key: cord-0052837-1u59ik5r authors: Kauer-Berk, Oliver; Burrmann, Ulrike; Derecik, Ahmet; Gieß-Stüber, Petra; Kuhlmann, Detlef; Neuber, Nils; Richartz, Alfred; Rulofs, Bettina; Süßenbach, Jessica; Sygusch, Ralf title: Das Virus, der Sport und die Herausforderungen: Fragen an die Wissenschaft date: 2020-11-17 journal: Forum Kind Jugend Sport DOI: 10.1007/s43594-020-00016-3 sha: a49f23af3d681841b038e350ec398f7d6e744b41 doc_id: 52837 cord_uid: 1u59ik5r nan Welche Auswirkungen hat die Covid-19-Pandemie auf das Aufwachsen und das Sportengagement von Kindern und Jugendlichen aus Ihrer Forschungsperspektive? Deutschland hatte in den ersten Monaten der Pandemie im Vergleich zu vielen anderen Ländern weniger harte Einschnitte zu verzeichnen, unter anderem was Bewegungseinschränkungen im Freien und die (Dauer der) Schließung von Einrichtungen anbelangt. Dennoch konnten organisierte sportliche Aktivitäten mit Gleichaltrigen in der Schule, im Verein oder in Einrichtungen der offenen Kinder-und Jugendarbeit längere Zeit gar nicht und gegenwärtig nur mit Auf-lagen durchgeführt werden. Und auch informelle Sport-und Bewegungsaktivitäten waren möglicherweise durch den eingeschränkten Zugang beziehungsweise Schließung von Sportplätzen, öffentlichen Sporträumen oder Parkanlagen tangiert. Die negativen Auswirkungenzum Beispiel der Wegfall von regelmäßigen, strukturierten, gemeinschaftlichen Sport-und Bewegungsaktivitäten einschließlich der in diesem Rahmen stattfindenden informellen und nonformalen Bildungsprozesse -dürften Kinder aus weniger gut situierten Familien deutlicher spüren als Kinder aus gut gebildeten und einkommensstarken Elternhäusern. Die im Bildungsbereich geführten Diskussionen um die Verschärfung sozialer Ungleichheiten müssen also auf den Freizeit-und Sportbereich ausgeweitet werden. Was weiß die Wissenschaft bis jetzt, welche Befunde kennen Sie zu den Auswirkungen der Corona-Krise? Während einige empirische Studien unter anderem zum (veränderten) Bewegungsverhalten und zu gesundheitlichen Parametern von Jugendlichen und Erwachsenen auf den Weg gebracht wurden und erste Befunde vorliegen (zum Beispiel Ammar et al. 2020 ; Mutz und Gerke 2020), mangelt es an entsprechenden Befunden für das Kindesalter. Das betrifft auch Fragen der Integration und sozialen Ungleichheit. Einiges deutet darauf hin, dass Heranwachsende während der Zeit der Schulund Vereinsschließungen weniger körperlich aktiv waren, mehr sitzenden Aktivitäten nachgingen und ein weniger konsistentes Schlafmuster aufwiesen als vor dieser Zeit (. Abb. 1; Guan et al. 2020) . Ein Vergleich von Altersgruppen deutet allerdings darauf hin, dass 14-bis 29-Jährige im Vergleich zu den 30-bis 64-Jährigen und den 65+ ihre Sport-und Bewegungsaktivitäten deutlich seltener reduzierten (Mutz und Gerke 2020). Bei Kindern scheinen Bewegungsaktivitäten zugenommen zu haben, während Sport und Sportangebote abgenommen haben (Woll 2020a (Mairhofer et al. 2020) . Die bundesweite Studie KiCo über die Erfahrungen von Eltern und Kindern während der Corona-Pandemie zeigt ein geteiltes Bild der Familien im Hinblick auf die Bewältigung der Belastungen unter den Bedingungen der Krise. Während einige Familien mit der neuen Situation gut zurechtkommen und diese sogar als Chance sehen, in der Familie neue Ressourcen zu schöpfen, zeigt sich ein Teil der Familien als stark belastet: Ein Drittel der befragten Eltern berichtet von größeren Geldsorgen während der Pandemie und immerhin 60 % der Eltern fühlen sich mit ihren Sorgen nicht gehört und etwa von den Verantwortlichen in der Politik allein gelassen (Andresen et al. 2020b ). Die vorliegenden Daten verweisen somit auf gestiegene Belastungen für einen Teil der Familien während der Corona-Pandemie. Dass dies auch zu einem Zuwachs an innerfamiliären Konflikten und häuslicher Gewalt führt, ist zu vermuten, muss jedoch zukünftig noch durch weitere Studien differenziert belegt werden. Welchen Bedarf an Forschung sehen Sie, wo sollten Schwerpunkte gesetzt werden und welche Ansätze ergeben sich für Sie persönlich aus der Pandemie? Gänzlich ungeklärt ist bislang noch Forum Kinder-und Jugendsport Abb. 8 9 Forschungsbedarf wird gesehen bei der Entwicklung digitaler Werkzeuge für die Sportorganisationen und für den Schulsport, etwa in Bezug auf Fort-und Weiterbildung. (Foto: LSB NRW/Andrea Bowinkelmann) die Frage, welche Bedeutung Sportvereine für den Schutz von Kindern haben können, wenn sie in ihren Familien Konflikte oder Gewalt erfahren. In meinen eigenen Studien zu Gewalt habe ich bisher schwerpunktmäßig untersucht, wie häufig und unter welchen Bedingungen Kindesmissbrauch und Gewalt im Sport geschehen und welche Schutzmaßnahmen es in Sportverbänden und -vereinen gibt. Diese Daten zu erheben war wichtig und lange überfällig. Allerdings gerät dabei noch zu wenig in den Blick, dass Sportvereine für junge Menschen auch Orte der Zuflucht, Unterstützung und des Empowerments sein könnten -vielleicht gerade oder besonders dann, wenn Kinder und Jugendliche in ihren Familien nicht ausreichend Schutz erfahren. Sport im Verein zu treiben war und ist unter den Bedingungen der Pandemie gar nicht oder nur eingeschränkt möglich. Was bedeutet dies insbesondere für die sogenannten vulnerablen Kinder, die in ihren Familien starken Belastungen oder Gewalt ausgesetzt sind? Inwiefern sind Sportvereine und die darin tätigen Trainer*innen gerade für diese Kinder wichtige Anlaufstellen? Wie können sich Sportvereine mit anderen Institutionen der Kinder-und Jugendarbeit in ihren Kommunen vernetzen, um den Schutz von Kindern zu verbessern? Diese Fragen gilt es grundsätzlich -und besonders in Zeiten einer gesellschaftlichen Krise -zu untersuchen. Zeitpunkt der Antwort: 8. September 2020. Forschungsthema: Kommunale Kinder-und Jugendsportentwicklung Jugendlichen aus Ihrer Forschungsperspektive? Der Schulsport leistet einen wichtigen Beitrag zu einer allseitigen Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Dies gilt sowohl für den Sportunterricht als auch für die außerunterrichtlichen Angebote, die im Ganztag von Übungsleiter*innen und Trainer*innen der Sportvereine als auch von freien Honorarkräften geleistet werden. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und die Deutsche Sportjugend (dsj) bieten dazu auch aktuell ausdrücklich ihre Kooperation an. Auf der einen Seite sind die zahlreichen kreativen Sportangebote in und mit digitalen Medien (zum Beispiel Albas tägliche Sportstunde) hervorzuheben, die häufig von Sportlehrkräften im Online-Unterricht (soweit vorhanden) eingesetzt wurden und so Eingang in den Schulsport finden. Andererseits sind durchaus berechtigte Mahnungen und Forderungen aus dem organsierten Sport zu vernehmen, die auf die Sicherung der Strukturen der Kinder-und Jugendarbeit verweisen, um die Angebote des Kinder-und Jugendsports aufrechterhalten zu können (zum Beispiel die Beschäftigung der Freiwilligendienstleistenden). Zentral ist meines Erachtens die bildungspolitische Erkenntnis, dass insbesondere Heranwachsende aus benachteiligten Milieus in der neuen "Normalität" weiter abgehängt werden und dementsprechend mit Blick auf die Sport-und Bewegungsangebote in formalen (Schule) und non-formalen (Sportvereine) Settings "unterversorgt" bleiben. Was weiß die Wissenschaft bis jetzt, welche Befunde kennen Sie zu den Auswirkungen der Corona-Krise? Als Versuch einer Antwort kann ich etwas zum Schulsport sagen. In einem laufenden Forschungsprojekt haben wir massiv erlebt, dass das Unterrichtsfach Sport momentan ganz am Schluss des Fächerkanons zu stehen scheint. In dem Projekt haben wir das Thema Gesundheit im Sportunterricht in Schulen beziehungsweise in einzelnen Schulklassen über das gesamte Schuljahr begleitet und mit Interventionen unterstützt. Für die Intervention haben wir mit den Lehrkräften Unterrichts-Forum Kinder-und Jugendsport einheiten entwickelt oder entwickeln wollen, die sich systematisch mit dem Thema Gesundheit auseinandersetzen. Beispielsweise hat eine Lehrkraft zum Thema Verletzungsrisiken im Judo eine Einheit entwickelt, in der es um das richtige Fallen geht. Das kann nicht nur im Judo, sondern auch den Sport-und Bewegungsalltag allgemein ein wichtiges, verletzungsprophylaktisches Thema sein. Die Schüler*innen hätten sozusagen eine Gesundheitskompetenz entwickelt, wie sie am Beispiel der Sportart Judo Verletzungen vorbeugen können. Eine andere Lehrkraft hat sich mit der Gestaltung von gesundheitsorientiertem Krafttraining befasst. Die Interventionen mit den Schüler*innen konnten aber wegen Corona nicht mehr stattfinden. Da ab Anfang des zweiten Schulhalbjahres kein Sportunterricht mehr stattgefunden hat, haben wir versucht, digitale Bildungsangebote zu schaffen. Was auf eine kognitive Auseinandersetzung mit Sport und Bewegung hinausläuft und dazu führen soll, Schüler*innen zum selbstständigen Sporttreiben zu befähigen (. Abb. 9). Interessant war die Reaktion der Schulen. Genau eine von vier Schulen hat gesagt: Da machen wir mit. Von den anderen kam die Rückmeldung, unter den jetzigen Bedingungen ganz grundsätzlich keinen Sportunterricht weiterentwickeln zu wollen und damit eben auch keine digitalen Bildungsangebote zu schaffen. Vor dem Hintergrund, dass Digitalisierung durch die Pandemie zum Megathema geworden ist, ist das schon bemerkenswert. Die eine Schule hat im Übrigen tatsächlich hochinteressante, sehr machbare digitale Unterrichtseinheiten zum Sportunterricht entworfen. Weiterhin interessant: Da wir im Rahmen dieses Projekts zu Beginn des letzten Schuljahres die Gesundheitskompetenz von Schüler*innen und deren sportliche Aktivität erfasst haben und das bis zum Ende des Schuljahres auch ohne Sportunterricht fortführten, hat sich quasi eine neue Fragestellung in das Projekt eingeschlichen: Ob die Schüler*innen, die zu Beginn des Schuljahres bereits eine höhere Gesundheitskompetenz besaßen, im Laufe der Pandemiezeit, in der kein Sportunterricht stattgefunden hat, ihr Aktivitätsverhalten anders aufrechterhielten als die Schüler*innen, die schon zu Beginn des Schuljahres eine sehr geringe Gesundheitskompetenz hatten. Das können wir im Idealfall jetzt statistisch ermitteln. Es gibt bereits Hinweise aus der Sportpsychologie, dass diejenigen, die sich mit Sport und dessen Bedeutung in ihrem Lebensalltag vor der Pandemie schon häufig auseinandergesetzt haben, auch diejenigen sind, die währenddessen eher aktiv geblieben sind. Effects of home confinement on mental health and lifestyle behaviours during the COVID-19 outbreak: insights from the ECLB-COVID19 multicentre study Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie -Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie KiCo In whom do we trust? The level and radius of social trust among sport club members Mediensucht 2020 -Gaming und Social Media in Zeiten von Corona: DAK-Längsschnittstudie: Befragung von Kindern, Jugendlichen (12-17 Jahre) und deren Eltern Corona und Bewegungsmangel dram:article_id=477156 (Erstellt: 21. Mai 2020). Zugegriffen: 28. Juli 2020. Deutschlandfunk Promoting healthy movement behaviours among children during the COVID-19 pandemic Kindsein in Zeiten von Corona Sport and exercise in times of self-quarantine: How Germans changed their behaviour at the beginning of the Covid-19 pandemic Das Deutsche Schulbarometer Spezial -Lehrerbefragung zur Corona-Krise Intimate partner violence in the great recession Körperliche Aktivität, motorische Leistungsfähigkeit und Gesundheit in Deutschland: Ergebnisse aus der Motorik-Modul-Längsschnittstudie (MoMo) Wir brauchen eine Lobby für Kinder Sportwissenschaftler zu Bewegung in Zeiten von Corona: "Ich plädiere für Sport-Hausaufgaben Bildung in der Coronakrise: Wie haben die Schulkinder die Zeit der Schulschließungen verbracht, und welche Bildungsmaßnahmen befürworten die Deutschen? ifo Institut, München, 2020. ifo Schnelldienst