key: cord-0050623-7zkbhasx authors: Petersen, Thieß title: Fünf Thesen zu den zukünftigen Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik date: 2020-09-24 journal: List Forum DOI: 10.1007/s41025-020-00199-9 sha: 265ebe2d2004d9ba3b967266696958825da82600 doc_id: 50623 cord_uid: 7zkbhasx The economic policy issues of our time are becoming increasingly complex and complicated—just as are their solutions. Five challenges in particular are playing a central role for developed economies like Germany: firstly, growing criticism of international trade; secondly, increasing doubt about the reasonableness of further economic growth; thirdly, increasingly complex distributional conflicts; fourthly, diminishing political scope for policy actions by national governments; and fifthly, increased system competition between market economies and emerging markets. The corona pandemic will exacerbate numerous economic problems such as income inequality, the debts of states and companies, and growing protectionism. A central challenge for economic policy in Germany is that the conflicts of objectives are increasing while the possibilities for solutions in national policy-making are decreasing. It is becoming increasingly difficult to focus on allocation efficiency without considering issues of income and wealth distribution, environmental and climate impacts, immaterial aspects of life, etc. The development of appropriate economic policy responses to these challenges will therefore become even more demanding in the future than already being the case. The need for a theory and evidence-based economic policy that address these conflicting goals is growing. What is needed are long-term sets of measures that take into account the interactions between different policy areas. This also requires greater cooperation between different scientific disciplines and a greater variety of methods in research. Die internationale Arbeitsteilung und der damit verbundene Außenhandel folgten lange Zeit einer relativ klar vorhersehbaren Entwicklung. Sie gestalteten sich so, wie vom Heckscher-Ohlin-Modell vorhergesagt: Kapital-und technologiereiche Volkswirtschaften wie Deutschland und die USA konzentrierten sich auf die Produktion von kapital-und technologieintensiven Gütern. Arbeitsreiche Länder wie Indien und China spezialisierten sich auf Produkte, für deren Herstellung viele Arbeitskräfte benötigt werden, vor allem gering qualifizierte Personen. Das Ergebnis dieser Arbeitsteilung war und ist ein Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in allen beteiligten Ländern. Mit der Steigerung des materiellen Wohlstands verbesserten sich auch die immateriellen Lebensbedingungen wie der Gesundheitszustand, die Lebenswartung und das Bildungsniveau. Das Stolper-Samuelson-Theorem spielte in den Industrieländern lange Zeit keine besonders relevante Rolle. Auch das befürchtete Phänomen des Verelendungswachstums (Immiserizing Growth, vgl. Bhagwati 1958) blieb aus -es ist empirisch betrachtet ein "relatively rare phenomenon, at least at the end of the twentieth century" (Pryor 2007, S. 213) . Dementsprechend wurden Zölle seit dem Ende des 2. Weltkriegs weltweit massiv abgebaut, weil an den wohlfahrtssteigernden Effekten des Freihandels kein ernsthafter Zweifel bestand. Diese Entwicklungen werden jedoch seit einigen Jahren durch mindestens drei Trends abgebremst: 1. Zum einen werden die vom Stolper-Samuelson-Theorem prognostizierten negativen Einkommenseffekte für den Faktor Arbeit in den westlichen Industrieländern zunehmend spürbar. Dies haben Autor et al. (2013) Perspektivisch werden meiner Überzeugung nach zusätzlich die Konflikte zwischen Konsumenten und Produzenten an Bedeutung gewinnen und damit die Landkarte der Verteilungskonflikte zusätzlich verkomplizieren. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob sich Europa mit Antisubventionszöllen gegen subventionierte Importe aus China schützen soll. Die von der chinesischen Konkurrenz betroffenen europäischen Unternehmen (und das betrifft neben den Kapitaleigentümern auch die dort beschäftigten Personen) werden dies befürworten. Die europäischen Konsumenten profitieren jedoch von den geringeren Preisen und haben kein Interesse an einer Verteuerung der Importe. Gleiches gilt für europäische Unternehmen, die diese Importe als Vorleistungen für ihre Produktion verwenden. Eine andere Frage betrifft den Umgang mit privaten Angeboten, die auf Plattformen getauscht werden. Taxifahrer wehren sich verständlicherweise gegen die Fahrdienste von Uber, Hotels gegen die Übernachtungsangebote von Airbnb. Die Konsumenten wünschen sich hingegen mehr von diesen Angeboten, denn das bedeutet für sie ein größeres Angebot zu niedrigeren Preisen, also einen Wohlfahrtsgewinn. Die Konfliktlinien innerhalb einer entwickelten Volkswirtschaft wie