key: cord-0043575-t1bpj7nc authors: Falkenstörfer, Sophia title: Zur aktuellen Relevanz der Fürsorge für Menschen mit komplexen Behinderungen date: 2020-05-19 journal: Zur Relevanz der Fürsorge in Geschichte und Gegenwart DOI: 10.1007/978-3-658-30482-9_3 sha: b72b13ccc2fabddf356d2abcc2ed98632a7712d7 doc_id: 43575 cord_uid: t1bpj7nc Die Geschichte der Fürsorge hat aufgezeigt, dass Fürsorgesysteme mit dem jeweiligen soziokulturellen Kontext nicht nur verwoben sind, sondern aus diesem heraus entstehen. Dementsprechend spiegeln sie Aspekte der jeweiligen Gesellschaft wider bzw. treten durch sie spezifische Menschen- und Gesellschaftsbilder, ethische und moralische Vorstellungen sowie damit verbundene Ziele, Werte und Normen in Erscheinung. Diese Erkenntnis führt zu der Annahme, dass sich die aktuelle Relevanz (oder Nicht-Relevanz) der Fürsorge für Menschen mit komplexen Behinderungen durch eine Analyse des gegenwärtigen Sozialsystems zeigen müsste. 1990er-Jahre im Rahmen der Hartz-Reformen mit der Agenda 2010 eine neue Wende in den Systemen der sozialen Sicherung, wenn auch zunächst nur auf dem Arbeitsmarkt, ein. Diese sollte im Verlaufe der nächsten Jahre den Anfang vom Ende des Wohlfahrtsstaats der Nachkriegszeit und den Beginn des aktivierenden Sozialstaates markieren. Auf der gesellschaftspolitischen Ebene gilt es also die Verschiebung vom Konzept des Wohlfahrtsstaates hin zu einem Konzept des aktivierenden Sozialstaates zu beleuchten, welche gleichzeitige auf die Aktivierung bzw. hegemonialer Aktualisierung eines bestimmten Menschenbildes hinweist. 212 Vor diesem Hintergrund soll schließlich in einem nächsten Schritt (3.2) der Personenkreis der Menschen mit (komplexen) Behinderungen in den Fokus gerückt werden. Eine These, die an dieser Stelle vertreten wird, lautet, dass die Verschiebung an diesem zentralen Knotenpunkt des staatlichen Hilfesystems (Arbeit) auch Auswirkungen auf weitere Subsysteme hat (3.2.1), was exemplarisch am Beispiel des neuen Bundesteilhabegesetzes (BTHG) für Menschen mit Behinderung (3.2.2) gezeigt werden soll. Somit wird auch danach zu fragen sein, inwieweit das BTHG der Logik des aktivierenden Sozialstaates folgt und welche Auswirkungen das für Menschen mit komplexen Behinderungen hat. Und eine letzte These: Wenn es stimmt, dass sich das BTHG an der Logik bzw. dem Diskurs des aktivierenden Sozialstaats orientiert, folgt es zumindest in Teilen auch dessen Menschenbild (3.2.3). Dieses, so die These, ist für den Personenkreis, mit dem sich vorliegende Arbeit beschäftigt, zumindest be-denk-lich. 212 Den hier aufgezeigten Wandel vom Wohlfahrtsstaat hin zum aktivierenden Sozialstaat gilt es an dieser Stelle -lediglich skizzenhaft und mit Blick auf die Soziale Arbeit -in den politischen wie historischen Kontext einzubetten. Entstanden ist der aktivierende Sozialstaat in den 1990er-Jahren als moderne Ausrichtung von Sozialpolitik, die sich an dem politisch-ökonomischen Wandel dieser Zeit sowie an der Idealisierung des (aktiven) Individuums orientiert. Positive Stimmen sehen in diesem Wandel die Chance, "den eigentlichen Anspruch der Sozialen Arbeit verwirklichen zu können: ‚Subjekte in ihren je eigenen Biographien zu unterstützen, Menschen zu selbstverantwortlichem Handeln zu befähigen, ihnen zu helfen, in den jeweiligen Verhältnissen authentisch zu sein' (Lutz 