key: cord-0045602-rk0jg9pi authors: Schlebusch, Stephan title: Corona im Knast: Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Soziale Arbeit im Justizvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen date: 2020-06-18 journal: Sozial Extra DOI: 10.1007/s12054-020-00292-5 sha: ea5fff79f57f002a55990f9a2bbcea276c9d5888 doc_id: 45602 cord_uid: rk0jg9pi Die Corona-Pandemie hat gravierende Auswirkungen auf das System Justizvollzug, die Soziale Arbeit und das Übergangsmanagement. Kriseninterventionen statt Behandlungsangebote sind angesagt. Die Pandemie zeigt die Schwachstellen im gesellschaftlichen System radikal auf. Betroffen sind sowohl Klient_innen als auch Mitarbeiter_innen. D ie spezifische Herausforderung liegt darin, in einer totalen Institution, in der -zum Teil gefährliche -Menschen nicht freiwillig untergebracht sind, unter stark einschränkenden Bedingungen, die Balance zwischen den Betreuungsbedürfnissen der Inhaftierten, der langfristigen Sicherung des Personaleinsatzes, den bestehenden Sicherheitserfordernissen und Anforderungen des Infektionsschutzes herzustellen. Die für die Inhaftierten einschränkenden Maßnahmen haben -je länger sie andauern -unmittelbaren Einfluss auf das Klima in den Justizvollzugsanstalten. Die Sorge, dass eine brisante Entwicklung eintreten könnte, ist bei allen Beteiligten trotz guter Vorbereitung vorhanden. Als dieser Beitrag geschrieben wurde, waren zwei Inhaftierte im nordrhein-westfälischen Justizvollzug bekanntermaßen an COVID-19 erkrankt. Zum Glück im offenen Vollzug, in dem die Belegungszahlen niedriger und die Handlungsoptionen größer sind. Die Infektionsgefahr kommt von außen: von Bediensteten, von externen Mitarbeiter_innen, von Lieferant_innen, Be-sucher_innen und Neuinhaftierten, wobei die Zahl der Untersuchungsgefangenen kaum steuerbar ist. Das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen ist bemüht, durch zahlreiche Erlasse 1 Rahmenvorgaben zu setzen. Bei Ermessensspielräumen obliegt die Umsetzung der Erlasse aufgrund ihrer Organisationshoheit den Leitungen der Justizvollzugsanstalten (JVA Was hat all dies mit Sozialer Arbeit im Justizvollzug zu tun? Soziale Arbeit im Justizvollzug ist ihrem Selbstverständnis nach Teil des Justizvollzugs 5 . In ihrem systemischen Ansatz zielt sie darauf ab, den Vollzug weiterzuentwickeln, strafende Aspekte in den Hintergrund zu drängen, die Institution zu humanisieren und fördernde Angebote auszugestalten. Als Teil des Systems unterliegt sie den institutionellen Rahmenbedingungen und istwie alle anderen Berufsgruppen auch -zur interdisziplinären Zusammenarbeit verpflichtet. Dies gilt zurzeit in besonderem Maße: im Knast sitzen alle in einem Boot. Vor dem Hintergrund der Corona-Krise bedeutet dies, dass vom Sozialdienst in dieser Zeit auch betreuerische Aufgaben vorübergehend übernommen werden, die nicht zu dem in den Richtlinien abgebildeten, umfassenden Aufgabenprofil 6 gehören. Die Richtlinien beschreiben als "Kernaufgaben des Sozialdienstes (die) fachliche Diagnostik und Beratung, Behandlung, Vernetzung und Vermittlung sozialer Hilfen" 7 Der Sozialdienst versteht sich als Teil der Straffälligenhilfe 9 . Zu diesem Verständnis gehört es, Inhaftierten die Angebote der freien und öffentlichen-rechtlichen Träger zu erschließen und im Rahmen des Übergangsmanagements strukturbezogene Netzwerke zur sozialen und be- ruflichen Integration von Inhaftierten/Haftentlassenen aufzubauen 10 . Das Übergangsmanagement, das als gemeinsame Aufgabe aller intern und extern Beteiligten zu verstehen ist, bietet den Rahmen für die einzelfallbezogene Entlassungsvorbereitung. Die Integration Haftentlassener ist angewiesen auf externe Netzwerke, wie z. B. mit der Suchtkranken-, Wohnungslosen-und Schuldnerhilfe, mit Arbeitsmarktakteuren sowie mit öffentlich-rechtlichen Trägern. Dies trifft insbesondere auf Flächenstaaten wie Nordrhein-Westfalen zu, in denen Gefangene häufig heimatfern