Deutschland werden dadurch diffuser als, sie ohnehin schon sind. Bürger haben grundsätzlich ein hohes Interesse an Plattformangeboten und an preiswerten Importen -aber nur, wenn das nicht die Branche betrifft, in der sie ihren Job haben. Unternehmen haben prinzipiell ein hohes Interesse an offenen Gütermärkten, um ihre Produkte im Ausland verkaufen zu können und preiswerte Vorleistungen zu importieren -aber nur, wenn diese Importe keine Konkurrenz zu ihren Produkten darstellen. Für die politische Lösung dieser Verteilungs-bzw. Interessenkonflikte besteht die Gefahr, dass sich Partialinteressen durchsetzen, was mit Wohlfahrtsverlusten verbunden ist. Die politische Ökonomie nach Anthony Downs lässt erwarten, dass sich in einer Demokratie die Produzenten durchsetzen, weil sie eine kleine, überschaubare Gruppe bilden (das erschwert das Trittbrettfahrerverhalten), die viel zu verlieren hat -also besteht bei ihnen auch ein hoher Anreiz, knappe Ressourcen aufzuwenden, um politische Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen (vgl. Downs 1969, S. 62) . Damit gehen aber gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsverluste einher -die Gesellschaft verzichtet, zumindest teilweise, auf Globalisierungs-und Digitalisierungsdividenden. Widerstände gegen wohlfahrtserhöhende Veränderungen, die für einzelne Gruppen Einkommenseinbußen bedeuten, wurden in der Vergangenheit in der Regel durch finanzielle Transfers erkauft. Das wird zukünftig immer schwieriger. So gehen die staatlichen Finanzierungsmöglichkeiten langfristig demografiebedingt zurück, weil immer größere Teile der staatlichen Einnahmen für Renten, Pensionen, Pflege und K Gesundheit verwendet werden. Auch der wachsende internationale Steuerwettbewerb setzt die staatlichen Einnahmen in Deutschland unter Druck. Und wenn Austauschprozesse vermehrt über Plattformen und nicht mehr über die traditionellen Märkte durchgeführt werden, wird es immer schwieriger, diese wirtschaftlichen Aktivitäten und die aus ihnen resultierenden Einkommen angemessen zu besteuern. Schließlich sind die zusätzlichen Schulden zu berücksichtigen, die Deutschland -so wie nahezu alle Volkswirtschaften -in der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise aufnimmt und irgendwann wieder tilgen muss. Für die Wirtschaftspolitik stellt sich damit die Frage, wie sich ein Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Interessengruppen herstellen lässt, wenn der Staat perspektivisch weniger Geld für Umverteilungsmaßnahmen hat, die Verteilungskonflikte aber gleichzeitig zunehmen. Die technologischen Fortschritte im Bereich der Transport-und Kommunikationstechnologien bewirken, dass die zeitliche und räumliche Vernetzung der Regionen weltweit erheblich zugenommen hat. Dies hat zur Folge, dass uns heute auch weit entfernte Ereignisse unmittelbarer und schneller treffen als je zuvor. Die Erfahrungen der US-Immobilien-und Finanzkrise ab 2007 haben gezeigt, dass der Zusammenbruch einer Großbank im Zeitalter der Globalisierung zu ökonomischen Folgeschäden führen kann, die weltweit auftreten und dabei Milliardenbeträge erreichen. Die Corona-Pandemie ist ein weiterer Beleg für die weltweiten Abhängigkeiten -sei es in Form der unterbrochenen globalen Lieferketten oder der Exportabhängigkeit einzelner Volkswirtschaften. Generell führen Globalisierung und Digitalisierung zu einem stärkeren Zusammenwachsen der Volkswirtschaften. Fehlentwicklungen können damit in immer mehr Bereichen zu einem multilateralen oder sogar globalen Problem werden, das dann auch eine globale Lösung verlangt. Beispiel Klimawandel: Umweltverschmutzungen machen nicht an Ländergrenzen halt. Globale negative externe Effekte verlangen daher eine globale Internalisierung. Unilaterale Maßnahmen sind möglich und nötig, aber selbst wenn ein einzelnes Land eine vorbildliche Klimaschutzpolitik betreiben würde, könnte es sich nicht von den Folgen einer falschen Klimapolitik in anderen Ländern abschotten. Auch die Bekämpfung von Steueroasen verlangt ein globales Herangehen. Multinationale Unternehmen haben durch die zunehmende Digitalisierung in Kombination mit dem Abbau von Kapitalverkehrsbeschränkungen immer mehr Möglichkeiten, ihre steuerliche Belastung durch die Ausnutzung von Steueroasen zu reduzieren. Ein "Race to the Bottom" lässt sich nur international verhindern. Schließlich stellen digitale Monopole ein zunehmend globales Phänomen dar. Die Besonderheiten vieler digitaler Produkte und der mit ihnen verbundenen Plattformen haben die Tendenz, dass es vermehrt zu globalen Monopolen kommen kann. Gründe dafür sind die Kostenstruktur (hohe Fixkosten mit niedrigen Grenzkosten der Produktion), der Netzwerkgut-Charakter, der zu einem "Winner takes all"-Phänomen führen kann, und schließlich Lock-in-Effekte, mit denen der Wechsel zu einem anderen Anbieter erschwert