2008, S. 10)." (Lutz 2011, S. 173) So beleuchtet, stellt es für die Soziale Arbeit ein modernes und positives Unterfangen dar, sich der neuen Sozialpolitik zu verschreiben -zumal diese, wie die historische Analyse zeigen konnte, stets mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, und zwar politisch, ökonomisch, rechtlich usw., eng verwoben, vor allem aber von diesen abhängig ist, da die Soziale Arbeit von den politischen Instanzen finanziert wird. So treten [a] Angesichts dieser Analyse stellt sich nun die Frage, wie sich bestimmte diskursive Formationen, die sich im Kontext des aktivierenden Sozialstaates zeigen, auch im aktuellen Diskurs der Behindertenhilfe wiederfinden und diesen prägen. Diesbezüglich wird, wie eingangs beschrieben, davon ausgegangen, dass die Verschiebung des staatlichen Hilfesystems auch Auswirkungen auf weitere Subsysteme (hier das Behindertenhilfesystem) hat. Dieser Frage wird also in einem ersten Schritt (3.2.1) nachgegangen, indem die neueren Entwicklungen in der Behindertenhilfe auf Grundlage wichtiger Gesetzestexte, Stellungnahmen usw. skizziert werden. In einem zweiten Schritt (3.2.2) gelangt das neue BTHG, vor der Folie des aktivierenden Sozialstaates, in die nähere Betrachtung. Hier zeigen sich deutliche Parallelelen zwischen den Beschreibungen und Vorstellungen, aber auch relevante Unterschiede. So spielt bspw. im Diskurs um das BTHG -wie es zunächst scheintdie freiwillige Selbstbestimmung eine herausragende Rolle, während im aktivierenden Sozialstaat durchaus repressive Sanktionsmechanismen vorgesehen sind, wenn dem (flexiblen) Normalisierungsideal nicht entsprochen wird bzw. werden kann. Anschließend (3.2.3) wird u. a. in gouvernementaler Perspektive die mögliche Situation von Menschen mit schwerer und geistiger Behinderung im aktivierenden Sozialstaat sowie im BTHG betrachtet. Hier sollen zunächst einmal Fragen und ‚Gefährdungspotenziale' aufgezeigt werden, die sich aus einer zu starken Orientierung an bestimmten (repressiven) Ausformungen im Denken des aktivierenden Sozialstaates ergeben könnten. Exemplarisch wird dann abschließend (3.2.4) ein Widerspruch beim Teilhabebegriff sowohl im BTHG selber als auch im Vergleich mit den Programmen des aktivierenden Sozialstaates aufgezeigt. Dabei handelt es sich um einen Widerspruch, der in der praktischen Umsetzung zu einem Widerstreit führen könnte, wenn man denn das radikal emanzipatorische Ideal, welches der ursprünglichen Intention von Teilhabe zugrunde liegt, nicht ein Stück weit aufgeben möchte. In folgendem Kapitel zeigt sich interessanterweise, dass der Fürsorgebegriff, der in den letzten Jahrzehnten aus oben herausgearbeiteten Gründen (siehe Kapitel 2) nicht mehr Verwendung fand, wieder aktualisiert und nun derart interpretiert wird, wie in einer der einleitenden Thesen dieser Arbeit angenommen wurde: Die Als Synonym für das alte, auf Versorgung ausgelegte, Wohlfahrtssystem, wird -unter Bezugnahme auf die aus den Fürsorgesystemen zunächst der Weimarer Republik und später der Nachkriegszeit entstandenen Gesetze -der Begriff Fürsorgesystem, nun (nach beinahe 70 Jahren) wieder in die öffentliche Debatte aufgenommen. Dabei steht dieses durchgängig für Veraltung, Fremdbestimmung, Bevormundung sowie Paternalismus. Demgegenüber wird das neue Teilhabesystem, auf der Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), als selbstbestimmt, emanzipiert und zeitgemäß tituliert. Fürsorge und Teilhabe werden demnach im Sinne konträrer, sich unvereinbar gegenüberstehende Pole verwendet. Dabei lässt sich in den analysierten Texten und Gesetzen weder eine genauere Beschreibung oder Theorie zu dieser Verwendung des Fürsorgebegriffs noch zum Begriff der Teilhabe finden. Somit lässt sich konstatieren, dass der Bedeutungsgehalt -zumindest der Fürsorge -bei diesem Diskurs nicht in Erscheinung tritt. Das ist irritierend und lässt die jeweiligen Zuschreibungen zunächst willkürlich erscheinen. Jedoch steht zu vermuten, dass die Begriffe durchaus bewusst indifferent gehalten werden, weil sie sich nur so dafür eignen, ausschließlich positiv bzw. ausschließlich negativ instrumentalisiert zu werden. Die Forderungen nach mehr Teilhabe, bei gleichzeitiger Abkehr von der Fürsorge, lesen sich bei Rohrmann wie folgt: Mit der Geschichte der Fürsorge ließ sich u. a. aufzeigen, dass dem Wandel von Hilfesystemen immer auch gesellschaftliche (z.B. politische, theoretische, ökonomische usw.) Veränderungen zugrunde liegen, die unmittelbare Auswirkungen auf die entsprechenden Zielgruppen haben. Um für die hier fokussierte Zielgruppe der Menschen mit komplexen Behinderungen die aktuelle Lage beschreiben zu können, erfolgte zunächst eine ganz allgemeine Betrachtung der Veränderungen des Sozialsystems der letzten Jahrzehnte, um sodann spezifischer auf die Behindertenhilfe sowie explizit auf das BTHG einzugehen. In der Folge soll nun das Augenmerk auf den Personenkreis der Menschen mit komplexer Behinderung gelegt werden. Menschen mit Behinderung sind in den letzten Jahren insbesondere durch die UN-Behindertenrechtskonvention und die daraus entstandene Inklusionsbewegen sowie durch weitere gesellschaftspolitische Weichenstellungen -zumindest rechtlich -zu voll anerkannten Mitgliedern der Gesellschaft geworden. Nun gilt es allerdings, trotz der positiven Gleichberechtigungs-und Normalisierungstendenzen, vor dem Hintergrund der historischen Erkenntnisse weiterhin in Bezug auf diesen angewiesenen Personenkreis wachsam zu bleiben. Insofern erscheint es sinnvoll, die Auswirkungen der Veränderungen, die z. T. in den letzten Kapiteln aufgezeigt werden konnten, hinsichtlich der Menschen mit komplexen Behinderungen zu beleuchten. Bereits an dieser Stelle kann festgehalten werden, dass die hier fokussierte Zielgruppe durch das "neue, auf breiten gesellschaftlichen Konsens aufbauende Grundprinzip des aktivierenden Staates: Fordern, Fordern und bei Zielverfehlung fallen lassen" (Dahme et al. 2003, S. 10) in prekäre Situationen geraten kann. Denn es geht lediglich bedingt um Ursachensuche sowie individuelle Lösungen, Unterstützungen in bestimmten Lebenslagen und die Ermöglichung einer -wie auch immer -subjektiv geeigneten Normalität, sondern zunehmend um die, z. B. durch Trainingsprogramme zu erwirkende, Veränderung spezifischer Verhaltensweisen (vgl. Lutz 2011, S. 180) . Wenn für jene, die sich nicht zur Aktivierung eignen, "die (unschuldig) nicht fähig oder (schuldig) nicht willens sind, die zugewiesene Eigenverantwortung zu übernehmen", nur "Versorgung, Ausschluss und/oder Strafe" (ebd.) vorgesehen sind, was bedeutet das dann für die Personengruppe der Menschen mit komplexen Behinderungen? Die