key: cord-0049525-d7i2rr76 authors: Jentsch, Birgit; Schnock, Brigitte title: Kinder im Blick? Kindeswohl in Zeiten von Corona date: 2020-09-03 journal: Sozial Extra DOI: 10.1007/s12054-020-00315-1 sha: 516dbcd9ebed759f6f314ad7fb404a18345aff32 doc_id: 49525 cord_uid: d7i2rr76 Die Corona-Krise hat große Auswirkungen auf das Wohlergehen von Kindern sowie auf die Möglichkeiten von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, Familien im Bedarfsfall ausreichend zu unterstützen. Es häufen sich Anzeichen, dass insbesondere die Wahrnehmung von Kindeswohlgefährdung und die Gestaltung der Kommunikation und Beziehung zwischen Familie und Fachkraft erhebliche neue Herausforderungen stellen. Der Artikel beschreibt den Diskurs über diese Herausforderungen und Umsetzungsstrategien in den ersten Wochen von COVID-19. F ür schutzbedürftige Kinder ist es in Zeiten von Pandemien besonders wichtig, dass die Kontinuität ihrer Versorgung sichergestellt ist (Sistovaris et al. 2020, S. 11) . Erste Rückmeldungen der wichtigsten Akteure wie Familien, Sozialarbeiter_innen und Fachverbände deuten jedoch darauf hin, dass die relevanten Systemressourcen und -kapazitäten vor großen Herausforderungen stehen (Sistovaris et al. 2020) . Diese werden dadurch weiter verschärft, dass Pandemien die Lebenslagen von Familien sowohl direkt als auch indirekt nachteilig beeinflussen können. Die direkten Risiken bestehen in Krankheit und Tod, den damit einhergehenden Veränderungen im Familiengefüge und daraus resultierenden psychosozialen und wirtschaftlichen Belastungen (The Alliance 2019a). Zu den indirekten Auswirkungen gehört die Zunahme von Existenzängsten und Konflikten in den Familien (Kelly und Hansel 2020; Sistovaris et al. 2020; The Alliance 2019a , 2019b . Familien in prekären Lebenssituationen gelten als besonders gefordert, gefährdet und auf professionelle Unterstützung der Kinder-und Jugendhilfe angewiesen (The Alliance 2019b). In Großbritannien gab es schon früh aussagekräftige Zahlen zum Risiko familialer Gewalt in Zeiten von Corona: In den ersten Wochen nach der Ausgangssperre wurden mindestens 16 Frauen und Kinder zu Hause getötet, fünf sind es in ‚normalen' Zeiten (Smith 2020) . In Deutschland lieferte die 6. Welle des COVID-19-Snapshot-Monitorings Anfang April 2020 frühe Ergebnisse zur Entwicklung häuslicher Gewalt: Selbst-Quarantäne, Gefühle von Niedergeschlagenheit und Sorge um den Arbeitsplatz erhöht die Wahrscheinlichkeit von (auch körperlichen) Konflikten in Ehe und Partnerschaft zum Teil ganz erheblich (Betsch et al. 2020; vgl. auch Steinert und Ebert 2020) . Ansonsten waren es in den ersten Wochen der Kontaktbeschränkungen vor allem Indikatoren, auf denen in Deutschland die Annahme eines erhöhten Risikos für Kindeswohlgefährdung gründete, wie die Zunahme der Beratungen am Elterntelefon "Nummer gegen Kum-mer" und der Chatberatung für Kinder und Jugendliche (BMFSFJ 2020) . Allerdings wurde zu diesem Zeitpunkt auch auf erste Rückmeldungen von Beratungsstellen verwiesen, denenzufolge die Zahl der Mitteilungen wegen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung eher rückläufig sind (Der Tagesspiegel 2020; vgl. international auch Smith 2020; NGA 2020) . Dies zeigte auch eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung und des WDR bei deutschen Jugendämtern (Hell et al. 2020) . Die medizinische Kinderschutzhotline für Angehörige von Gesundheitsberufen dagegen vermeldete für die ersten beiden Mai-Wochen einen drastischen Anstieg an Anrufen, die sich auf 50 zum Teil schwere Verdachtsfälle bezog und damit auf fast so viele Fälle wie im gesamten April. Betroffen seien besonders Kleinstkinder (Der Tagesspiegel 2020) . (Hell et al. 2020) . Da für wichtige Akteur_innen im Kinderschutz (z. B. Lehrer_innen und Erzieher_innen) unter den Bedingungen von Distanzgeboten ein regelmäßiger Kontakt zu den Kindern kaum mehr möglich ist, wurde eine Vielzahl von Maßnahmen und Strategien entwickelt, mit denen die breite Öffentlichkeit proaktiv in den Schutz des Kindeswohl einbezogen, und belastete oder unter Druck geratene Familien erreicht werden sollen: Über Internetseiten, Flyer, Infomails und WhatsApp-Nachrichten an Adressat_innen werden Zugänge zu Hilfeund Beratungsangeboten offensiv beworben; teilweise sind Informationen gezielt an Nachbarschaft, Verwandte und Bekannte von Familien sowie an Fachkräfte im Gesundheitswesen gerichtet, wie sie Familien bei der Suche nach Hilfe unterstützen und bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung vorgehen können. Auf internationaler Ebene empfiehlt The Alliance (2020), Akteure zum Schutz des Kindeswohls zu involvieren, die trotz Abstandsgeboten Kontakt zu Kindern haben können, wie z. B. Apotheker_innen und Einzelhändler_innen (The Alliance 2020 S. 3). Apotheken in Spanien, Frankreich und Großbritannien unterstützen Opfer häuslicher Gewalt, die im Lockdown nicht in der Lage sind, zu Hause in Gegenwart des Täters Hilfe zu suchen (Elks und Davies 2020; Grierson 2020) . In Deutschland wurde vom Bundesministerium die Initiative "Stärker als Gewalt" ins Leben gerufen, in deren Rahmen Supermärkte mithilfe von Plakaten im Geschäftsbereich und auf der Rückseite von Kassenzetteln über Hilfeangebote bei häuslicher Gewalt informieren. Der Tenor in einer Vielzahl von Stellungnahmen ist von Beginn der Kontaktbeschränkungen an: Persönliche Kontakte, gerade im Rahmen der aufsuchenden Arbeit im Kinderschutz, müssen auch unter den Krisenbedingungen von Corona weiterhin gepflegt und sogar ausgebaut werden. Als eine der größten Herausforderungen stellt sich hierbei dar, innovative -und gerade auch Sozial Extra digitale -Wege zu finden, um junge Menschen und Familien zu unterstützen und zu begleiten (Bundesjugendkuratorium 2020). Erfahrungsberichte aus der Praxis zeigen allerdings auf, dass es im telefonischen Kontakt deutlich erschwert sein kann, Beziehung aufzubauen, weil nonverbale Hinweise, Blicke und Augenkontakt fehlen (Community Care 2020). Auch bei diagnostischen Fragestellungen oder akuter Krisenintervention stößt Online-und telefonische Beratung an Grenzen (Reindl und Engelhardt 2020) . Ein Vorteil von Video-gegenüber Telefonkontakten ist die Möglichkeit, Sicherheit und Wohlbefinden der Familie besser einschätzen und interpersonelle Signale geben und verstehen zu können (Waters et al. 2020) . Besondere Herausforderungen bestehen allerdings, wenn es darum geht, mit (Klein-)Kindern digital in Kontakt zu treten, oder mit Kindern und Eltern mit eingeschränkter Aufmerksamkeitsspanne oder mit verminderter Intelligenz (Reindl und Engelhardt 2020) . Einer qualitativen Ad-hoc-Befragung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) zufolge betreuen in Zeiten der Pandemie mehr als die Hälfte der Familienhebammen und Familienkrankenschwestern Schwangere und Eltern telefonisch, knapp ein Sechstel der Fachkräfte bleibt per E-Mail, Videotelefonie oder Messengerdienst mit den Familien in Kontakt. Eine intensive Begleitung der Familien, wie sie in der aktuellen Krisensituation notwendig wäre, ist aus der Sicht der Fachkräfte allerdings nicht möglich (NZFH 2020). Dem Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft (2020) Face-to-face-Kontakte mit Familien stellen einen integralen Bestandteil der Sozialarbeit im Kinderschutz dar, z. B. bei Hausbesuchen, bei Beratungs-und Hilfeplangesprächen. Diese persönlichen Begegnungen werden zumindest in ausgewählten Fällen auch während einer Pandemie fortgeführt. Manche Fachkräfte haben sich während der Corona-Krise, z. B. bei Bestehen eines Schutzplans, mit Familien getroffen. Gebotene Abstände und Hygieneschutzregeln wurden dabei gewahrt und neue bzw. variierte Settings genutzt, wie z. B. Treffen im Freien (Berrischen 2020) . Verunsicherungen der Eltern, inwieweit sie in Zeiten der Kontaktbeschränkung eine persönliche Begegnung mit Fachkräften zulassen können, wurden in der Praxis z. B. mit einem Elternbrief begegnet, der darauf abzielt, diese Ängste aufzugreifen und zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen (Forum Transfer o.J.). Allerdings kann die elterliche Formulierung von Angst vor einer Ansteckung insbesondere bei unfreiwilligen Klientinnen und Klienten auch ein Vorwand sein um einen persönlichen Kontakt zu verhindern (DIJuF 2020). Was den Schutz von Fachkräften betrifft, ziehen manche Jugendämter bei Verdacht auf eine Corona-Infektion bei Klient_innen einen Verzicht auf Hausbesuche vor, zugunsten einer Unterstützung per Telefon, E-Mail oder Videochat (Forum Transfer o.J.). Ein privater Träger in England empfiehlt seinen Fachkräften, vor der Entscheidung für ein Face-to-face-Treffen einen Fragebogen durchzugehen. Dieser geht auch auf den Schutz von Risikogruppen ein (ob Klient_innen oder Fachkraft Vorerkrankungen haben oder über 70 Jahre alt sind), sowie auf Risiken bei der Anfahrt zu den Familien, z. B. mit öffentlichen Verkehrsmitteln (WillisPalmer 2020). Darüber hinaus verweist die International