inhaftiert sind. Es gilt umso mehr, als dass aufgrund der Haftunterbrechung durch die Sozialdienste binnen kürzester Zeit Hunderte von Fällen zu prüfen und Gefangene insbesondere in Hinblick auf die Sicherung der Unterkunft, der medizinischen Versorgung und des Lebensunterhalts auf eine zeitnahe Entlassung vorzubereiten waren. Mit Beginn der Corona-Krise brachen die Netzwerke zunächst sukzessive und später auf breiter Ebene weg. In dieser Phase war jede_r Sozialarbeiter_in gefordert, aufwendig in jedem Einzelfall Lösungen zu finden. Lösungen, die gestern noch möglich waren, heute aber verworfen sind und morgen ganz anders aussehen konnten. Es gab keine Linie, keine Verlässlichkeit, keine Orientierung. Jede Behörde, jeder Träger verfuhr anders. Viele Mitarbeiter_innen fühlten sich allein gelassen. Um einen gewissen Überblick zu erhalten, begannen dann einige Sozialdienste systematisch Abfragen bei den externen Kooperationspartnern zu starten, regelmäßig aktualisierte Übersichten zu den sich stetig ändernden Leistungen zu erstellen, die dann landesweit zur Verfügung gestellt wurden. Den zu Entlassenen wurden selbstgestrickte Anträge auf Sozialleistungen mitgegeben und tagesaktuelle Informationsblätter ausgehändigt. Obwohl die Bundesagentur für Arbeit Mitte März das Antragverfahren vereinfacht und flexibilisiert hatte, stellte sich als größtes Problem die Sicherstellung des Lebensunterhalts heraus. Jobcenter und Arbeitsagenturen blieben für den Publikumsverkehr geschlossen. Telefonleitungen waren aufgrund der Nachfragen zum Kurzarbeitergeld überlastet. Die Möglichkeit, Leistungen online zu beantragen, haben die meisten Haftentlassenen nicht. Telefonisch wurde den Mitarbeiter_innen der Sozialdienste zugesichert, dass alle Anträge -auch postalisch gestellte -zeitnah bearbeitet würden. Die Auskünfte darüber, wie der Leistungsanspruch im Fall einer Haftunterbrechung sich gestaltet, variierten zudem von Behörde zu Behörde. Die eine sah keinen Leistungsan-spruch auf ALG II gegeben, die andere erkannte ihn an, da Vermittlungsmöglichkeiten aufgrund der Nachfrage nach Saisonarbeitern bestehen. Als das Gros der Gefangenen entlassen war, erreichte die Anstalten die Information, dass die Bundesanstalt für Arbeit keinen Leistungsanspruch bei Haftunterbrechung begründet sah, da die Entlassenen den Strafrest noch verbüßen müssen und deshalb dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen würden. Ein Anspruch nach dem SGB XII solle geltend gemacht werden. Auf einem leergefegten Wohnungsmarkt für zur Entlassung anstehende Gefangene eine Unterkunft zu finden, das ist schon zu "normalen" Zeiten fast unmöglich -und erst Recht in Zeiten von Corona. Vereinzelt verzichten Gefangene auf Entlassungen, um ihre betagten Eltern nicht zu gefährden. Anfragen bei Wohneinrichtungen ergaben eine sehr unterschiedliche Praxis. Der eine Teil der Einrichtungen nimmt unvermindert auf, obwohl das notwendige vorherige persönliche Kennenlernen im Rahmen von vollzugsöffnenden Maßnahmen derzeit nicht möglich ist. Die Aufnahmemodalitäten werden telefonisch abgesprochen. Der andere Teil hat einen Aufnahmestopp ausgesprochen, um Bewoh-ner_innen und Personal vor Infektionen zu schützen. Gelegentlich besteht die Option für eine Einzelfallentscheidung. Vereinzelt konnten zuvor vereinbarte Aufnahmetermine nicht gehalten werden. Bei den kommunalen Notunterkünften ergibt sich ein ähnliches Bild: manche sind voll belegt, einige weisen noch zu, andere haben die Platzkapazitäten aufgrund der in Mehrbettzimmern bestehenden Ansteckungsgefahren verringert. Die Beratungsstellen für Haftentlassene und ihre Familien begleiten keine Klienten mehr; sie verrichten z. T. Notdienste und bieten stundenweise telefonische Beratungen an. In der aktuellen Notsituation stellen viele Träger die Anschrift ihrer Einrichtung als postalische Adresse zur Verfügung, um den Hilfesuchenden die Möglichkeit zu schaffen, postalisch für