Lage stellt sich -unter der eingenommenen Perspektive -wie folgt dar: Der aktivierende Sozialstaat verfolgt zum einen das Ziel, die (Arbeitsmarkt-) Integration der Individuen voranzutreiben, um dadurch zum anderen eine Kostenminimierung der Sozialsysteme zu erreichen. ‚Aktivierungspolitik' soll demnach die Krise sozialstaatlicher Systeme lösen, indem die angenommene Passivität der Subjekte bearbeitet wird. Darauf gründen die in den einzelnen Ländern umgesetzten aktivierungspolitischen Instrumente und Maßnahmen, die mit dem Ziel angetreten sind, Subjekten aus der behaupteten Passivitätsfalle herauszuhelfen. (Globisch und Madlung 2017, S. 323) Ist so -eine möglicherweise nicht zu beantwortende Frage -die Entwicklung im BTHG ein erster Schritt, um anschließend auch Menschen mit Behinderung im Sinne des aktivierenden Sozialstaates in die Pflicht zu nehmen? Wie geht die Behindertenhilfe angesichts der verschriebenen Eigenverantwortlichkeit des Individuums mit diesem neuen Paradigma um? Was passiert mit den Menschen, die keine Teilhabefortschritte (Wacker 2016, S. 1093) nachweisen können? Denn: Erfolge oder Etappenziele markieren nun Lebenslagendaten aller Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die (verschiedene) Chancen sichtbar machen, z. B. beim Zugang zu Raum, Besitz, Bildung, Mobilität oder Gesundheit. Statt amtlicher Behinderungsanerkennung (Schwerbehindertenausweis) werden also Beeinträchtigungen betrachtet und die damit verbundenen Funktions-, Aktivitäts-und Teilhabeeinschränkungen sowie personale und umgebungsbezogene Faktoren, die zugleich in Wechselwirkungen zueinander stehen. Die Ära, in der Behindertenberichte lediglich Maßnahmen und Investitionen aufzählen konnten, ohne deren Wirkungen nach gesetzten Maßgaben (Zielen) auf den Prüfstand zu stellen, ist vorbei. […] . Die BRK fungiert als Leitsystem, weil sie die Perspektive der Behinderung in der Gesellschaft verbunden mit den allgemeinen Menschenrechtsansprüchen hervorhebt und zugleich auf angemessene Regelungen und Strukturen verpflichtet. (Wacker 2016 (Wacker , S. 1095 Deutlich ließ sich herausarbeiten, dass inaktive Kunden in der Lesart des aktivierenden Sozialstaates pathologisiert werden: Kern der Responsibilisierung ist die Eigenverantwortung des Individuums. Und damit eben jene Kategorie, deren Fehlen ein Kernmerkmal der Pathologisierung ist. Auf den ersten Blick schließen sich die beiden Professionalisierungsmuster daher gegenseitig aus. Auf den zweiten Blick lässt sich die Responsibilisierung jedoch als Modernisierung der Pathologisierung fassen -als Pathologisierung des Mangels an Eigenverantwortung und Aktivität. Kurz: Als Pathologisierung von In-Aktivität. (Lutz 2011, S. 179) Demzufolge ist es eine moralische und ökonomische Pflicht, aktiv zu sein, und diese Pflicht wird notfalls (mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln) vonseiten der Sozialen Arbeit erzwungen. Begleitet wird dieser Paradigmenwechsel von einer flächendeckenden Umgestaltung des Sozialstaates und seiner Institutionen zu neoliberalen Dienstleistungsagenturen, deren Auftrag sich nicht mehr an BürgerInnen, sondern an "KundInnen" richtet. Die Sozialleistungen basieren dabei auf "bedarfsgeprüften", aber knapp bemessenen Leistungen, die einerseits an unbedingte Arbeitswilligkeit und dafür notwendige "Bewährungsbemühungen" geknüpft