wird. Diese drei Besonderheiten digitaler Güter könnten dazu führen, das natürliche Monopole in der Digitalökonomie zum Normalfall werden. Bei globalen Monopolen stoßen nationale Wettbewerbsbehörden jedoch schnell an ihre Grenzen (vgl. Petersen 2020, S. 95-104) . Diese globalen Vernetzungen haben erneut Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik. Die Bekämpfung des Klimawandels, die Stabilisierung der globalen Finanzmärkte, der Schutz der Umwelt und andere globale Probleme verlangen eine Stärkung der internationalen Kooperation und der Durchsetzung globaler Gesamtstrategien. Das hätte zur Folge, dass alle Staaten einzelne nationale Souveränitätsrechte an supranationale Institutionen -z. B. die EU oder die Vereinten Nationen -abtreten müssen. Eine Aufwertung der Kompetenzen von über-bzw. zwischenstaatlichen Institutionen geht jedoch unweigerlich mit einem Einfluss-und Bedeutungsverlust der Nationalstaaten einher -eine Entwicklung, die eigeninteressiert handelnde Politiker verhindern wollen. Darüber hinaus dürfte es angesichts des erwähnten Aufstiegs populistischer Tendenzen in vielen westlichen Industrieländern eine nachlassende Zustimmung zu internationalen Kooperationen geben. Neben diesen Akzeptanzproblemen gibt es auch noch ein strategisches Umsetzungsproblem: Bei globalen Lösungsansätzen gibt es für einzelne Staaten einen großen Anreiz, sich nicht an dieser Strategie zu beteiligen und sich stattdessen wie ein "Trittbrettfahrer" zu verhalten. Damit befinden wir uns in einem klassischen Gefangenen-Dilemma. Auch hier ist zu befürchten, dass die Corona-Pandemie als Katalysator wirkt: Viele Volkswirtschaften werden während dieser Pandemie erhebliche Wachstumseinbußen erleiden. Um einen raschen Wachstumsprozess zu unterstützen, ist es durchaus wahrscheinlich, dass einzelne Regierungen ihren Unternehmen mit niedrigeren Unternehmenssteuern und Umweltschutzauflagen einen internationalen Wettbewerbsvorteil verschaffen wollen, um über steigende Exporte die Beschäftigung im Inland anzukurbeln. Es stellt sich somit die Frage, wie sich der Konflikt lösen lässt, dass ein steigender Bedarf an multilateralen Lösungen auf wachsende Abschottungstendenzen der Nationalstaaten und eine Renationalisierung der Wirtschaftspolitik trifft. Zugespitzt stellt lässt sich die hieraus resultierende Herausforderung als provokante Frage formulieren: Kann Deutschland es sich erlauben, die Wettbewerbsfähigkeit des heimischen Wirtschaftsstandorts auf dem Altar der reinen Lehre zu opfern, wenn der Rest der Welt sich nicht an diese marktwirtschaftlichen Regeln hält? Eine zentrale Herausforderung für die Wirtschaftspolitik in Deutschland besteht darin, dass die Zielkonflikte zunehmen, während die Lösungsmöglichkeiten der nationalen Politikgestaltung abnehmen. Eine Fokussierung auf die Allokationseffizienz ohne eine Berücksichtigung von Fragen der Einkommens-und Vermögensverteilung, der Auswirkungen auf Umwelt und Klima, auf immaterielle Lebensaspekte etc. wird zunehmend schwieriger. Die Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik werden dadurch zukünftig anspruchsvoller. Der Bedarf an einer theorie-und evidenzbasierten Wirtschaftspolitik, die diese Zielkonflikte adressiert, nimmt zu. Gefordert sind langfristig angelegte Maßnahmenpakete, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikbereichen berücksichtigen. Das verlangt auch eine stärkere Zusammenarbeit zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und eine größere Methodenvielfalt in der Forschung. Ein Beispiel für eine solche Interdisziplinarität sind die Anfang April 2020 veröffentlichten Empfehlungen zum Umgang mit der Coronavirus-Pandemie in Deutschland (Abele-Brehm et al. 2020 ). An diesen Empfehlungen arbeiteten 14 Wissenschaftler aus den Bereichen Volkswirtschaftslehre, der Pharmakologie, der Epidemiologie und der Inneren Medizin mit. Auch nach dem Ende der Corona-Pandemie ist zu erwarten, dass diese Arbeitsweise bei der Beantwortung anderer wirtschaftspolitisch relevanter Fragen angewendet wird, z. B. bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft, dem generellen Umgang mit dem Klimawandel und dem Umgang mit den weltweit zunehmenden Migrationsbewegungen Die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie tragfähig gestalten: Empfehlungen für eine flexible, risikoadaptierte Strategie The China syndrome: local labor market effects of import competition in the United States Immiserizing growth: a geometric note Eine ökonomische Theorie des politischen Handelns in der Demokratie Overview of FTA and other trade negotiations Ökonomische Wurzeln des Populismus Immiserizing growth as seen by Bhagwati, Samuelson, and others Die 100 wertvollsten Plattformen der Welt (4/2020 Global Economic Dynamics" und Lehrbeauftragter an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder