key: cord-0050993-s8vywzfd authors: Larsen, Reinhard title: Psychosoziale Situation von Patienten, Angehörigen und Behandlungsteam date: 2016-06-14 journal: Anästhesie und Intensivmedizin für die Fachpflege DOI: 10.1007/978-3-662-50444-4_37 sha: b94e5201e3ebbe891eb0aca94355fdf42d2b62b6 doc_id: 50993 cord_uid: s8vywzfd Die Intensivmedizin ist grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt, die körperlichen Aspekte der Behandlung ganz in den Vordergrund zu stellen und die seelischen Bedürfnisse des Patienten zu vernachlässigen oder gar zu ignorieren. Dabei kann gerade beim Intensivpatienten davon ausgegangen werden, dass seine oft lebensbedrohliche Erkrankung häufig mit psychischen Störungen einhergeht, die der besonderen Aufmerksamkeit und Zuwendung durch das Pflegepersonal und die behandelnden Ärzte bedürfen. Warum vielfach vom Personal der Intensivstation gerade die technischen Verrichtungen als bevorzugte Umgangsform mit dem Patienten gewählt werden, liegt vermutlich z. T. an der großen eigenen psychischen Belastung des Personals durch die Arbeitssituation auf der Intensivstation. Eine weitgehende Beschränkung auf technische Verrichtungen ermöglicht eine Distanzierung von den psychischen Bedürfnissen des Patienten und den teilweise als bedrohlich erlebten Behandlungssituationen der Intensivstation und bewirkt so eine gefühlsmäßige Entlastung. 5 das durch den Verlust der bisherigen zwischenmenschlichen Beziehungen ausgelöste Trennungstrauma mit dem Gefühl, abgeschnitten zu sein und soziales Ansehen zu verlieren, 5 das Gefühl der Isolierung und Vereinsamung durch sensorische Verarmung (Deprivation) bei steriler, unpersönlicher Atmosphäre mit Mangel an Orientierungshilfen; weiterhin durch die monotone Reizüberflutung mit Licht, Lärm, Entblößung und nicht zuletzt durch die Aufhebung der Persönlichkeitsgrenzen, 5 das affektive (gefühlsmäßige) Klima der Intensivstation ("Betriebsklima") und die gefühlsmäßigen Beziehungen des Patienten zum Behandlungsteam. Auf diese Faktoren reagiert der Intensivpatient mit einem teilweise überindividuell typischen, krankheitsabhängigen Verhalten, das jedoch von der primären Ausgangspersönlichkeit (Persönlichkeitsstruktur), der Krankheitssituation selbst und dem affektiven Klima auf der Intensivstation beeinflusst wird. Das krankheitsabhängige, gefühlsmäßige Verhalten des Intensivpatienten ist unter dem Druck der psychischen Stressfaktoren (Frustration, Gefühl des Verletztseins und realer oder phantasierter Verlust von Objektbeziehungen) zunächst v. a. durch Angst (bis hin zur Todesangst oder dem Gefühl vernichtet zu werden) oder eine gefühlsmäßige Schockreaktion und eine tiefgreifende Erschütterung des Selbstwertgefühls gekennzeichnet. Im weiteren Verlauf entwickeln die Patienten bestimmte, krankheitsabhängige Verhaltensweisen, die darauf abzielen, die Situation der vitalen Bedrohung zu bewältigen. Hierzu gehören v. a. zwei grundlegende Mechanismen: 5 Anpassung an die Erkrankung und die Behandlungssituation, 5 Entwicklung von Abwehrmechanismen. z Anpassungsreaktionen Diese Reaktionen sind gekennzeichnet durch gefühlsmäßige, erkenntnismäßige und motorische Aktivitäten des Patienten, mit denen er versucht, seine körperliche Unversehrtheit und sein seelisches Gleichgewicht zu erhalten oder wiederherzustellen. Das bedeutet: der Patient erkennt die vitale Bedrohung und setzt sich mit ihr realistisch auseinander. z Abwehrreaktionen Diese sind hingegen gekennzeichnet durch teilweise oder vollständige Abwehr und Verleugnung der Wirklichkeit