key: cord-0047056-bvw5bz32 authors: Träger, Hendrik title: Die Linke zwischen internen Konflikten, der ersten Koalition im Westen, Niederlagen im Osten und dem Ramelow-Effekt date: 2020-07-07 journal: Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017 DOI: 10.1007/978-3-658-29771-8_6 sha: 36c60e43e89bb28811a9a551a700d2fbf43683a7 doc_id: 47056 cord_uid: bvw5bz32 Die Linke ist mit mehreren Herausforderungen konfrontiert: In Ostdeutschland als ihrer klassischen Hochburg verliert die Partei sowohl Mitglieder als auch Wählerstimmen, während im Westen Gewinne zu verbuchen sind, sodass sich (langfristig) die innerparteilichen Kräfteverhältnisse verschieben. Außerdem diskutiert Die Linke über den Umgang mit der AfD als neuer Konkurrenz um Protestwähler und die Ausrichtung ihrer Migrationspolitik. Diese und andere Aspekte der Entwicklung seit der Bundestagswahl 2017 greift das Kapitel auf. Jahre zuvor respektive -die PDS mitberücksichtigend -den zweitniedrigsten Wert ihrer Geschichte gerutscht. Außerdem hatte Sahra Wagenknecht (zit. nach Fried 2019a, S. 5) 1 im März 2019 bekannt bekanntgegeben, im Herbst nicht wieder für das Amt der Bundestagsfraktionsvorsitzenden zu kandidieren, und ihre Entscheidung mit den gesundheitlichen Problemen als "eine[r] direkte[n] Folge des extremen Stresses, den ich in den letzten Jahren hatte", begründet. In diesem Statement spiegeln sich die teilweise heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem auch in den eigenen Reihen umstrittenen "Star der Partei" (Küpper 2016, S. 4) und großen Teilen der Linken wider. Sowohl diese Personalentscheidung als auch die skizzierten Wahlergebnisse sind wichtige Wegmarken bei der Entwicklung der Linken seit der Bundestagswahl am 24. September 2017. Mit diesen Punkten und weiteren Aspekten beschäftigt sich der vorliegende Beitrag und knüpft damit an die ähnlich konzipierten Analysen von Gero Neugebauer und Richard Stöss seit der Bundestagswahl 1998 an (vgl. Neugebauer 2011 Neugebauer und Stöss 1999 , 2003 , 2007 . Besonders relevant sind hier die Studien seit 2005, bei denen zunächst das Wahlbündnis Linkspartei(.PDS) und danach Die Linke im Mittelpunkt standen. Um die einschlägigen Studien mit der folgenden Analyse zu verknüpfen, werden zunächst wichtige Befunde von Neugebauer und Stöss aufgegriffen und auf dieser Grundlage Leitfragen generiert: • Anlässlich der Bundestagswahl 2005 konstatierten Neugebauer und Stöss (2007, S. 162) , dass "die Partei (…) von einer Mehrheit ihrer Wähler als Mittel zum Protest genutzt wurde." Acht Jahre später beobachteten die Autoren "eine gewisse Attraktivität auf ethnozentrisch gesinntes Protestpotenzial" (Neugebauer und Stöss 2015, S. 164 Die Diskussionen über die Positionen in der Flüchtlings-und Asylpolitik resultierten insbesondere aus den deutlichen Verlusten der Linken bei einigen Landtagswahlen und dem gleichzeitigen Aufstieg der AfD. Die Rechtspopulisten erhielten in großem Umfang Stimmen von ehemaligen Wählerinnen und Wählern der Linken und entwickelten sich damit zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz um Protestwählerinnen und -wähler (vgl. Träger 2018b, S. 4 f.) . Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass Die Linke 2016 in Mecklenburg-Vorpommern "ihr historisch schwächstes Ergebnis" (Koschkar & Nestler 2017, S. 39) verbuchen musste und bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl "in einigen Stadtrandbereichen von der AfD überholt" (Niedermayer 2017a, S. 48) wurde. Ein halbes Jahr später war sie im Saarland "[n]eben den Piraten (…) die größte Verliererin der Wahl" (Winkler 2018, S. 48) . Zur elektoralen Bilanz der Linken in den vier Jahren der 18. Legislaturperiode des Bundestages (2013-2017) gehören aber auch einige Erfolge: In Brandenburg konnte 2014 die rot-rote Koalition trotz deutlicher Verluste der Regierungsparteien fortgesetzt werden (vgl. Niedermayer 2015) . In Thüringen wurde mit Bodo Ramelow erstmals ein Politiker der