sind und andererseits konditionalisiert sind, womit damit faktisch (qua Sanktionen, die auf Mittelkürzungen basieren) das Grundrecht auf ein Existenzminimum zur Disposition gestellt ist. Typisch für den gouvernementalen Doppelimperativ des "Forderns und Förderns" steht die ambivalente Gleichzeitigkeit eines institutionellen Gegenübers, das sich als anleitender Partner und Berater vorstellt und Empowerment der "KundInnen" verspricht, dabei aber andererseits mit Mitteln wie Anweisung und Sanktionierung ein asymmetrisches Machtverhältnis produziert. Dieser Umbau hin zu neoliberalen Regierungsformen mit dem Ziel der Herstellung eigenverantwortlicher, marktgängiger Subjekte steht im Kontext einer vieldiskutierten, umfassenden Transformation des Regierens und Regulierens, die als "Gouvernementalität" diskutiert wird (vgl. Wenngleich an dieser Stelle nicht näher auf Foucaults Begriff der Gouvernementalität 227 im vorliegenden Kontext eingegangen werden kann, ist die neue, höchst ambivalente, wenn nicht gar gefährdende -im Spannungsfeld von Aktivierung und Unterstützung angesiedelte -Rolle der Sozialen Arbeit hervorzuheben: Erstens sollen Assistenten, Pädagogen usw. Klienten zur aktiven Teilhabe befähigen. Zweitens sind diese allerdings neuerdings aufgefordert, die Wirksamkeit -bzw. Erfolge und Misserfolge -der durchgeführten (positiven wie negativen) Teilhabe-Maßnahmen durch Messinstrumentarien 228 nachzuweisen. Dieses Vermessen wirkt sich, drittens, direkt auf die Soziale Arbeit aus, da die erfolgreichen bzw. gescheiterten Aktivierungen unmittelbare Rückschlüsse auf die Sozial-, Integration-, Behindertenarbeit (usw.) gestatten. Die Soziale Arbeit muss sich demnach daran messen lassen, inwieweit es ihr gelingt, die neue Zielvorgabe Verantwortlich-Machen (vgl. Lutz 2011, S. 178) bzw. Eigenaktivieren des Gegenübers umzusetzen. Der (hilfebedürftige, arbeitslose, behinderte, alte, kranke) Andere wird damit zum personifizierten Arbeitsergebnis, zum Produkt der Sozialen Arbeit, an dem sich (zukünftig) messen lässt, ob gute Arbeit geleistet wurde. An dieser Stelle muss ein Bruch in der logischen Argumentation der Debatte dann konstatiert werden, wenn die dargestellte Form der Teilhabeforderungen nun mit der Programmatik des aktivierenden Sozialstaates (wie es bspw. derzeit im BTHG geschieht) zusammengedacht wird. Denn die in den letzten Kapiteln dargestellten Aktivierungsbemühungen des Individuums in der Programmatik des aktivierenden Sozialstaates können nach dieser Lesart von Benachteiligung (disability) nicht viel bzw. nichts ausrichten. Konkret: Wenn Menschen mit Behinderung aufgrund äußerer Barrieren (also aufgrund der Behinderer) benachteiligt werden, kann das Individuum -egal ob aktiv oder passiv -kaum Einfluss auf seine Teilhabe nehmen. Völlig anders wird jedoch der Teilhabebegriff für die Programme des aktivierenden Sozialstaates ausgedeutet. Dort ist das Subjekt, wenn es nicht teilhat, den kann, dass unter Selbstbestimmung auch Eigenaktivierung sowie die Förderung der vollen und wirksamen Teilhabe zu einer Forderung geraten können, wie das folgende Schaubild vermuten lässt: Verstärkt wird diese Befürchtung, wenn § 144 SGB XII Gesamtplan ( § 121 SGB IX-neu) näher unter die Lupe genommen wird. Dort hält der Gesetzgeber hinsichtlich des im Bundesteilhabegesetz festgeschriebenen