zuwiderläuft? Das gilt nicht nur für europäische Politik, sondern muss ebenso für nationalstaatliche Solidarität diskutiert werden, für die die Zustimmungsraten noch höher sind. Und wer sich an den Diskurs in der sogenannten Griechenlandkrise erinnert, der mag sich zumindest über die deutlichen Zustimmungswerte zu einer solidarischen Politik in Europa wundern. Immerhin blieben damals hierzulande große Proteste gegen die auch von Deutschland forcierte europäische Austeritätspolitik aus, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass soziale Rechte in Griechenland abgebaut wurden und es zu massiven sozialen Verwerfungen kam. Man könnte hier wie Jürgen Habermas in seiner Würdigung des Buches argumentieren und davon ausgehen, dass die politischen Eliten die Einstellungen ihrer Wählerschaft unterschätzen oder falsch auslegen. Auf der anderen Seite könnte man daran auch die Limitationen quantitativer Einstellungsforschung aufzeigen. Um die Ergebnisse etwas stärker zu kontrollieren, wurden die Teilnehmenden zwar ebenfalls dazu befragt, ob sie persönlich bereit wären die Kosten solidarischer Politik etwa durch Steuerabgaben mitzutragen. Auch hier stimmt eine Mehrheit (61 %) in den befragten Ländern zu. Dennoch bleibt notwendigerweise ungeklärt, wer dies auch tatsächlich tun würde und es nicht nur aus sozialer Erwünschtheit oder aufgrund der Unverbindlichkeit der Befragung angibt. Diese Problematik reflektieren die Autoren und Autorinnen teilweise im letzten Kapitel. Sich mit den Ergebnissen aber zu beruhigen und in ein Loblied auf europäische Solidarität zu verfallen, wäre mindestens naiv und würde das Handeln der Bevölkerungsmehrheiten nicht ernst nehmen, das im Wesentlichen aus schweigender Duldung oder aktiver Unterstützung von unsolidarischer Politik besteht. Die Diskrepanz zwischen den Befragungsergebnissen und der politischen Realität berührt daran anschließend die entscheidende Frage, wann eine solidarische Haltung in solidarische Praxis mündet. Denn nur sie allein vermag es, Europa solidarischer zu gestalten und Gesellschaft zu verändern. Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL. Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation Politische Soziologie sozialer Ungleichheit" der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: transnationale Solidarität, soziale Ungleichheit in Europa, Eurokrise und Austeritätspolitik, politische Soziologie