Linken zum Ministerpräsidenten eines Bundeslandes gewählt; mit Rot-Rot-Grün gab es ein neues Koalitionsmodell in Deutschland (vgl. Oppelland 2015; Oppelland und Träger 2016) . Nach der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2016 verständigten sich SPD, Linke und Grüne auf ein gemeinsames Bündnis, sodass Die Linke zum ersten Mal in ihrer Geschichte gleichzeitig an drei Landesregierungen beteiligt war. In den westdeutschen Bundesländern konnte die Partei -mit Ausnahme des Saarlandes (2017) -ihren Stimmenanteil entweder stabil halten oder ausbauen, schaffte es aber nur in Hessen, den beiden Stadtstaaten und dem Saarland in das Landesparlament. Im Mai 2017 scheiterte sie in Nordrhein-Westfalen -trotz ihrer "Erfolge in den Großstädten" (Bajohr 2017, S. 626) -mit 4,9 % äußerst knapp an der Fünf-Prozent-Hürde und spielte vor der schleswig-holsteinischen Wahl "in der landespolitischen Auseinandersetzung kaum eine Rolle" (Knelangen 2017, S. 581) . Die anhaltenden Differenzen zwischen Ost und West spiegeln sich nicht nur in den Wahlergebnissen, sondern auch bei den Mitgliedern wider: Bundesweit schwankte die Rekrutierungsfähigkeit der Linken in den Jahren vor der Bundestagswahl 2017 zwischen 0,08 und 0,09 %; der Partei gehörten also acht oder neun von 10.000 parteibeitrittsberechtigten Personen an. In den neuen Ländern entwickelte sich der Wert rückläufig, war aber mit 0,24 bis 0,28 % immer noch um ein Vielfaches höher als im Westen (Abb. 1). Obgleich Die Linke also weiterhin in Ostdeutschland wesentlich stärker verankert ist, sprach Tim Spier (2016, S. 201) zurecht nicht mehr von "einer reinen ‚Regionalpartei Ost' (…) sondern vielmehr von einer bundesweiten Partei mit Hochburgen in Ostdeutschland." Mit Blick auf die Mitglieder der Linken ist wichtig, dass 2017 ungefähr zwei Drittel Männer waren und knapp ein Sechstel jünger als 35 Jahre alt war. Der letzte Wert hatte sich seit 2009 mehr als verdoppelt. Die Linke hatte inzwischen "proportional die meisten jungen Mitglieder" (Klein et al. 2019, S. 87) . Gleichwohl waren die Rentnerinnen und Rentner, die mehr als die Hälfte der Mitglieder stellten, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überproportional vertreten. Gleiches ist bei Menschen mit einem (Fach-)Hochschulabschluss, Auszubildenden respektive Studierenden sowie Arbeitslosen zu beobachten. Das Gegenteil traf auf Vollerwerbstätige sowie auf Menschen mit Hauptschulabschluss und mittlerer Reife zu (vgl. ebd., S. 89 f.). Mit 34 % ist "der Anteil derjenigen, die sich der Unterschicht oder der unteren Mittelschicht zugehörig fühlten, (…) deutlich höher als bei allen anderen Parteien, aber auch höher als in der Bevölkerung insgesamt" (ebd., S. 94). Das spiegelt sich letztlich auch im Wahlprogramm wider (s. u.). Obgleich Die Linke die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag war, konnte sie nicht von der Schwäche der Regierungsparteien profitieren, wie angesichts ausgewählter ‚Sonntagsfragen' für den ARD-DeutschlandTrend und das ZDF-Politbarometer deutlich wird: Seit Herbst 2013 verharrten die Werte mit acht bis zehn Prozent auf dem Niveau des letzten Wahlergebnisses (8,9 %). Auch in der Zeit, als intensiv über die Asyl-und Integrationspolitik der Bundesregierung diskutiert wurde, gab es keine spürbaren Veränderungen. Selbst der Achtungserfolg ihres Kandidaten Christoph Butterwegge bei der Bundespräsidentenwahl im Februar 2017 2 wirkte sich für Die Linke nicht positiv aus. Im Frühjahr 2017 rutschte die Partei zeitweise sogar auf sechs beziehungsweise sieben Prozent ab, was vor allem mit dem kurzzeitigen Schulz-Hype bei der SPD erklärt werden kann. Bis zur Bundestagwahl kamen die Linkssozialisten nicht über neun Prozent hinaus (Abb. 2). Die Ausgangssituation vor dem Urnengang war also keineswegs optimal, denn eine rechnerische Mehrheit für eine Abb. 1 Rekrutierungsfähigkeit der Linken in den Jahren 2013 bis 2017 (in Prozent). Lesebeispiel: Im Jahr 2013 gehörten 