Gesamtplans fest: (1) Der Träger der Sozialhilfe stellt unverzüglich nach der Feststellung der Leistungen einen Gesamtplan insbesondere zur Durchführung der einzelnen Leistungen oder einer Einzelleistung auf. (2) Der Gesamtplan dient der Steuerung, Wirkungskontrolle und Dokumentation des Teilhabeprozesses. Er geht der Leistungsabsprache nach § 12 vor. Er bedarf der Schriftform und soll regelmäßig, spätestens nach zwei Jahren, überprüft und fortgeschrieben werden. […] In diesem Feld, so die vorliegende Einschätzung, werden sich die Disziplin sowie die Behindertenhilfe zeitnah positionieren müssen, möchten diese den benannten Personenkreis nicht einer Politik preisgeben, in der dieser -qua Menschenbild und Zielsetzung -lediglich verlieren kann 235 , denn, so wird zunehmend gefordert: "Der Einsatz öffentlicher Ressourcen muss sich durch Wirkung legitimieren, und die Leistungserbringung muss sich [zukünftig] der Bewertung stellen." (Bartelheimer und Henke 2018, S. 12) Es steht also zu befürchten, dass das emanzipatorische Ideal, welches bspw. der UN-BRK oder dem BTHG zugrunde liegt bzw. liegen sollte, in der Ausformulierung und vor allem in der konkreten Umsetzung in den Programmen bzw. Programmierungen des Sozialsystems bzw. der modernen Teilhabesysteme zumindest in Teilen eine andere Wirkung entfaltet, als intendiert worden ist. Oder, um es mit Gröschke zu sagen: [I] Die Auswirkungen des modernen Teilhabesystems auf den Personenkreis der Menschen mit komplexen Behinderung über die skizzierten Ansätze hinaus zu erörtern, würde nicht nur den Rahmen der Arbeit sprengen, es existieren auch (auf-grund der Aktualität des neuen BTHG) noch keine dokumentierten Erfahrungswerte. Die Gefahren, die sich jedoch -aufgrund der sich abzeichnenden aktivierenden Programmatik -ergeben können, fasst Brachmann wie folgt zusammen: Sozialpolitik unterteilt unter der Maxime "Fordern und Fördern" Hilfebedürftige ein in "zu aktivierende" und "nicht zu aktivierende" und wirkt damit verstärkt selektiv. Menschen mit geistiger Behinderung gehören -von wenigen Ausnahmen abgesehen -zur Gruppe der "nicht zu aktivierenden" Personen, die durch den Sozialstaat nur noch versorgt werden und die damit einem zusätzlichen Exklusionsrisiko ausgesetzt sind, denn in dem Maße, wie dadurch die zur Verfügung stehenden eigenen ökonomischen Ressourcen zurückgehen, wächst die Institutionenabhängigkeit dieses Personenkreises, für den eine Reintegration in die Gesellschaft sozialpolitisch -nach der Logik des investiven Sozialstaates -zumindest de facto nicht mehr ernsthaft gewollt zu sein scheint. (Brachmann 2011, S. 137 f.) (vgl. auch Schäper 2006) Sowohl die Heil-, Behinderten-und Sonderpädagogik als auch die Behindertenhilfe haben diesbezüglich u. a. die Aufgabe, sich mit den aufgezeigten Ambivalenzen und Gefahren für die Lebensführung und -bewältigung von Menschen mit komplexer Behinderung auseinanderzusetzen. Die Historie hat deutlich gezeigt, dass das Sozialsystem nicht nur Abbild gesellschaftlicher Veränderungen ist, sondern dynamisch auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert bzw. auf diese einwirkt und diese mitbestimmt 236 . Dementsprechend hat dieses auch große Einflussund Steuerungsmöglichkeiten. Brachmann formuliert bezüglich der aktuellen Entwicklungen: Auf diesem "Weg in eine andere ‚Moderne'" (Rauschenbach 1999, S. 267 f.) muss auch an die Behindertenhilfe sowie die Heil-, Behinderten-, und Sonderpädagogik appelliert werden, Verantwortung zu übernehmen. Und das bedeutet: zu analysieren, Visionen zu entwickeln, Theorien und Konzepte zu entwerfen und für ihre jeweilige Bezugsgruppe -notfalls gegen den Strom -einzustehen und nicht zuletzt auch ausreichend ökonomische Ressourcen (beispielsweise über Gesetzgebungen) zu sichern, die für eine ‚nicht zu aktivierende' Bezugsgruppe weiterhin 236 Verheerend ist dies in der NS-Zeit zum Ausdruck gekommen. zudem abhängig von Vorstellungen, Möglichkeiten, Fähigkeiten und Lebensumständen ist. Weil Autonomie, Selbstbestimmung, Selbstoptimierung sowie Teilhabe als verpflichtende Gesellschaftsziele nicht grundsätzlich mit einem guten Leben gleichzusetzen sind und weil es Menschen gibt, die ein Leben in fürsorglicher Angewiesenheit leben (müssen bzw. auch dürfen). Menschen mit komplexen Behinderungen sind aufgrund ihrer Lebensumstände auf Hilfe, Zuwendung und Unterstützung angewiesen. Diese Hilfe wird hier als Für-Sorge verstanden. Die Notwendigkeit des Für in der Für-Sorge (d.h. der aktiv-helfenden und unterstützenden wie wohlwollenden Hin-wendung durch Andere) betrifft diesen Personenkreis besonders, weil es ihm zumeist nicht möglich ist, Hilfe entsprechend seines (individuellen Bedarfes) einzufordern. Das bedeutet, Menschen mit komplexen Behinderungen wird z. T. ungefragt (fremdbestimmt) geholfen, weil bei ihnen ein Bedarf ausgemacht wird, der eine tätige Bemühung seitens Anderer hervorruft. Dementsprechend werden sie ver-und umsorgt. Da dies eine Tatsache darstellt, ist es essenziell, in Konzepten der Disziplin wie der konkreten Behindertenhilfe die Fürsorge als Idee und (existierende) Tätigkeit explizit mitzudenken. Gleichzeitig haben die Problemgeschichte der historischen Fürsorgesysteme sowie die ideengeschichtlichen Betrachtungen verstehen lassen, weshalb die Fürsorge als veraltet, paternalistisch und bevormundend wahrgenommen wird. Sie haben Szenarien aufgezeigt, in denen der Missbrauch von Fürsorgebeziehungen und auch -systemen gewaltvoll und lebensgefährlich war, und insbesondere mit Blick in die Heim-und Fürsorgeerziehung steht die erschreckende Gewissheit im Raume, dass gewaltvolle Missbrauchserfahrungen unter dem Deckmantel der Fürsorge bis in die Jetztzeit geschehen: Beispielhaft sei an dieser Stelle auf die Missbrauchsskandale an Internatsschulen 239 , Behindertenheime 240 und kirchlichen Einrichtungen 241 verwiesen. Umso dringlicher benötigt es einen Diskurs um die Fürsorge und umso wichtiger sind Theorien wie Konzepte einer reflektierten Fürsorge. Die Aufgabe der Theorien müsste es sein, die jeweiligen Zielsetzungen der Fürsorge ethisch fundiert zu begründen und die Aufgabe der Konzepte wäre es dann, die entsprechenden Fürsorgetheorien in die Praxis übertragbar zu machen. Jedem Menschen zu einem subjektiv bestmöglichen guten Leben zu verhelfen, sollte dabei stets das übergeordnete Ziel darstellen. passiv und muss für eben die Teilhabe, aktiviert werden, d. h. selbst Verantwortung für seine Teilhabe übernehmen. Die staatlichen Hilfen sind insofern lediglich eine Unterstützung zur Aktivierung des Subjekts Bartelheimer und Henke 2018, S. 2) orientiert für gelungen oder nicht gelungen bewertet. Das bedeutet, der