bzw. Bedeutung der Erkrankung für den Patienten und Rückzug auf unreife (kindliche), starre Verhaltensweisen. Dieser Rückzug wird auch als Regression bezeichnet. Die Intensivmedizin ist grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt, die körperlichen Aspekte der Behandlung ganz in den Vordergrund zu stellen und die seelischen Bedürfnisse des Patienten zu vernachlässigen oder gar zu ignorieren. Dabei kann gerade beim Intensivpatienten davon ausgegangen werden, dass seine oft lebensbedrohliche Erkrankung häufig mit psychischen Störungen einhergeht, die der besonderen Aufmerksamkeit und Zuwendung durch das Pflegepersonal und die behandelnden Ärzte bedürfen. Warum nicht selten vom Personal der Intensivstation gerade die technischen Verrichtungen als bevorzugte Umgangsform mit dem Patienten gewählt werden, liegt vermutlich z. T. an der großen eigenen psychischen Belastung des Personals durch die Arbeitssituation auf der Intensivstation. Eine weitgehende Beschränkung auf technische Verrichtungen ermöglicht eine Distanzierung von den psychischen Bedürfnissen des Patienten und den teilweise als bedrohlich erlebten Behandlungssituationen der Intensivstation und bewirkt so eine gefühlsmäßige Entlastung. > Arbeit am kranken Menschen ist jedoch immer auch "Gefühlsarbeit", deren Vernachlässigung oder Verleugnung durch das Pflegepersonal und die Ärzte den Patienten zu einem bloßen Objekt erniedrigt und das Vorurteil von der "seelenlosen Apparatemedizin" verstärkt. Die schwere Erkrankungssituation des Intensivpatienten ist objektiv gekennzeichnet durch: 5 körperliche und seelische Beeinträchtigung bis hin zur akuten Lebensbedrohung, 5 Einschränkung der Bewegungsmöglichkeit und -fähigkeit (Immobilisation), 5 Verlust an Individualität und persönlicher Freiheit, 5 Unterbrechung der bisherigen zwischenmenschlichen Beziehungen, 5 einer fremden Umgebung und deren häufig unangenehmen oder schmerzhaften Maßnahmen ausgesetzt sein, 5 Eingriffe in die biologischen Rhythmen des Körpers. Auch dieser Patient kann seine Krankheit und die damit verbundene Patientenrolle innerlich nicht annehmen. Er reagiert jedoch mit Verleugnung von Ängsten und traurigen Gefühlen, gibt sich nach außen hin ruhig und zuversichtlich oder in sein Schicksal ergeben und entwickelt eine besondere Gefügigkeit gegenüber der Behandlungssituation und den Mitgliedern des Behandlungsteams. Er überspielt seine gefühlsmäßige Hilflosigkeit und täuscht das Behandlungsteam (zumeist leicht) über seine wirkliche innere Befindlichkeit und Not hinweg. Er schützt damit sich selbst und das Behandlungsteam vor seinen seelischen Konflikten und erweckt den falschen Eindruck eines "idealen Patienten", zumal er die Pflegepersonen und die Ärzte mit Lob und Anerkennung bedenkt und deren eigene Unsicherheit und Ängste verdeckt. Insgesamt verbirgt sich somit hinter der Überangepasstheit des Patienten eine geheime Ablehnung der Behandlungssituation und des Behandlungsteams, nur kann sie sich nicht offen äußern. Während zahlreiche Patienten überraschend gut mit ihrer Erkrankung "fertig werden", treten bei anderen die oben beschriebenen, reaktiven psychischen Störungen auf, durch die der Krankheits-und Behandlungsverlauf ganz erheblich beeinträchtigt werden kann. Durch Behandlungsmaßnahmen ausgelöste Störungen sind seltener, als nach dem Bild der Intensivstation in der Öffentlichkeit als einer "seelenlosen Maschinenwelt" zu erwarten wäre. Hier besteht offensichtlich eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Meinung Außenstehender