0,09 % aller Parteibeitrittsberechtigten der Linken an. (Quelle: Eigene Darstellung nach Daten von Oskar Niedermayer 2016 , 2017b rot-rot-grüne Koalition als einzige Machtoption der Linken war -mit Ausnahme weniger Umfragen im Frühjahr 2017 -unrealistisch. Das wirkte sich auch auf den Wahlkampf aus, in dem die Partei "nur noch eine untergeordnete Rolle" (Hilmer und Gagné 2018, S. 383) spielte. In Dieser Passus und die gesamte Konstruktion des Personaltableaus machen zum einen die Dominanz der Fraktion bei der öffentlichen Wahrnehmung der Linken und zum anderen die angespannte Beziehung zwischen den beteiligten Akteuren, wegen der offenbar eine schriftliche Fixierung der Zuständigkeiten erforderlich war, deutlich. Das sind ungünstige Voraussetzungen für einen harmonischen Wahlkampf aus einem Guss. Auch die Aufstellung der einzelnen Landeslisten war umkämpft undeiner Untersuchung des Berliner Instituts für Parlamentarismusforschung (Schüttemeyer und Höhne 2019, S. 30) zufolge -für "39,0 Prozent der befragten Linke-Mitglieder (…) eher nicht (32,2 Prozent) bzw. gar nicht vorhersehbar (6,8 Prozent)". Im Durchschnitt bewarben sich 2,3 Personen für einen Listenplatz; nur in der AfD und bei Bündnis 90/Die Grünen waren es noch mehr (vgl. ebd., S. 18). Ob dieser hohe Wert auf ein großes Interesse an einer politischen Karriere im Bundestag oder auf intensive Duelle um die sicheren Listenplätzen zurückzuführen ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. Im Juni 2017 verabschiedete Die Linke auf einem Parteitag ihr Wahlprogramm. In dessen Präambel bezeichnete die Partei den bevorstehenden Urnengang als "eine Richtungsentscheidung" (Die Linke 2017, S. 7), bei der es um "ein sozialeres, nachhaltigeres Land, ein gerechtes Europa und eine friedlichere Welt" (ebd.) gehe. Angesichts der oben skizzierten sozioökonomischen Struktur der Mitglieder war es zu erwarten, dass sich die Linkssozialisten hauptsächlich für sozialpolitische Projekte wie eine Erhöhung des Mindestlohnes auf zwölf Euro, die Ablösung von Hartz IV durch "eine bedarfsdeckende und sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von 1050 EUR" (ebd., S. 10), die Einführung einer solidarischen Mindestrente (1.050,-EUR), eine Vermögensteuer, und eine solidarische Gesundheitsversicherung einsetzten. Eine sofortige, steuerfinanzierte Angleichung der Renten in Ostdeutschland an das Niveau im Westen, das Ende von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, das Verbot von Rüstungsexporten und eine Auflösung der NATO waren weitere bereits in früheren Programmen artikulierte Positionen. Mit der Bekämpfung von Fluchtursachen und der Integrationspolitik beschäftigte sich Die Linke (2017, S. 64-67, S. 97 f.) in vergleichsweise kurzen Abschnitten ihres Programmes, was angesichts der politischen Brisanz des Themas seit dem Spätsommer 2015 verwundert. Das lässt sich auch mit den innerparteilichen Differenzen hinsichtlich dieses Politikfeldes erklären. Sowohl die inhaltlichen Positionen in der Außen-und Sicherheitspolitik als auch despektierliche Äußerungen der Spitzenkandidatin à la "Raute oder Zottelbart im Kanzleramt" (Wagenknecht 2017 ) mit Blick auf Angela Merkel und Martin Schulz sorgten dafür, dass der Parteitag "der letzte Sargnagel im rot-rot-grünen Projekt" wurde, wie Richard Hilmer und Jérémie Gagné (2018, S. 383) konstatieren. Eine Koalition aus SPD, Linken und Bündnis 90/Die Grünen wurde -einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen (2017, S. 27) zufolge -ohnehin als die schlechteste aller möglichen Kombinationen beurteilt. Die gleiche Erhebung ergab, dass das Ansehen der Linken in der Bevölkerung seit 2013 deutlich gestiegen, aber immer "noch mäßig negativ" (ebd., S. 22) war. Bei den Spitzenkandidaten rangierte Wagenknecht -Bartsch wurde nicht berücksichtigt -leicht im positiven Bereich. Allerdings wurde ihr Wert bei allen Befragten nur von jenem für Alexander Gauland (AfD) unterboten. Auch die eigene Anhängerschaft stand ihr im Vergleich zu den Kombinationen bei den anderen Parteien reserviert gegenüber (vgl. ebd., S. 32). Hinsichtlich der zugewiesenen Kompetenz lag Die Linke in allen Politikfeldern mit großem Abstand auf dem dritten oder vierten Platz. Lediglich bei der sozialen Gerechtigkeit kam sie mit 15 % relativ nah an die Unionsparteien (21 %) heran, hatte aber weiterhin großen Abstand zur SPD (34 %). Programmatisch konnte die Partei also trotz eines Wahlkampfes mit starker "Policyzentrierung" (Fitzpatrick 2018, S. 607) nicht überzeugen. Ein erstaunliches Ergebnis der Vorwahlbefragung ist angesichts einer dezidierten "Abgrenzung zur amtierenden Kanzlerin" (Fitzpatrick 2018, S. 617) im Online-Wahlkampf, dass 74 % der Anhängerschaft der Linken Angela Merkel gute Arbeit attestierten; dieser Wert lag sogar knapp über dem Durchschnitt aller Parteien (vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2017, S. 29). Wenn große Teile der Anhängerschaft der größten Oppositionspartei die Kanzlerin so positiv beurteilen, dann zeugt das davon, dass es der Linken nicht einmal im eigenen Lager gelang, sich als ‚Regierung im Wartestand' zu präsentieren. Das sind ungünstige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wahlkampf. Vor diesem Hintergrund ist es fast überraschend, dass Die Linke bei der Bundestagswahl 2017 ihren Zweitstimmenanteil von 8,6 auf 9,2 % leicht ausbauen und damit das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte verbuchen konnte. Vor allem aufgrund der deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung verzeichnete die Partei ein Plus von mehr als einer halben Million Wählerinnen und Wählern. Auch bei den gewonnenen Direktmandaten konnte sich die Partei von vier auf fünf geringfügig verbessern, ohne jedoch auch nur ansatzweise in die Nähe des Rekordwertes von 16 erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerbern im Jahr 2009 zu kommen. Trotz des Stimmenzuwachses verlor Die Linke ihre Position als drittstärkste Partei an die AfD und wurde sogar noch von der FDP überholt, sodass sie nunmehr -abermals knapp vor Bündnis 90/Die Grünen -lediglich fünfstärkste Fraktion im Bundestag ist und den Status als Oppositionsführerin verlor. Aufgrund der Mandatsverteilung im Parlament war ein rot-rot-grünes Bündnis nicht einmal mehr eine rechnerisch mögliche Option. Infolgedessen spielte Die Linke ebenso wie die AfD keine Rolle bei der Regierungsbildung und ist nur noch eine von vier Oppositionsfraktionen. Das wirkt sich negativ auf das mediale und öffentliche Interesse an der parlamentarischen Arbeit der Linken aus; es besteht gewissermaßen ein "Aufmerksamkeitsdefizit" (Lang 2018, S. 56) . Mit Blick auf die regionale Verteilung der Zweitstimmen lässt sich konstatieren, dass Die Linke keineswegs mehr die "ostdeutsche Regionalpartei mit seltenen Erfolgen im Westen" (Träger 2015, S. 68 ; ausführlicher: Oppelland und Träger 2014) wie früher ist. Zwar bilden weiterhin die neuen Länder und Berlin "eine geschlossene Gruppe mit den höchsten Zweitstimmenanteilen" (Träger 2018a, S. 299) ; aber in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie in den östlichen Bezirken der Hauptstadt verlor Die Linke sowohl in absoluten Zahlen als auch hinsichtlich des Stimmenanteils erheblich an Wählerinnen und Wählern. Demgegenüber sind für alle westdeutschen Länder Zuwächse zwischen 1,3 und 3,4 Prozentpunkten zu verzeichnen (Tab. 1). Der insgesamt höhere Zweitstimmenanteil ist also ausschließlich auf die größere Unterstützung im Westen zurückzuführen. Dieser Befund ist für eine Partei, die ihre Hochburgen traditionell in Ostdeutschland hat, ein Alarmsignal, denn frühere Wählergruppen gehen verloren. Das resultiert vor allem daraus, dass Die Linke ihren "Status als erste Adresse der Protestwähler" (Lang 2018, S. 5) einbüßte und infolgedessen "ein stetiger Transfer von der Linken zur AfD" (ebd., S. 15) stattfand. Diese auf den ersten Blick kurios wirkenden