Behörden, z. B. für die Beantragung von Arbeitslosengeld, erreichbar zu sein. Viele Gefangene sind nach der Entlassung auf medizinische Hilfen angewiesen. Dies trifft besonders auf die hohe Zahl inhaftierter Drogenabhängiger zu, die unter Suchtfolgekrankheiten leiden, deren Immunsystem angegriffen ist und die deshalb zu den Risikogruppen zählen. Nahtlos -also unmittelbar am Entlassungstageine Krankenversicherung sicherzustellen, das ist von jeher praktisch unmöglich. Erst muss der Antrag auf ALG gestellt und bewilligt sein, damit erfolgt die Anmeldung bei der Krankenkasse. Vor der Antragstellung muss der Entlassene sich ausweisen können und über eine Entlassungsadresse bzw. Anmeldung verfügen. Insofern ist es Nach den Erfahrungen der vollzuglichen Sozialdienste waren alle Mitarbeiter_innen bei Behörden und Trägern hilfsbereit und gewillt, konstruktive und auch kreative Lösungen zu finden. Die widersprüchlichen Informationen, die von der Zeit überholten Auskünfte waren der Unsicherheit und der Hilflosigkeit in einer bisher nicht dagewesenen Situation geschuldet. Alle Beteiligten -intern wie extern -haben nach bestem Wissen und Gewis-sen ihre Entscheidungen getroffen. Kritik an Einzelentscheidungen ist aufgrund der Ausnahmesituation nicht angebracht. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, was wir aus Corona für die Zeit nach Corona und für weitere Krisen lernen können. Corona zeigt uns Grenzen auf, Grenzen im Einzelfall, aber auch Grenzen im System. Es darf nicht sein, dass der Hilfe bedürftige Gefangene in ungeklärte Situationen entlassen werden und keine Unterstützung erfahren. Er darf aber auch nicht sein, dass einzelne Mitarbeiter_ innen -gleichgültig, ob im Vollzug, in der Bewährungshilfe oder bei freien Trägern tätig -aufwendig und frustrierend in jedem Einzelfall neu klären muss, wie jemand einen Personalausweise bekommt, ob und wo jemand einen Leistungsanspruch hat oder ob und wann welche Krankenversicherung jemanden aufnimmt. Diese beispielhafte Aufzählung zeigt die gravierenden Mängel im System, die die Corona-Pandemie deutlich fokussiert hat. Alle Bereiche treffen für sich isoliert Entscheidungen. Die Integration Haftentlassener ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe 11 . Diese wird auf dem Rücken der Betroffenen und Mitarbeiter_innen ausgetragen, statt sich mit dem ernsthaften Willen an einen Tisch zu setzen und Lösungen zu wollen, indem formales Zuständigkeitsdenken überwunden wird und rechtliche Bestimmungen modifiziert und übergreifende Kooperationsvereinbarungen geschlossen werden. In der Krise liegt die Chance. Wenn Corona dazu führen sollte, endlich die allseits bekannten übergreifenden Probleme in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung zu lösen, wäre der Krise etwas Positives abzugewinnen. s ∑ Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen. Infektionsgefährdung von Gefangenen und Bediensteten durch das neuartige Coronavirus Vollstreckungsaufschub für Ersatzfreiheitsstrafe gemäß § 455a StPO aus Anlass der Corona-Pandemie Vollstreckungsaufschub bei kurzen Freiheitsstrafen sowie Unterbrechung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen und kurzen Freiheitsstrafen aus Gründen der Vollzugsorganisation gem. §455a StPO aus Anlass der Corona-Pandemie Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen. Infektionsgefährdung von Gefangenen und Bediensteten durch das neuartige Coronavirus Überlegungen zum Selbstverständnis Sozialer Arbeit im Justizvollzug Richtlinien für die Fachdienste bei den Justizvollzugseinrich-Sozial Extra tungen des Landes Nordrhein-Westfalen-AV d Richtlinien für die Fachdienste bei den Justizvollzugseinrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen-AV d. JM vom 18. Dezember 2015 (2400 -IV. 54) -JMBl. NRW S. 3 in der Fassung vom 06 Erwachsenenstrafvollzug Entlassung vorbereiten und Eingliederung gestalten Übergangsmanagement als gesamtgesellschaftliche Aufgabe