und dem tatsächlichen Erleben der betroffenen Patienten. So haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass von vielen Intensivpatienten die Intensivbehandlung keineswegs als "seelisch krank machend", sondern als Sicherheit und Halt gebend empfunden wurde. Erfahrungsgemäß werden besonders folgende Faktoren als belastend angesehen: In der Regel treten diese Symptome innerhalb von sechs Monaten nach dem belastenden Ereignis oder einer Belastungsphase auf und halten mindestens einen Monat an. Sie können zu Alkohol-oder Medikamentenmissbrauch und Suizidalität führen. Die Ärzte sind im Wesentlichen den gleichen Belastungssituationen ausgesetzt wie das Pflegepersonal, jedoch gibt es einige spezifische Faktoren, die eng an ihre Rolle geknüpft sind und teilweise auch mit ihrer medizinischen Ausbildung zusammenhängen. Ärzte werden traditionell so ausgebildet, dass sich ihr Denken auf die körperliche Seite einer Erkrankung zentriert; psychische Faktoren werden sehr häufig distanzierend beiseitegeschoben. Ebenso haben viele Ärzte nicht gelernt, mit eigenen Gefühlen und seelischen Konflikten und denen von Patienten, Pflegekräften und Angehörigen angemessen umzugehen. Insbesondere sind die meisten Ärzte nicht in der Lage, die Rollenerwartung des Pflegepersonals als Leitfigur (sog. "mütterlicher Vater") des Behandlungsteams zu erfüllen. Hieraus ergeben sich sehr leicht Spannungen und Konflikte, die zu einer Belastung der Behandlungssituation führen und letztlich auf den Patienten rückwirken können. Wenig vorbereitet sind die Ärzte auch auf den Umgang mit dem sterbenden Patienten. Gewohnt, ihre anerzogene Rolle als Lebensretter zu spielen und zu erleben, verzichten sie häufig darauf, dem Patienten ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen und sind stattdessen eher geneigt, auch in völlig aussichtslosen Situationen das ganze Repertoire des intensivmedizinisch Machbaren einzusetzen, ja, sich ihm teilweise zu unterwerfen, weil sie ihre Rolle als Helfer beim Sterben des todkranken Patienten nicht akzeptieren können oder wollen und sich auch scheuen, eine klare persönliche Position zu beziehen, es vielmehr vorziehen, sich hinter formal-juristischen Argumenten zu verstecken. Die Angehörigen des Patienten können eine Belastung oder aber eine Hilfe in der Behandlungssituation sein. Insgesamt überwiegt die positive Beurteilung der Angehörigenbeziehung, sodass zumindest auf fortschrittlich eingestellten Intensivstationen großzügige Besuchsregelungen gewährt werden. Insgesamt scheint die seelische Belastung von Ärzten auf Intensivstationen geringer zu sein als die des Pflegepersonals, u. a. weil ihre Beziehungen sich auf viele Patienten erstrecken, der Kontakt nicht so eng und anhaltend ist, sie sich leichter aus der Behandlungssituation zurückziehen können, ihre Anwesenheit auf der Intensivstation zumeist von eng begrenzter Dauer ist und ihnen vielfach die Möglichkeit gegeben ist, sich durch andere Aufgaben "abzureagieren". Nach Meinung vieler Pflegender sind die meisten Ärzte nicht in der Lage, die emotionalen Belastungen des Pflegepersonals wahrzunehmen, weil es ihnen an Intuition und Einfühlungsvermögen mangele und sie gefühlsmäßig verkümmert seien. Auch seien viele Ärzte aufgrund ihrer traditionell verstandesbetonten Sicht nicht imstande, das seelische Befinden des Patienten wahrzunehmen, geschweige denn ausreichend einzuschätzen. Mögen diese Vorwürfe vielleicht ein wenig übertrieben sein, den Kern der Sache treffen sie doch, besonders, wenn man die Konfliktbewältigungsstrategien