Wählerwanderungen erklärt Eckhard Jesse (2018, S. 241) so: In diesem Zusammenhang warfen Wagenknecht und der Dramaturg Bernd Stegemann im Juni 2018 der Linken "Doppelmoral" (Stegemann und Wagenknecht 2018) vor, denn sie blende "offensichtliche Zusammenhänge aus, wenn sie ihr eigenes gutes Gefühl in einer Willkommenskultur pflegt, um dann die realen Verteilungskämpfe in ein Milieu zu verbannen, das sich weit weg vom eigenen Leben befindet." Durch diese öffentliche Kritik erhielt der unmittelbar bevorstehende Bundesparteitag besondere Brisanz. Dort wurde ein Leitantrag des Parteivorstandes, in dem unter anderem "sichere, legale Fluchtwege, offene Grenzen und ein menschenwürdiges System der Aufnahme von Geflüchteten und ein Lastenausgleich in Europa" sowie "eine Initiative zur Legalisierung von illegalisierten Menschen" (Die Linke 2018) gefordert wurden, diskutiert. Letztlich stimmten die Delegierten mit großer Mehrheit der Vorlage zu, nachdem diese um einen Passus hinsichtlich der dezidierten Ablehnung von Abschiebungen ergänzt worden ist. Die Linke bleibt also bei ihren Positionen in der Asyl-und Flüchtlingspolitik und ist damit "das Kontrastprogramm zur AfD", wie es Katja Kipping (2018b) ausdrückte. Im weiteren Verlauf des Parteitages kritisierte Wagenknecht (2018a) den innerparteilichen Umgang mit ihr und verlangte "eine solidarische Diskussion". Anschließend debattierten die Delegierten -abweichend von der Tagesordnungeine Stunde lang über die Rede der Fraktionsvorsitzenden. Kritische Stimmen warfen ihrer Genossin vor, "keine Debatten zuzulassen und die Positionen der Partei zu ignorieren" (WAZ 2018). Neben der inhaltlichen Ausrichtung gab es mit der im August 2018 gegründeten Sammlungsbewegung aufstehen einen weiteren Konfliktpunkt innerhalb der Linken. Auch hier spielte Sahra Wagenknecht (2018b, S. 31) die zentrale Rolle, denn sie dachte bereits wenige Monate nach der Bundestagswahl 2017 über "eine starke linke Volkspartei" nach. Ein solches Projekt funktioniere allerdings nur, "wenn prominente Persönlichkeiten mitmachen, die den Menschen die Hoffnung zurückgeben, dass sich politisch etwas in ihrem Sinne bewegt" (ebd. Die Sammlungsbewegung wurde seitens der Linken kritisiert. Der Parteivorsitzende Bernd Riexinger (zit. nach Abé und Lehmann 2018, S. 43) verwies darauf, dass aufstehen nicht mehr als "140000 Klicks" sei. Katja Kipping (zit. nach ebd.) erklärte, man könne "nicht aus einer Ehe heraus die nächste Hochzeit planen." Dietmar Bartsch (zit. nach FAZ 2018) gab zu bedenken, "dass Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht nicht zwingend für die Zusammenführung von Linken stehen." Benjamin Hoff (zit. ebd.), der die Thüringer Staatskanzlei leitet und dem Reformerlager zuordnet werden kann, bezeichnete die Sammlungsbewegung als "antiaufklärerisch". 6 In den folgenden Monaten kam Sahra Wagenknecht immer mehr in die "Bredouille" (Decker 2018, S. 2) . Dem Projekt aufstehen war letztlich kein öffentlich wahrnehmbarer Erfolg beschieden; die Sammlungsbewegung "war viel Sammlung, aber wenig Bewegung" (Fried 2019b, S. 4) . Zeitweise wurde in der Bundestagsfraktion offen über einen Sturz der Vorsitzenden diskutiert. Dazu kam es allerdings nicht, denn auch Vertreterinnen und Vertreter des Reformerlagers hielten es "für gefährlich, Wagenknecht abzuwählen" (Abé und Hagen 2018, S. 38) . Im Januar 2019 legten die stellvertretende Parteivorsitzende Janine Wissler, die auch die hessische Landtagsfraktion leitet, und der Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Jan Korte, eine "Strategie gegen die weitere Rechtsverschiebung und gegen die weitere Erosion der Demokratie" (Wissler und Korte 2019) vor. Das Papier, in dem es unter anderem um den Umgang mit der AfD und die damit verbundenen Herausforderungen für Die Linke geht, wurde "als machtpolitische Kampfansage" (Abé und Hagen 2019, S. 35) wahrgenommen. Zwei Monate später kündigte Sahra Wagenknecht (zit. nach Fried 2019a, S. 5) an, nicht