Leistungsträger reagiert zukünftig mit einem Programm auf Probleme oder Bedarfe [Herv. i. O.], die er wahrnimmt, und […] legt in einem Konzept fest, an wen sich das Programm richtet, wer darauf Anspruch hat und welche Ziele um ihre Selbstbestimmung und ihr volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben und in der Gesellschaft zu fördern", so gelesen wer-232 "Mit der UN BRK werden Behinderung und Menschen mit Behinderung nicht mehr unter einem medizinischen oder sozialrechtlichen, sondern unter einem menschenrechtlichen Blickwinkel betrachtet. Dementsprechend gelten Menschen mit Behinderungen nicht länger als "defizitär Konstituierende Begriffe der Konvention sind Würde, Teilhabe, Selbstbestimmung, Inklusion und Chancengleichheit. […] Die UN BRK schränkt also das Ermessen der entscheidenden Behörden im Sinne der Selbstbestimmung von Menschen mit besonderen Bedarfen ein. Das kann und sollte so in der Formulierung von Widersprüchen oder Klageanträgen aufgenommen werden 2 GG) muss an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass der positiv rechtlich formulierte Grundsatz ein Benachteiligungsverbot, aber kein Fördergebot darstellt, "sodass der Normtext der Verfassung allenfalls geringe Teilhabemöglichkeiten aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Verfassungsnorm i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip statuiert Denn diese Annahmen, so ließ sich aufzeigen, besagen, "dass in allen Subjekten im Kern ein gleichermaßen von außen zu aktivierendes Potential angelegt sei und der Erfolg der Aktivierung maßgeblich von der Eigenaktivität abhängen würde (vgl Es sollte deutlich geworden sein, dass die derzeit dominierenden, implizit oder explizit vorzufindenden Grundannahmen über den Menschen, die vor allem die selbstbestimmten, vernunftbasierten, aktiven und partizipativen Aspekte hervorheben, (nicht nur, aber insbesondere) für den Personenkreis der Menschen mit komplexen Behinderungen problematisch werden könnten. Denn (den Menschen betreffende) Attribute wie Verletzlichkeit, Unvollkommenheit und Abhängigkeit (als menschliche Kategorie) werden nicht beachtet. In Anbetracht dessen könnte sich die Frage stellen, ob die Fürsorge (hier exemplarisch für Menschen mit komplexen Behinderungen) überhaupt noch thematisiert werden kann oder darf. Diese Frage ist dann berechtigt, wenn Menschen nur noch als selbstbestimmte und autonome Subjekte, deren Ziel darüber hinaus im besten Fall die Selbstoptimierung sein sollte, anerkannt werden. Fürsorgliche Zuwendung wird in diesem Lichte betrachtet als diskriminierend, bevormundend, paternalistisch usw. wahrgenommen, weil diese Handlungen den Menschen als nicht-selbstständig und nicht-autonom erscheinen lassen. Entsprechend wird die Fürsorge (als Unterstützung(smaßnahme) und als fürsorgliche Hinwendung) gegenwärtig als übergriffig und paternalistische ausgelegt. Denn, wenn der Mensch als verletzliches und leibliches Wesen in diesem Weltbild nicht existieren, kann/darf auch die Antwort auf Verletzlichkeit und Leiblichkeit -die Fürsorge -nicht existent sein. Allerdings ist der Mensch ein verletzliches und leibliches Wesen. Weil jeder Mensch im Laufe seines Leben Hilfe in Form von fürsorglicher und unterstützender Zuwendung bedarf 238 . Weil die Menschheit ohne Sorge um den Anderen nicht wird existieren können