von Ärzten analysiert. z Distanzierung Ärzte auf Intensivstationen neigen dazu, ihre emotionale Beteiligung am Behandlungsgeschehen durch den Mechanismus der Distanzierung zu verdecken oder einzudämmen, um sich vor einer als bedrohlich empfundenen Gefühlsüberschwemmung zu schützen. Distanzierung manifestiert sich als betont vernünftige Sicht der Dinge, Hervorhebung der Kompetenz und geschäftsmäßig-routinierter Umgang mit dem Patienten. Viele Ärzte neigen dazu, neben zahlreichen körperlichen (auch eigentlich ärztlichen) Maßnahmen gerade die gefühlsmäßige Versorgung ("Bemutterung") der Patienten dem Pflegepersonal zu übertragen und sich ihrer Aufgabe zu entziehen, obwohl sie deren Bedeutung für das Wohl des Patienten meist durchaus anerkennen. Insbesondere jüngere und unerfahrene Ärzte auf Intensivstationen fühlen sich unsicher und leiden unter Versagensängsten, die sie sich nicht eingestehen wollen. Ein häufig eingesetzter Abwehrmechanismus ist hierbei die Projektion, d. h. das Ausstatten von Personen der Außenwelt, hier des Pflegepersonals, mit Wünschen, Gefühlen und Eigenschaften, die man bei sich selbst nicht wahrnehmen will und zur Entlastung in andere Personen hineinprojiziert. Hieraus ergeben sich oft vielfältige Spannungen Beim erwarteten Tod nach längerer Krankheit können sich die Helfer und auch die Angehörigen auf die Situation vorbereiten. Anders hingegen beim plötzlichen, unvorhersehbaren Tod, z. B. durch Unfälle, Herzinfarkt, Suizid, Sterben und Tod gehören zu den großen Tabus unserer Gesellschaft, dabei können wir dem Tod nicht entrinnen, sind vielmehr mitten im Leben von ihm umfangen. Schon der Gedanke an den Tod ist unangenehm und löst Angst aus. Über Tod und Sterben spricht man nicht, Tod betrifft die anderen, nicht mich. Der Umgang mit dem Tod ist durch Verleugnung und Verdrängung gekennzeichnet; der Tod passt nicht in unsere Gesellschaft, er ist etwas Störendes und gehört abgeschafft. Wir lernen nicht, wie man trauert, die Trauer annimmt und durchlebt, und erhalten meist nur eine kurze Frist, unseren Schmerz und unseren Zorn über den Verlust auszusprechen. Diese Verleugnung des Todes ist allgemein verbreitet und findet sich auch bei den Personen wieder, die am häufigsten damit konfrontiert werden: den Ärzten und Pflegenden auf der Intensivstation. Nicht einmal die Techniken der Gesprächsführung, die Übermittlung der Todesnachricht und der Umgang mit Trauernden werden in dieser Berufsgruppe ausreichend gelehrt und vermittelt. Dabei ist es für den angemessenen Umgang mit den Hinterbliebenen des Intensivpatienten erforderlich, den psychischen Hintergrund und den Verlauf der Trauer zu kennen und sein Verhalten danach auszurichten. Der Tod eines geliebten Menschen löst bei den Angehörigen Trauer aus. Trauer ist eine normale, in allen Kulturen vorkommende Reaktion auf den Verlust. Trauer ist keine einmalige, kurze Reaktion auf den Tod, sondern ein Prozess, Das schwere Gespräch Versuch über die Kunst des Heilens Dauerfeuer. Das verborgene Drama im Krankenhausalltag Welche Medizin wollen wir? DVA Das Helfersyndrom: Hilfe für Helfer Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung Hier bleibt dem Personal oft keine Zeit, eigene Gefühle, insbesondere des Versagens, zu verarbeiten; vielmehr müssen die Angehörigen akut auf den nahenden oder bereits eingetretenen Tod vorbereitet werden 5 Der die Todesnachricht Übermittelnde -auf der Intensivstation in der Regel der Arzt -sollte sich mutig und entschlossen auf die Gesprächssituation vorbereiten.