wieder für das Amt der Fraktionsvorsitzenden zu kandidieren, und begründete ihre Entscheidung mit gesundheitlichen Problemen als "eine[r] direkte[n] Folge des extremen Stresses, den ich in den letzten Jahren hatte." Welche Folgen sich durch diesen Rückzug für aufstehen ergeben, wird sich zeigen. Bernd Stegemann (2019, S. 120), der als Vorstand des Trägervereins der Sammlungsbewegung fungiert, gab sich zuversichtlich und sagte: "Wagenknecht ist ja nicht weg, sie hat sich nur aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen." Auch für ihre Partei und Fraktion wird die Entscheidung von Wagenknecht, so umstritten sie in den eigenen Reihen ist, nicht folgenlos bleiben, denn sie ist eine der wenigen "Reizfiguren, um überhaupt noch Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen" (Fried 2019b, S. 4) . Als Nachfolgerin wählte die Bundestagsfraktion im November 2019 die weitgehend unbekannte Abgeordnete Amira Mohamed Ali. Diese Personalentscheidung hatte letztlich "weniger mit der Strahlkraft der Frau aus Niedersachsen zu tun als mit den Machtverhältnissen in der seit langem zerstrittenen Fraktion" (Wehner 2019, S. 8) . Ob Dietmar Bartsch, der bisher oft im Schatten seiner Co-Vorsitzenden stand, die Lücke in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung alleine schließen kann, ist unwahrscheinlich. Angesichts der innerparteilichen Kontroversen und des dadurch entstandenen Eindruckes, Die Linke würde sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigen, kann es kaum verwundern, dass die Partei den ‚Sonntagsfragen' zufolge nicht von der eklatante Schwäche der SPD als der bisher größten Partei im Mitte-Links-Lager profitieren konnte. Seit der Bundestagswahl 2017 oszillierten die Umfragewerte zwischen sieben und elf Prozent. Die Hochphase war jedoch nach einem Jahr vorbei; mittlerweile befindet sich Die Linke allenfalls auf dem Niveau ihres letzten Wahlergebnisses. Zwischenzeitlich sah es so aus, als könnte die Fünf-Prozent-Marke gefährlich nahe kommen (Abb. 3). Wie weit die Linkssozialisten in den Bereich um die Sperrklausel kommen, wurde bei der Europawahl im Mai 2019 deutlich: Damals kämpfte Die Linke (2019, S. 6) -dem ersten Satz ihres Wahlprogrammes zufolge -"für ein soziales Europa, für eine andere Europäische Union, in der alle gut arbeiten und leben können." Mit Vorschlägen für ein Verbot von Rüstungsexporten, höhere Löhne, "eine linke Energiepolitik in Europa" (ebd., S. 33), eine "Mobilität mit weniger Verkehr" (ebd., S. 34) und einen "Kontinent der Solidarität statt [einer; H. 16.000 an AfD entschied, sodass Die Linke nach zehn Jahren wieder auf die Oppositionsbänke wechseln musste. Wirkte sich in Brandenburg und Sachsen das angesichts der ‚Sonntagsfragen' zu erwartende ‚Kopf-an-Kopf-Rennen' zwischen der Partei des Ministerpräsidenten und der AfD negativ auf das Wahlergebnis der Linke aus, ist für Thüringen genau das Gegenteil zu beobachten. Der dortige Landesverband konnte "dank eines präsidial-bürgerlichen und bürgernahen Ramelow, der die Koalition aus Linken, SPD und Grünen fünf Jahre lang sicher durch alle Fährnisse der Landespolitik gelotst hat" (Deckers 2019, S. 1), seinen Stimmenanteil im Vergleich zu 2014 vergrößern und wurde mit 31,0 % erstmals stärkste politische Kraft in einem Bundesland. Allerdings verlor die Koalition ihre parlamentarische Mehrheit; neben einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung könnte Die Linke allenfalls in einem Bündnis mit der AfD oder der CDU regieren. Angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse im Erfurter Landtag bleibt den Christdemokraten gegenwärtig "im Grunde keine andere Wahl, als mehr oder weniger offiziell" (Oppelland 2019) die rot-rot-grüne Koalition, deren Ministerpräsident Ramelow im Februar 2020 überraschend dem FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich unterlag und vier Wochen später doch wieder zum Regierungschef gewählt wurde, zu tolerieren. Vor diesem