Federation of Social Workers (IFSW) auf ihre ethischen Grundsätze, wonach Sozialarbeiter_innen nicht zu einer gesundheitsgefährdenden Arbeit gezwungen werden können (Wehrmann 2020, S. 4) . Gleichzeitig wird auf Vorsichtsmaßnahmen der WHO hingewiesen, wie man sich vor dem Virus schützen kann. Die IFSW fordert dabei, dass aufsuchende Sozialarbeit ausreichend mit Schutzkleidung versorgt wird, inklusive geeigneter Masken und Handschuhe (Wehrmann 2020) . Ähnliche Forderungen stellen deutsche Verbände und Gewerkschaften: In der Phase der akuten Krisenbewältigung seien in Deutschland zunächst die Bedarfe in Gesundheitswesen und Pflege priorisiert worden, andere systemrelevante Akteure seien im Hintergrund geblieben. Diese benötigten nun auch dringend finanzielle und materielle Unterstützung (Der Paritätische Gesamtverband 2020). Die AGJ (2020, S. 3) berichtet jedoch von offenen Fragen bezüglich nicht vorhandener Schutzkleidung bei notwendigen Hausbesuchen. Dies fügt sich in den internationalen Diskurs ein, in dem wiederholt erwähnt wird, wie Sozialarbeiter_innen wegen Mangel an Schutzkleidung selbst kreativ werden müssen. So hat eine Ausschussvorsitzende der International Association of Schools of Social Work (IASSW) eine Liste von improvisierten Schutzkleidungsartikel erstellt, die wegen mangelnder Alternativen genutzt werden müssen (z. B. Ski-anstelle von Schutzbrillen; Müllsäcke anstelle von Overalls) (Dominelli 2020, S. 7 Wenn Kümmerer*innen selbst Hilfe brauchen… Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Kinder-und Jugendhilfe Kinder-und Jugendhilfereport 2018 Familienberatung im Rhein-Kreis: Beratungsstellen trotz Corona erreichbar. NGZ online, 02.04 Welle 6 Ergebnisse aus dem wiederholten querschnittlichen Monitoring von Wissen, Risikowahrnehmung, Schutzverhalten und Vertrauen während des aktuellen COVID-19 Ausbruchsgeschehens Schutz von Kindern und Jugendlichen vor häuslicher Gewalt. Ministerin Giffey stimmt sich mit Ländern über Maßnahmen in der Corona-Krise ab Vormundschaft in Zeiten der Corona-Krise. Hinweise aus der Praxis für die Praxis Unterstützung von jungen Menschen in Zeiten von Corona gestalten! Kinder-und Sonderinformationen zum mobilen Arbeiten mit Privatgeräten zur Bewältigung der Corona-Pandemie Social work diary: ‵I miss the non-verbal cues, the looks and the eye-contact Bonus für soziale Arbeit während Corona-Krise: Paritätischer fordert Steuerabzug für alle Beschäftigten in sozialen Diensten in Höhe von 500 Euro Mediziner berichten von massiver Gewalt gegen Kinder Stellungnahme zur Notwendigkeit der Notbetreuung von psychisch kranken Kindern und Kindern von psychisch kranken Eltern in Kindertagesstätten und Schulen während der Coronakrise Was Kinderschutz in der gegenwärtigen Krise bedeutet und braucht Wie ist damit umzugehen, wenn eine Familie einen im Rahmen einer (möglichen) Kindeswohlgefährdung notwendigen Hausbesuch mit Verweis auf die Infektionsgefahr verweigert? Surviving Covid-19: social work issues in a global pandemic (child protection and welfare, social care). : Stirling University Coronavirus codewords: help or hindrance in domestic abuse? Thomas Reuters Foundation News What COVID-19 means for America's child welfare system Handreichung. Krisenberatung am Telefon und per Video in Zeiten von Corona Innovative Kinder-und Jugendhilfe in Zeiten von Corona (o. J.) Boots to provide help for domestic abuse victims. The Guardian Häusliche Gewalt in der Corona-Krise Covid-19 and early intervention: Evidence, challenges and risks relating to virtual and digital delivery Befragung von Gesundheitsfachkräften zu den Veränderungen durch Corona Handlungsempfehlungen zur kurzfristigen Umsetzung von Onlineberatung vor dem Hintergrund der Corona-Krise BASW makes fresh plea for PPE as social worker dies from Covid-19. Children & Young People Now Child welfare and pandemics. Toronto: Policy Bench Coronavirus doesn't cause men's violence against women Minimum Standards for Child Protection in Humanitarian Action. The Alliance for Child Protection in Humanitarian Action, Minimum Standards for Child Protection in Humanitarian Action End Violence Against Children, UNICEF, WHO, COVID-19: Protecting Children from Violence, Abuse and Neglect in the Home. Version 1 Virtual Case Management Considerations and Resources for Human Services, US Department of Health & Human Services Ethical decision-making in the face of COVID-19. International Federation of Social Workers (IFSW)