key: cord-0052682-g3r205iu authors: Heusinger von Waldegg, Gernot title: Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Geriatrie date: 2020-11-19 journal: Geriatr Rep DOI: 10.1007/s42090-020-0631-7 sha: 8ce2644d7722252bc8afe9e0502e669773c8d748 doc_id: 52682 cord_uid: g3r205iu nan D ie aktuelle Diskussion über Gewalt und Rassismus sollte als Anlass dienen, auch im eigenen Arbeitsumfeld zu reflektieren, wo sich Gewalt und Rassismus verstecken. Zweifelsohne erleben wir in der Medizin seit den späten 1960er-Jahren einen gewaltigen Paradigmenwechsel. Das paternalistisch geprägte Arztbild entwickelt sich immer mehr hin zu einer gleichberechtigten und gemeinsamen Entscheidungsfindung zwischen Ärzten und Patienten, dem sogenannten "shared decision making". Die Anwendung physischer Gewalt wurde in der Erziehung von Kindern und anderen Abhängigen noch vor 50 Jahren als probates, über Tausende von Jahren erprobtes Mittel in der Schule und dem häuslichen Umfeld angesehen. Da verwundert es nicht, wenn auch in der Medizin Zwangstherapie und freiheitsentziehende Maßnahmen Anwendung fanden -es war ja nur zum Besten für die Patienten. Es soll im Folgenden nur darum gehen, für einen zeitgemäßen Umgang mit Patientenrechten zu sensibilisieren. Nicht-medikamentöse Maßnahmen stehen an erster Stelle. Eine gezielte, immer zeitlich befristete Gabe von Antipsychotika kann erforderlich sein, wenn alle nicht-medikamentösen Maßnahmen keinen Erfolg zeigen [2] . Dabei muss den Anwendern bewusst sein, dass auch die Antipsychotikatherapie eine Form des Freiheitsentzugs ist und mögliche extrapyramidale Nebenwirkungen berücksichtigt werden müssen. Der einzige Vorteil ist, dass für die Patienten Angst und wahnhaftes Erleben unter Umständen gemindert werden können. Es steht außer Frage, dass die Betreuung von akut verwirrten Patienten und Patientinnen für alle Beteiligten belastend, zeitund personalintensiv ist. Knappe Personalressourcen sind aber keine legitime, ethisch vertretbare Rechtfertigung für die Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen. In den 1990er-Jahren wurden Todesfälle durch Bettgitter erstmalig in der Literatur beschrieben [3] . Bettgitter, die ohne ausdrückliche Genehmigung von geschäftsfähigen Patienten hochgezogen werden und das selbständige Verlassen des Bettes verhindern, sind eine freiheitsentziehende Maßnahme [4] . Auch der nicht orientierte Patient muss die Möglichkeit haben, das Bett zu verlassen, wenn er es möchte. Zahlreiche Publika-tionen haben auf den Umstand hingewiesen, dass Bettgitter Stürze nicht verhindern [5] . Ganz im Gegenteil: Akut verwirrte Patienten, die den Impuls haben, das Bett verlassen zu wollen, werden auch durch Bettgitter nicht daran gehindert. Stattdessen wird beim Versuch, die Bettgitter zu überwinden, das Verletzungsrisiko erhöht. Viele Patienten mit schweren neurokognitiven Defiziten haben einen großen Bewegungsdrang und erfahren durch das "Laufen" eine gewisse Erleichterung ihrer inneren Unruhe. Zweifelsohne ist die Betreuung dieser Patienten auch personalintensiv und anstrengend. Gerade die nicht akzeptierbare Beschränkung dieser Patienten führt im deliranten Zustand zu einer Eskalation. Seit Mitte der 2000er-Jahre werden spät manifestierende posttraumatische Belastungsstörungen der Kriegsgenerationen thematisiert. Nahezu alle Frauen und Männer haben im 2. Weltkrieg in für nachfolgende Generationen unvorstellbarer Art und Weise physische und psychische Gewalt erfahrungen gemacht [6] . Diese Traumatisierungen wurden nicht therapeutisch angegangen. Im Ge-genteil: Vielmehr wurde das Erlebte tabuisiert und verdrängt. Erst im höheren Lebensalter, oftmals im Kontext des Auftretens neurokognitiver Defizite, treten posttrauma tische Belastungsstörungen auf, die vom Umfeld dann oft auch noch anders interpretiert werden. Als Beispiel sei eine im Krankenhaus um Hilfe schreiende Patientin genannt, die im Rahmen eines "flashbacks" eine trauma tisierende Situation immer wieder erlebt. Ausgerechnet diese um Hilfe schreiende Patientin, die sich in einer ganz anderen Situation wähnt, aus welchen Motiven auch immer unter Anwendung von physischer Gewalt zu fixieren, de facto zu fesseln, verschärft die Situation und ist aus ethischer Sicht unerträglich. Bei Fixierung der um Hilfe rufenden Patientin, die jeder in der Geriatrie Tätige vor Augen hat, wird die Retraumatisierung letztlich billigend in Kauf genommen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde hat 2018 eine S3-Leitlinie zum Thema "Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Auch die Corona-Pandemie hat zu drastischen Einschränkungen der Freiheit geführt. Kontakt-und Besuchverbote isolieren insbesondere alte Menschen von ihren Lieben. Erwachsenen" veröffentlicht [7] . Diese Leitlinie wurde unter Beteiligung des Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen (BPE e.V.) erstellt. Am Ende verweigerte der BPE die Zustimmung zur Leitlinie, weil sich die Situation aus dem Erleben der Betroffenen anders darstellt. Ein Thema dabei war die Diskussion, wer denn nun das Opfer von Aggression sei: Sind es die Patienten und Patientinnen oder die Behandelnden? Die S3-Leitlinie bezieht sich auf die psychiatrischen Aspekte; es wurden keine anderen medizinischen Fachgesellschaften involviert. Im geriatrischen Kontext gibt es niemanden, der als unmittelbar Betroffener die Interessen vertreten kann. Ein jeder mag sich in die Situation der fixierten Patienten hinein versetzen, wenn das unbewusst Gesteuerte "sich ins Gesicht fassen" oder das "Kratzen an einer juckenden oder schmerzenden Körperstelle" durch das Fesseln beider Hände mit sehr begrenztem Bewegungsradius nicht mehr möglich ist; insbesondere bei akuten quantitativen und qualitativen Bewusstseinsstörungen. Nicht zu wissen, wo man ist, und sich nicht im Gesicht kratzen zu können, ist eine schwer aushaltbare Vorstellung. Seit mehreren Jahren gelten die psychosoziale Isolation und die Vereinsamung alter Menschen als ein großes Thema in der Geriatrie. Die Zusammenhänge mit neurokognitiven Defiziten und affektiven Störungen im Alter werden diskutiert [8] . Die positiven Auswirkungen eines auffangenden sozialen und/oder familiären Umfeldes auf die Behandlungsergebnisse sind evident. Die SARS-CoV-2-Pandemie hat im März 2020 zu drastischen Einschränkungen von Freizügigkeit aus seuchenhygienischen Gründen geführt. In den Kliniken und Pflegeheimen wurden bundesweit frühzeitig Besuch-und Kontaktverbote ausgesprochen. Konsequent zu Ende gedacht, handelt es sich auch hier um Entzug von Freiheit. Dies geschah in der Anfangsphase zunächst mit der Intention, eine besonders gefährdete Personengruppe vor einer Infektion schützen zu wollen. Diese Schutz-maßnahmen, deren Sinnhaftigkeit hier nicht in Frage gestellt werden sollen, sind aber mit bewusster Kontaktvermeidung und sozialer Isolation verbunden, eben jenen Faktoren, die in der Geriatrie als hemmende Faktoren angesehen werden. Keinen Besuch empfangen zu dürfen und somit isoliert zu werden, muss auch unter dem Aspekt der Freiheitsbeschränkung betrachtet werden. Isolation und Gewaltanwendung im erweiterten Sinne sind die klassischen Instrumente der Bestrafung aus rechtssystematischer Warte und obliegen in Deutschland dem Staat. Die besondere Situation der Pandemie bedarf der kritischen Betrachtung der getroffenen Maßnahmen unter ethischen Sichtpunkten. Literatur: Es geht auch ohne Gewalt Einsatz von sedierenden Medikamenten und bewegungseinschränkenden Maßnahmen bei Patienten mit Demenz im Akutkrankenhaus : Eine nichtrandomisierte Fall-Kontroll-Studie (Use of sedating medication and physical restraints for patients with dementia in acute care hospitals : A non-randomized case control study) Asphyxial deaths due to physical restraint. A case series Side rail use and bed-related fall outcomes among nursing home residents The Nature and Extent of Physical Restraint-Related Deaths in Nursing Homes: A Systematic Review Impact of forced displacement during World War II on the present-day mental health of the elderly: a population-based study S3-Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen (German S3 guidelines on avoidance of coercion: prevention and therapy of aggressive behavior in adults) Loneliness and health care consumption among older people -Zu freiheitsentziehenden Maßnahmen zählen z. B. Fixierungen, Bettgitter und nicht verschiebbare Rollstuhltische.-Es gibt keine wohlmeinende Freiheitsentziehung. Freiheitsentziehende Maßnahmen sind und bleiben Gewalt gegen Patienten.-Geriatrische Patienten müssen sich immer darauf verlassen können, dass ihre Grundrechte auf gewaltfreie Behandlung und Pflege in jeder Situation gewahrt bleiben. Das gilt in besonderem Maß auch für die Patienten, die essenziell auf Unterstützung, Hilfe und Pflege angewiesen sind.-Freiheitsentziehende Maßnahmenaus welchem Grund auch immersind in der Geriatrie das absolute "No Go".-Das Wissen um Delir-und Sturzprävention gehört zu den Kernkompetenzen der modernen Geriatrie."Isoliert zu werden, muss auch unter dem Aspekt der Freiheitsbeschränkung betrachtet werden."