Hintergrund wird sich zeigen, ob es zu "eine[r] weitere[n] Öffnung der CDU für die weithin sozialdemokratisch auftretenden Linkspartei in Ostdeutschland" (Holzhauser 2019, S. 148) kommt. Mit Blick auf die ‚Rote-Socken'-Kampagne, die der damalige CDU-Generalsekretär Peter Hintze 1994 aus Anlass der von der PDS tolerierten rot-grünen Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt entwickelte (vgl. Träger 2011, S. 363 ff.), ist es eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die CDU eine Regierung unter Führung der Linken tolerieren muss. Zum Abschluss des Beitrages werden die vier in der Einleitung herausgearbeiteten Leitfragen aufgegriffen: • Die Linke ist inzwischen nicht mehr die "erste Adresse der Protestwähler" (Lang 2018, S. 5), denn sie gehört nach mehreren Regierungsbeteiligungen auf Landesebene und kontinuierlicher Zugehörigkeit zum Bundestag mittlerweile zu den etablierten Parteien. Infolgedessen verliert sie große Teile ihrer früheren Wählerschaft an die AfD, die trotz ihrer Verortung am anderen Ende des politischen Spektrums eine ernstzunehmende Konkurrenz für Die Linke ist. • Durch das neue Konkurrenzverhältnis entstand ein innerparteilicher Konflikt über die Ausrichtung in der Asyl-und Integrationspolitik, in dem vor allem Sahra Wagenknecht eine zentrale Rolle spielte. Ausweislich der Wahlergebnisse lässt sich konstatieren, dass Die Linke mit ihrem programmatischen Angebot kaum überzeugen kann. In den gegenwärtig besonders virulenten Politikfeldern -der Zuwanderung und Migration einerseits sowie bei Umweltund Klimaschutz andererseits -haben die Linkssozialistinnen und Linkssozialisten kaum eine Chance. Anders als AfD und Bündnis 90/Die Grünen profitieren sie nicht von der eklatanten Schwäche der Regierungsparteien, sondern sind selbst mit niedrigen Umfragewerte und schlechten Wahlergebnissen konfrontiert. Die Partei trabt also ähnlich wie vor einem Jahrzehnt "neben oder hinter den Debatten her" (Neugebauer 2011, S. 167 In ihrer gegenwärtigen Verfassung muss Die Linke, so kurios das klingen mag, hoffen, dass die Große Koalition möglichst bis zum turnusgemäßen Ende der Legislaturperiode des Bundestages hält. Vorgezogene Neuwahlen würden die Partei in einer ungünstigen Situation treffen, denn sie leidet als zweitkleinste von sechs Parlamentsfraktionen unter einem "Aufmerksamkeitsdefizit" (Lang 2018, S. 56) , muss den Rückzug von Sahra Wagenknecht aus der ersten Reihe kompensieren und sich programmatisch erkennbarer profilieren. Hinzukommt, dass die SPD im Dezember 2019 mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zwei im linken Teil der Sozialdemokratie zu verortende Politiker zu ihren neuen Vorsitzenden wählte und damit in der Linken zumindest kurzzeitig eine Debatte über eine "Fusion mit der SPD" (Decker 2019) auslöste. Inwieweit die SPD auf der elektoralen Ebene den Linkssozialisten wieder gefährlich werden könnte, wird sich zeigen. Die politischen Akteure der Linken stehen vor einer wahren Herkulesaufgabe, über der das Damoklesschwert einer Bundestagswahl, die -zumindest vor der Covid-19-Pandemie -zwischenzeitlich auch vor dem turnusgemäßen Termin erwartet wurde, schwebt. Souverän geht anders Zeit für den Neustart Frisch geschlüpft. Der Spiegel Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 14 Wer aufsteht, muss auch vorwärts gehen Hinschauen, offen bleiben. Frankfurter Allgemeine Zeitung Schlachtfest ohne Schlachteplatte. Frankfurter Allgemeine Zeitung Heft 3: Endgültige Ergebnisse nach Wahlkreisen Heft 3: Endgültige Ergebnisse nach kreisfreien Städten und Landkreisen Heft 3: Endgültige Ergebnisse nach kreisfreien Städten und Landkreisen Grüne reagieren reserviert auf SPD-Avancen. Leipziger Volkszeitung Nach dem Wahldesaster: Die Linke in Sachsen kämpft ums Überleben. Leipziger Volkszeitung Oktober 2018: Fortsetzung der schwarz-grünen Wunschehe mit starken Grünen und schwacher CDU Wagenknecht in der Bredouille. Leipziger Volkszeitung, 2. Decker, M. (10. Dezember Oktober 2019). Ramelow. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Die Linke Sozial. Gerecht. Frieden. Für alle -Die Zukunft, für die wir kämpfen! Wahlprogramm der Partei DIE LINKE zur Bundestagswahl DIE LINKE -Partei in Bewegung. Beschluss der 1. Tagung des 6. Parteitages der Partei DIE LINKE vom 8. bis 10. Juni 2018 in Leipzig Wahlprogramm der Partei DIE LINKE zur Europawahl Führende Linkspolitiker grenzen sich von Wagenknecht ab Was zusammengehört. Der Spiegel Zwitschern für Stimmen. Der Einsatz von Twitter im Bundestagswahlkampf 2017 Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 24 Europawahl. Eine Analyse der Wahl vom 26. Mai 2019 (=Berichte der Forschungsgruppe Wahlen e. V., Mannheim; Nr. 175). Mannheim: Forschungsgruppe Wahlen e Aus der Balance Die Bundestagswahl 2017: GroKo IV -ohne Alternative für Deutschland Erosion der Abgrenzung? Das Verhältnis der CDU zur Linkspartei in historischer Perspektive Wandelnder Widerspruch. Der Spiegel Die Bundestagswahl 2017 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik DIE LINKE -eine gescheiterte Partei? München: Olzog Eine weitere linke Partei spaltet das fortschrittliche Lager Zukunft, wir kommen! (Rede auf dem Leipziger Parteitag Empirische Befunde der Deutschen Parteimitgliederstudien Die schleswig-holsteinische Landtagswahl vom 7. Mai 2017: Niederlage der "Küstenkoalition" und erstmals Zäsur des regionalen Parteienwettbewerbs und Fortsetzung der Großen Koalition Das nationalbolschewistische Kalkül. Frankfurter Allgemeine Zeitung Abschied vom Osten? Die Linke nach der Bundestagswahl Eine Genugtuung für die Linke. Frankfurter Allgemeine Zeitung Vernunftheirat" führt zur ersten Großen Koalition nach 50 Jahren. Zeitschrift für Parlamentsfragen Quo vadis? Wie die LINKE versucht, sich als Partei und für sich eine Position im Parteiensystem zu finden Nach der Bundestagswahl Die PDS in Not Die Partei Die Linke. Nach der Gründung in des Kaisers neuen Kleidern? Den Zenit überschritten: Die Linkspartei nach der Bundestagswahl Die brandenburgische Landtagswahl vom 14 Parteimitgliedschaften im Jahre 2015. Zeitschrift für Parlamentsfragen Die Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 18 Parteimitgliedschaften im Jahre Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems Parteimitgliedschaften im Jahre Startschuss zum Experiment einer rot-rot-grünen Koalition unter linker Führung Thüringen vor der Landtagswahl vom 27 DIE LINKE: Die Macht der Strömungen Wie entscheiden Parteien? Prozesse innerparteilicher Willensbildung in Deutschland Die Linke. Willensbildung in einer ideologisch zerstrittenen Partei Ein neuer Koalitionstyp: Voraussetzungen für rot-rote bzw. rot-rot-grüne Koalitionen unter Führung der Linken auf Landesebene Die bayerische Landtagswahl vom 14 Durch das Nadelöhr der Demokratie. Die Kandidatenaufstellung der Partei DIE LINKE zur Bundestagswahl Die Linke. Von der Regionalpartei Ost zur Partei des sozialen Souterrains Von linker Moral und neoliberalen Interessen Auf diesem Dampfer steuert die Linke in den Untergang Die ostdeutschen Landesverbände in den Bundesparteien. Personelle, inhaltlich-programmatische und finanzielle Beziehungen Ein Vierteljahrhundert Wahlen in Ost und West (1990 bis 2014): regionale Unterschiede und Gemeinsamkeiten Die Bundestagwahl 2017 in Ostdeutschland: ein Alarmsignal für die Volksparteien Neue innerparteiliche Konflikte in der LINKEN und Wagenknechts Bewegung aufstehen Merkel verantwortet schlimmsten Rechtsruck nach 1945 Wir wollen soziale Gerechtigkeit, wir wollen Frieden (Parteitagsrede) Dieses Land verändern (Rede auf dem Leipziger Bundesparteitag Ich wünsche mir eine linke Volkspartei Nach Wagenknecht-Rede eskaliert Linken-Streit über Asyl Linke Blitzkarriere. Frankfurter Allgemeine Zeitung Wundern über Sahra. Der Spiegel Bestätigung der CDU-geführten Großen Koalition Die Kämpfe verbinden Eine Torte schließt die Reihen. Frankfurter Allgemeine Zeitung